Melanie und die Schauspieler
Eva Mattes war Melanie von meinem Film »O.K.« bekannt. Eva ging damals noch zur Schule, es war ihr erster Film. Melanie spielte nicht mit. Aber sie verfolgte die Entwicklung des Films von den ersten Skizzen über die nie aufgeführte Bühnenfassung bis hin zum fertigen Film. Melanie schätzte den Stoff, sein politisches Engagement. »O.K.«, in nur 13 Tagen als wahre low-budget-Produktion im Grünwalder Forst gedreht, schildert die Verwilderung amerikanischer »good boys« im vietnamesischen Kriegsdreck. Wo die öffentliche Moral abwesend ist, verschwindet auch die individuelle. Eva Mattes spielt das vietnamesische Mädchen Mao, das von den vier GI’s aus Langeweile und Frust vergewaltigt, schließlich aus Angst vor Konsequenzen erschossen wird.
In Hamburg wurden Eva Mattes und Melanie Horeschovsky Partner. In »Dybuk«, einer jüdischen, mystisch verschlossenen Bühnenlegende. Melanie war von Evas Radikalität, ihrer konsequenten Haltung und ihrer darstellerischen Ehrlichkeit hingerissen. Melanie, die erfahrene Kollegin, empfand sich als Evas Schülerin. Melanie, selbst genügend radikal, um Kollegen und Regisseure nicht selten arg zu verschrecken, konnte seit ihrer Erziehung im Internat »St. Ursula« etwas nie ganz abschütteln, was sie selbst »die Ursulinerin« nannte: ein anerzogener Gehorsam. Sie anerkannte die Hierarchie des Theaters, ordnete sich fast immer unter, bemühte sich, das Verlangte zu realisieren. Sie schonte sich nie. »Das geht nicht«, habe ich in neun Filmen, die wir zusammen gemacht haben, nie gehört. Wenn ihr etwas als Schauspielerin schwerfiel, suchte sie nicht nach Auswegen, sondern übte es so lange, bis sie es schaffte. Unter diesem Ehrgeiz litt sie. Er führte sie nicht selten in die Irre.
Jetzt ging es darum, die »Schauspielerin« zu besetzen, so etwas wie ein jüngeres Ebenbild von Melanie, an das sie ihre Erfahrung weitergibt. »Die Schauspielerin« ist in einer Arbeits- und Lebenskrise. In ihrer Not wendet sie sich an ihre ehemalige Lehrerin. Diese ist zunächst ratlos, bis sie bemerkt, daß die junge Frau an einem Punkt ist, an dem sie selbst auch nicht weitergekommen ist. Die Lehrerin wird zur Lernenden. Es gab einige Wunschbesetzungen für die Rolle der Schauspielerin, aber die Verhandlungen scheiterten. Plötzlich schrie Melanie im Auto so laut auf, daß wir alle erschraken. »Natürlich die Eva!« Eva Mattes war zwar mitten in den Proben zu »Medea«, aber die Produktion sollte erst drei Monate später herauskommen. Sie nahm die Rolle der Schauspielerin an.
Kammerspiele München. Fünfziger Jahre. Gespielt wird »Der steinerne Engel«. In der Seitenkulisse stehen allabendlich Paul Bildt und Melanie Horeschovsky und schauen einem etwa zehnjährigen Buben bei seinen Szenen zu. Das Kind heißt Michael Ande. Julien Duvivier hat ihn für seinen Film »Marianne de ma jeunesse« entdeckt. Jetzt steht er auf der Kammerspielbühne, und zwei großartige alte Schauspieler schauen ihm bewundernd zu. »Wir haben was von ihm lernen wollen«, sagt Melanie. »Er hatte ein besonderes Ohr für den Text, das war keine dieser herzigen Kinderdressuren.« Als Michael Ande das hört, verzieht er ironisch das Gesicht. Für ihn sind das alte Geschichten. Er will lieber etwas über diesen »Martin« erfahren, den er spielen soll. Melanie hat durchblicken lassen, daß es diese Person tatsächlich gibt. Wie ist dieser Mann, der die alte Frau um ein Vermögen bringt? »Na, sympathisch«, sagt Melanie sofort. Michael Ande hat sich die Rolle eher brutal vorgestellt, eiskalt, ein Mann, der über Leichen geht. »Keineswegs«, sagt Melanie lachend, »er ist nur bequem.«
Michael Ande und Friedrich von Thun, der den anderen Neffen spielt, haben Schwierigkeiten mit unserer Arbeitsmethode. Den in der Drehvorlage ausgedruckten Text sollen sie vermeiden. Er gilt nur, um den groben Verlauf des Gesprächs zu skizzieren, nicht das Gespräch selbst. Der im Rohdrehbuch vorgegebene Text charakterisiert die Person, die Situation, in der sie sich befindet, und den Standpunkt, den sie einnimmt. Durch die Festlegung der Dialoge wäre aber auch die Dialektik einer Szene abgeschlossen. Und gerade das wollen wir vermeiden.
Also klären wir vor dem Drehen nur das Wissen und die Zielsetzung, die die jeweilige Person in die szenische Auseinandersetzung mitbringt. Auf diese Weise bleibt in der Arbeit ein Rest Unbestimmbarkeit, der dem Augenblick entspringt. »Ein Rest Angst«, sagt Friedrich von Thun.
Seine Rolle, der Neffe »Zimmermann«, ist sozusagen die andere Hälfte des von uns auf zwei Figuren verteilten »Martin«. Modell für die Rolle ist ein uns bekannter Polizeiobermeister aus dem Münchner Umfeld, der seine 87jährige Tante durch die Drohung, er werde sie entmündigen lassen, gefügig machen wollte. Friedrich fand es falsch, den Zimmermann einen Polizisten sein zu lassen. »Das doppelt sich zu einer äußerlichen Pointe«, sagte er. Es war mir aber wichtig zu zeigen, daß für die alte Frau diejenigen, die jetzt »dran« sind, die das Sagen haben, sozusagen das Recht darstellen, das sie selbst verloren hat. Auch der wirkliche »Zimmermann« hatte seiner Tante gegenüber seine Ordnungshüterfunktion geltend gemacht. Friedrich von Thun war sich lange Zeit nicht sicher, ob er diesen Neffen überhaupt spielen könne. Die Rolle bereitete ihm schon beim Lesen körperliches Unbehagen. Er bat mich, ihm wenigstens die Szene zu erlassen, in der er die alte Frau festhält, während ihr Klavier von Möbelpackern abgebaut und weggeschafft wird. Aber Melanie schätzte die Szene. Hier wird symbolisch Gewalt sichtbar, wie sie alten Menschen in unserer Gesellschaft tagtäglich angetan wird. Denn das Furchtbare an der Szene ist eigentlich nicht wie, sondern daß die alte Frau um ihren Besitz gebracht wird. Daß sie ihre Wohnung verlassen soll und ins Altersheim abgedrängt wird.
Friedrich von Thun. Er war in »O.K.« einer der jungen GI’s. Melanie hatte mit ihm 1975 eine kleine Szene in meinem Film »Mitgift«, aber eigentlich kennengelernt haben sie sich 1978 bei meinem Fernsehfilm »1982: Gutenbach« – einem Versuch, die Entfremdung einer kleinen Stadt zu vermitteln, die total »verdatet« wird. Melanie spielte darin eine alte Haushälterin, die sich in der übertechnisierten Welt nicht mehr zurechtfindet. Das war »ihre« Rolle. Melanie fürchtete sich vor technischen Geräten, konnte damit nicht umgehen. Sie bewunderte jeden, der einen Fotoapparat bedienen konnte. Am meisten hatte sie ihren Vater bewundert, der Ingenieur bei Siemens war.
Dreharbeiten zu »Liebe Melanie«:
Melanie Horeschovsky, Michael Verhoeven, Friedrich von Thun
Senta Berger, mit der ich seit 1966 verheiratet bin, spielt in unserem Film die Ärztin, die sich nach erster routinierter Gleichgültigkeit für die alte Frau zu interessieren beginnt und versucht, an ihr die eigene versäumte Mutterbeziehung abzuarbeiten. Elemente davon reichen unvermeidlich aus der eigenen Realität herüber.
Melanie war ihr um Jahre früher begegnet als ich. Ende der fünfziger Jahre hatten sie eine gemeinsame Garderobe am Wiener Theater in der Josefstadt. Als ich sie Melanie Jahre später als meine neue Freundin vorstellte, fielen sich die beiden Frauen als alte Freundinnen um den Hals.
Wenn Melanie uns in ihrer Wiener Hochhauswohnung zu allen möglichen geistigen und nicht selten metaphysischen Abenteuern herausforderte, mußten wir vor allem immer viel essen. Melanie fand niemals Zeit, sich während dieser aufregenden Gespräche zu setzen, da sie immer etwas auf dem Herd stehen hatte. Sie lief zwischen Zimmer und Besenkammer, aus der sie eine Küche gemacht hatte, hin und her, sprach mit lauter Stimme über den Flur hinweg und kochte in dieser Kammer, in der es nicht einmal Wasser gab, die unvorstellbarsten Gerichte. Zum Kochen nahm Melanie die handgeschriebene Rezeptsammlung ihrer Großmutter zu Hilfe und vermutlich ein bißchen schwarze Magie. Viele ihrer wunderbaren Geschichten handeln vom Kochen, obwohl sie selbst eine Asketin war und nur wenig aß.
Einmal gab sie uns ein kleines Bändchen in die Hand, eine Tolstoi-Erzählung. Und während Senta den Tisch deckte und ich in dem schmalen Buch blätterte, rief sie uns aus der Küchenkammer zu, wie sie sich die Erzählung als Film vorstellte. Tolstois »Leinwandmesser« ist eine der schönsten Liebesgeschichten der Literatur. Es ist das große Märchen der bewegenden, den Tod überdauernden Liebe eines Pferdes zu seinem Menschenherrn, der nur sich selbst lieben kann. Melanie schilderte uns, während sie darauf achtete, daß wir nicht zu wenig aßen, ihre poetischen Filmbilder und setzte uns mit diesem Stoff total in Flammen.
In ihrem Häuschen in Niederösterreich entwickelten wir die ersten Szenen. Es war ganz klar, daß der Film in der Umgebung ihres Häuschens gedreht werden mußte. Sie führte uns an die Drehorte, die ihr vorschwebten.
In diesem Film sollten die Pferde wie Menschen sprechen, was künstlerisch ein Problem war, da wir jeden Disney-Effekt vermeiden wollten. 1965 machte ich aus unseren Materialien ein Drehbuch. Es war mein erstes komplettes Drehbuch. Senta und ich zogen es mit einer Kurbelmaschine ab. Ob es Melanies Vorstellungen entsprach, hat sie mir verschwiegen. Ich glaube es jedenfalls nicht. Verfilmt haben wir es nie.
Zwei Jahre später produzierte ich mit Senta unseren ersten Film »Paarungen« nach Strindbergs »Totentanz«. Mit Melanie hatte ich ausgemacht, daß sie auf jeden Fall mitmachen mußte, wenn Senta und ich einmal einen eigenen Film realisieren würden. Nun war es...