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E-Book

Liebe in der Moderne

Körperlichkeit, Sexualität und Ehe

AutorIsolde Karle
VerlagGütersloher Verlagshaus
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783641149918
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Nach der Kontroverse um das Familienpapier der EKD
Was bedeutet die Körperlichkeit des Menschen für die Theologie und für die kirchliche Praxis? Wie können ethische Orientierungen aussehen angesichts des radikal gewandelten Verhältnisses zur Sexualität in der Gesellschaft? Und schließlich: Kann und - wenn ja - wie kann Kirche heute noch zur Ehe ermutigen? Isolde Karle bringt theologische Denktraditionen mit soziologischen, kulturtheoretischen und philosophischen Konzepten ins Gespräch. Ein moderner praktisch-theologischer Entwurf reformatorischer Beziehungs- und Ehetheologie.


  • Sexualität zwischen Verdrängung und Überbewertung
  • Die Ehe als wandelbare Institution


Isolde Karle, geb. 1963, Dr. theol., ist seit 2001 Professorin für Praktische Theologie, insbesondere Homiletik, Liturgik sowie Poimenik, an der Ruhr-Universität Bochum. Sie ist in den letzten Jahren vor allem durch Publikationen zum Thema Kirchenreform hervorgetreten wie z.B. die viel diskutierte Monographie 'Kirche im Reformstress' (2010/2011). Mit der neuen Publikation schließt Karle wieder an ihre Forschungen zu Theologie und Gender an ('Da ist nicht mehr Mann noch Frau', 2006) und führt diese fort.

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Leseprobe

II. Sexualität


1. Kirche und Sexualität – eine ambivalente Geschichte


a) Die Individualisierung und Pluralisierung von Sexualität als Herausforderung für Theologie und Kirche


In den letzten Jahrzehnten zeichnen sich im Hinblick auf Ehe, Familie, Sexualität erhebliche Veränderungsprozesse ab.204 Sexualität, Liebe und Ehe bilden keinen festen Verweisungszusammenhang mehr. »Innerhalb weniger Jahrzehnte ist das Sozialklima von erheblicher Intoleranz gegen Abweichungen von Ehemoral und Familiensittlichkeit in weitgehende Permissivität umgeschlagen.«205 Das liegt im Wesentlichen an der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft, an der Individualisierung und Pluralisierung von Lebensläufen, aber auch an ganz konkreten wissenschaftlichen Errungenschaften wie der Entwicklung hormoneller Kontrazeption und der erfolgreichen Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten, die eine Differenzierung von Sexualität und Ehe ohne allzu riskante Folgewirkungen erlauben. Jugendsexualität und voreheliche Sexualität sind alltäglich geworden und fordern Theologie und Kirche dazu heraus, über eine Neubewertung der Sexualität nachzudenken. Doch vor dem Hintergrund welcher Kriterien kann dieses Nachdenken erfolgen? Wie setzt sich die Kirche einerseits kritisch mit ihrer traditionellen Skepsis in Sachen Sexualität auseinander, ohne andererseits angesichts des gesellschaftlichen anything goes verlegen und ratlos zu schweigen?

Die Medien verkünden zuweilen vollmundig das Ende der Monogamie, polyamore Beziehungsformen werden gefeiert und das Beziehungsideal der Treue, in dem Sexualität auf Liebe bezogen wird, grundsätzlich als Illusion, als Lüge und als archaische Vorstellung, die Partnerschaften tendenziell zerstöre, betrachtet.206 Wie geht die Kirche damit um? Was sind unter diesen Bedingungen sinnvolle Kriterien und lebensdienliche Maßstäbe, an denen man sich orientieren kann? Diese Fragen stellen sich in der seelsorgerlichen Praxis, im Kontext der kirchlichen Trauung, aber auch in Bildungsprozessen in Schule und Konfirmandenunterricht unmittelbar.

Die Diskussion über Vorstellungen einer gelingenden Sexualität ist nicht zuletzt auch deshalb erforderlich, weil die Kirche die Pluralisierung von Lebens- und Beziehungsformen nicht nur außerhalb ihrer selbst in der gesellschaftlichen Umwelt vorfindet, sondern sich durch ihre Repräsentanten, die Pfarrerinnen und Pfarrer, unmittelbar selbst damit konfrontiert sieht. So haben Pfarrerinnen und Pfarrer nicht nur mit hoch individualisierten Biographien in den Gemeinden und Institutionen, in denen sie arbeiten, zu tun, sondern treten ihrerseits zunehmend individualisiert auf: Als schwule Pfarrer und lesbische Pfarrerinnen, als homosexuelle Paare, die gemeinsam Kinder erziehen (wollen), als Pfarrerinnen und Pfarrer, die in Scheidung leben, als Pfarrerinnen und Pfarrer, die in nicht-ehelicher Lebensgemeinschaft zusammenleben (wollen), als verheiratete »dual career couples«, die nicht die bürgerlich-neuzeitliche Geschlechtermetaphysik, die der Protestantismus lange protegiert hat, repräsentieren. Mit all diesen neuen Lebensformen geraten sie tendenziell in Konflikt mit immer noch geltenden professionsethischen Normen und Erwartungen. Für nicht wenige Pfarrerinnen und Pfarrer ist dies belastend. Die Frage nach der sexuellen Praxis und Lebensform betrifft insofern nicht nur säkularisierte Individuen, sondern auch die Kirche, ihre Repräsentanten und Mitglieder selbst. Darüber hinaus ist das Thema Sexualität ökumenisch hoch brisant und entwickelt global betrachtet mancherorts geradezu kirchenspaltende Qualität.207

Die Kirche und die Theologie als Reflexion kirchenleitender Praxis im weitesten Sinne208 stehen vor der Herausforderung, im Anschluss an die Reformation zu einem positiven Verständnis von Sexualität, zur Freude am leiblichen Leben zu ermutigen und zugleich einen »sexuellen Kapitalismus« (Eva Illouz), der vor allem zu Lasten von Frauen geht, zu hinterfragen. Dieser Herausforderung geht das folgende Kapitel nach, das unter Beachtung der christlichen Wirkungsgeschichte das Gebiet der Sexualität empirisch, sozialwissenschaftlich, historisch und gendertheoretisch zu sondieren versucht, um sodann in Auseinandersetzung mit biblischen und dogmatischen Traditionen praktisch-theologische und sozialethische Konsequenzen zu ziehen.

b) Augustin


Für das ambivalente Verhältnis der Kirche zur Sexualität kann der Kirchenvater Augustin als Exempel gelten. Seine Beiträge haben eine enorme Wirkungsgeschichte gezeitigt und bestimmen die Lehre der katholischen Dogmatik bis heute. Augustins Haltung zu Körperlichkeit und Sexualität ist nicht in sich kohärent, sie vereint neuplatonische mit antiplatonischen Vorstellungen.209 So folgt Augustin dem Leib-Seele-Dualismus nicht konsequent. Er betont einerseits, dass die Seele immateriell ist und nicht im Körper lokalisiert werden könne und stellt andererseits ganz unplatonisch fest, dass das Körperliche genauso wie die Seele Gottes gute Schöpfung sei. Es ist die Inkarnation Christi, die Tatsache, dass Jesus selbst ein Mensch war und wie ein Mensch geschlafen, gegessen, gefühlt und gelitten hat, die ihn zu einer Ablehnung neuplatonischer Leibabwertung führt. Die Inkarnationslehre hat durch die Geschichte der Kirche hindurch bei aller Skepsis gegenüber den Begierden und der Vergänglichkeit des Leibes im Christentum immer wieder dafür gesorgt, dass der Körper und die Sexualität nie nur negativ gewertet wurden.210 Immer wieder gab es gerade von christlicher Seite aus wichtige Impulse für eine Hochschätzung der Leiblichkeit.211

Allerdings hat Augustins Erbsündenlehre eine sexualfeindliche Wirkungsgeschichte nach sich gezogen. Für Augustin hat der Sündenfall Adams im Paradies »die menschliche Verfassung insgesamt depotenziert«.212 Adams Ungehorsam hat sich auf die gesamte Schöpfung verheerend ausgewirkt. Die Fehlorientierungen, die daraus resultieren, lassen sich auf allen Ebenen beobachten, für Augustin nicht zuletzt auf der Ebene sexueller Begierden, dem »Unterreich der Sinnenlust« (»tartaro libidinis«) oder auch den »Fesseln des Genusses« (»vinculum fruendi«), die den Menschen jede Kontrolle über sich selbst verlieren lassen.213 Augustin reflektiert dabei ausführlich seine eigenen sexuellen Ausschweifungen als junger Mann. »Die Unterwerfung unter diese ›Knechtschaft‹ gegenüber dem eigenen Trieb, das ›Kleben am Leim dieser Lust‹, begründet Augustin schonungslos mit der ›Gewohnheit, die unersättliche Begierde sättigen zu müssen‹«.214

Die sexuellen Begierden behindern nach Augustin die Suche nach einem guten Leben. Mit der Abkehr von seinem sündigen Leben und seiner Konversion entschließt sich Augustin deshalb zugleich zu einem zölibatären Leben, das ihm allerdings auch nach der Bekehrung nicht mühelos gelingt.215 Der Zölibat Augustins ist insofern als Eingeständnis menschlicher Schwäche zu lesen: Der Mensch nach dem Fall ist »dem Trieb und der Lust so unterworfen, dass er beim Sexualakt die Kontrolle über sich selbst verliert«.216 Deshalb sollte Sexualität am besten gleich ganz vermieden werden. Der Zölibat versucht dem begierdelosen Zustand vor dem Fall wieder näher zu kommen. Es erstaunt vor diesem Hintergrund nicht, dass die Erbsünde nach Augustin durch den mit Lust (bzw. Begierde) verbundenen Zeugungsvorgang übertragen wird. Zwar sind für Augustin die Sexualorgane und der Sexualtrieb nicht grundsätzlich sündig, aber insofern sie den Menschen seines rationalen Willens und der Vernunft berauben, liegen Sünde und Sexualität sehr nahe beieinander.

Die Positionen von Augustin, aber auch von anderen Kirchenvätern,217 haben eine weitreichende Wirkungsgeschichte nach sich gezogen, die sich bis heute im kanonischen Recht der römisch-katholischen Kirche niederschlägt. Das betrifft die Höherwertigkeit zölibatären Lebens vor dem ehelich-sinnlichen Leben, das Verbot vorehelicher Sexualität und der Empfängnisverhütung und generell die Ablehnung einer sexuellen Praxis, die nur auf Lustgewinn und nicht auf Fortpflanzung im Rahmen der Ehe bezogen ist. Doch gibt es zugleich Hinweise in den Predigten Augustins und in seinen autobiographischen Betrachtungen, die seine strikte Sexualethik relativieren. So predigte er in späteren Jahren gegen die Auswüchse der Askesebewegung, die er mit Sorge beobachtete. Und er erlaubte – anders als Hieronymus – den Geschlechtsverkehr in der Ehe. Er schreibt der Jungfräulichkeit zwar einen höheren Wert als der Ehe zu, aber die Ehe ist immerhin der zweitbeste Lebensentwurf. Er verteidigt in seinen Predigten darüber hinaus das sexuelle Recht beider Ehepartner, warnt vor übertriebener Keuschheit und macht deutlich, dass der Beischlaf zwar eigentlich nur die Funktion habe, Kinder zu zeugen, dass aber »Sex ohne diesen Zweck eine verzeihliche Sünde«218 sei.

Auch im Hinblick auf seine eigene Biographie redet Augustin offen darüber, dass er über viele Jahre hinweg eine Liebesbeziehung mit einer Konkubine pflegte. Er hat sich auf diese Beziehung, aus der sein Sohn Adeodatus hervorging, auch nach seiner Bekehrung noch mit sehr innigen Worten bezogen. Der Schmerz der Trennung, die von seiner Mutter forciert wurde, ist dabei unüberhörbar. So schreibt er in den Confessiones:»[ ...] die Wunde, die mir durch die Trennung von der früheren Geliebten beigebracht worden war, wollte nicht heilen; ihre...

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