Juden unter dem Toleranzedikt
Zur Zeit der französischen Besetzung kam 1807 ein junger Jude nach Breslau, Chaijim Wolfsohn. 1791 im oberschlesischen Loslau (Wodzislaw) geboren, war er früh verwaist und bettelarm aufgewachsen. Daran wohl auch scheiterte sein ursprünglicher Wunsch, Rabbiner zu werden. So wandte Chaijim sich weltlicheren Zielen zu, dem Handel. Der Zeitpunkt war einfach günstig.
Einmal erleichterte sicher die französische Herrschaft dem Zureisenden den Zugang zur Stadt Breslau, in der wie in fast allen Städten des Reichsgebietes für die Zahl der jüdischen Familien ein strenges Limit galt. Doch der französische Konvent hatte als erste europäische Nation 1791, in Chaijims Geburtsjahr, die bürgerliche Gleichstellung der Juden beschlossen – eine Errungenschaft der Aufklärung und Revolution, die mit den Siegeszügen der französischen Armee auch den Niederlanden, Piemont, der Lombardei, Venetien und Rom aufgezwungen wurde. In den besetzten Gebieten des deutschen Reiches war zumindest eine zeitweise Lockerung der diskriminierenden Judenordnungen die Folge.
Breslau besaß da eine eigene Tradition. 1453 ließ der päpstliche Generalinquisitor Johannes von Capistrano alle Juden einkerkern und ihre Habe inventarisieren. Dann machte er ihnen mit Billigung des Bischofs und des Hofes von Wien den Prozeß. 14 »Angeklagten« wurde mit glühenden Zangen das Fleisch von den Knochen gerissen und in Pfannen geworfen, dann erfolgte »in der gewöhnlichen Art« Vierteilung und Aufhängung der Teile an Kreuzwegen. Vor der Alternative »Taufe oder Verbrennung« kapitulierten 20 Jünglinge vor der Macht des Christentums, 41 wanderten in den brennenden Holzstoß. Der Gemeinderabbiner Pinchas erhängte sich. Der Rest der Judenschaft wurde aus der Stadt vertrieben. 1455 erhielt die Stadt durch den 15jährigen König Ladislaw das »ius Judaeos non tolerandi« – das Recht, ihnen den Aufenthalt in der Stadt zu verbieten.
Weit über 200 Jahre gab es dann in Breslau keine Juden mehr; sogar der Besuch der Jahrmärkte war ihnen verboten. Zulassen mußte man ihren Besuch nur, wenn sie als Vertreter und Sachwalter polnischer Adliger oder böhmischer Häuser auftraten. Aber die Handelsstadt brauchte doch ihre Kapitalkraft und ihr Handelsgeschick, duldete sie in den Vorstädten, zog sie schließlich auf die Märkte. 1713 gewährte man ihnen – gegen Gebühren selbstredend – wieder die Ansiedlung innerhalb der Stadtmauern.
Der aufgeklärte Preußenkönig Friedrich II. schätzte die Juden keineswegs, aber er wußte um ihren Nutzen. 1746 dekretierte er darum für seine neugewonnene schlesische Provinzstadt, es sollten diejenigen Juden, die dem Handel förderlich seien, »von jeder Fessel frei sein«. Näheres regelte acht Jahre später die erste Judenordnung in Breslau. Sie bestellte eine Kommission zur Oberaufsicht und ein Judenamt, das die Einkünfte und den Zuzug der Juden überwachte. Zur Verwaltung ihrer Angelegenheiten durfte die jüdische Gemeinde auf je drei Jahre ihre Ältesten wählen, aber jede Familie höchstens ein Kind verheiraten. Darüber hinaus besaß sie keine bürgerlichen Rechte. Jedoch gestand man ihnen in Breslau 1760 großzügig einen Friedhof, ein Lazarett und ein Gemeindehaus zu.
Wieder ein Menschenalter später, 1790, wurde eine neue Judenordnung für Breslau entworfen und der Begriff des »Breslauer Schutzjuden« eingeführt. Ausgesuchte Juden von »untadelhafter Aufführung« erhielten einen Schutzbrief und durften in strikt bemessenen Grenzen Handel treiben, sogar ein zunftgemäßes Gewerbe ausüben, Dienstboten halten, einen Sohn verheiraten. Die anderen Söhne hatten mit dem 16. Lebensjahr Breslau zu verlassen. Damit die königliche Huld nicht mißverstanden werde, setzte Friedrich Wilhelm II. die Höchstzahl jüdischer Familien in Breslau auf 160 fest; das konnten dann 2000 Menschen sein. Die jüdische Gemeinde nutzte ihre Chance und eröffnete schon ein Jahr darauf ihre eigene »Wilhelmsschule«. Dazumalen war das Bildungsverlangen in Preußen und erst recht seiner schlesischen Provinz noch sehr gering.
In dieses aufstrebende Breslauer Judentum zog 1807 der junge Chaijim Wolfsohn ein. Er war kein »kleiner galizischer Jude«, kam aus Oberschlesien. Sein Vater Feitel Barun hatte ihn gewiß nicht zum »Chassid« bestimmt, zum Anhänger der Lehre des Rabbi Israel ben Elieser, die mystisch das Ziel der Herzensfrömmigkeit und Gottesoffenbarung, Gefühl und Innerlichkeit zum Kern mosaischen Glaubens machte. Feitel Barun war von Moses Mendelssohn, dem jüdischen Aufklärer, dem Freund Lessings, beeindruckt: Achtung und Würde des Juden in der »Welt« waren sein Streben. Sohn und Enkel folgten ihm auf Etappen, die ihrer Zeit entsprachen und ihren Möglichkeiten.
Der zum Handel neigende Chaijim traf 1807 in Breslau noch eine zweite günstige Konstellation, die das Vorankommen eines Menschen seiner zielstrebigen Bedachtsamkeit fördern mußte: Eine Konjunktur kündigte sich an.
Die strengen Regeln des Gewerbelebens in Breslau lockerten sich, die Abgrenzungen zwischen Kaufherren, Reichskrämern und Partkrämern (Partieren) waren so eng nicht mehr aufrechtzuerhalten, es gab Platz für neue Leute. Die Kontinentalsperre gegen England machte Schlesiens Hauptstadt zu einem Hauptumschlagsplatz für agrarische und Gebrauchsgüter, die im Westen verlangt und im Osten hergestellt wurden – von der Kartoffel bis zum Tuch. Und er geriet in eine Stadt, die voller Trümmer lag, deren Bautätigkeit durch die Schleifung und Umwandlung ihrer Befestigungsanlagen zusätzlich in Atem gehalten wurde. 3000 Menschen arbeiteten dort zeitweilig an der Umwandlung der Wälle in Promenaden, die zwei Jahrzehnte andauerte. Die ersten industriellen Ansätze hatten sich mit staatlicher Beihilfe in Breslau schon vor der Jahrhundertwende entwickelt. Vor dem Ohlauer Tor gab es eine Chintz- und Kattundruckerei, drei Seidenfabriken und eine Herstellung türkischen Garnes. Die Leinenweberei war in Schlesien seit alters her heimisch. Es lag nahe, daß sich Chaijim Wolfsohn dem prosperierenden Textilgewerbe zuwandte: Er wurde Seidenhändler.
Widerwillig hatte Friedrich Wilhelm III. nach dem Tilsiter Frieden den eigentlich konservativen Reformer Karl Freiherr vom und zum Stein zum Minister bestellt, der die Umgestaltung des absolutistischen Staates in Angriff nahm. Seine erste Großtat war das Edikt zur Bauernbefreiung im Oktober 1808, das Leibeigenschaft und Gutsuntertänigkeit aufhob und ihm den Haß der Junker eintrug. Stein selbst notierte ein Jahr später, »daß die besten Gesetze und namentlich die, welche dem ganzen Volk zustatten kommen sollen, nichts vermögen, wenn die Ausführung derselben in die Hände der Gutsherren gelegt ist, welche solche Gesetze, um ihren Interessen oder vermeintlichen Rechten nicht zu schaden, den Eingesessenen nicht einmal gehörig publizieren«.
Den zweiten Schritt bildete im November 1808 eine neue Preußische Städteordnung, die mit der Beseitigung staatlicher Bevormundung und Stärkung der Selbstverwaltung Gemeinsinn und politischen Anteil der Bürger heben sollte. Sie durften selbst ihre Stadtverordneten und diese den Magistrat wählen. Den Schutzjuden wurden städtische Bürgerrechte zugestanden. Es entstand damit die reichlich absurde Situation, daß es in Berlin oder Breslau jüdische Stadtverordnete gab, die aber nicht die preußischen Bürgerrechte besaßen. Breslau zählte damals 52000 Einwohner, von denen fünf Prozent Juden waren.
Stein stolperte über seine Napoleonfeindschaft. Eine unvorsichtige Korrespondenz an den Fürsten Wittgenstein – »das französische Joch abschütteln« – wurde Anlaß seines Sturzes. Derselbe Napoleon, der nach Tilsit in Verkennung des Reichsfreiherrn seine Bestellung verlangt hatte, erzwang jetzt seine Entlassung; dem Preußenkönig und den Junkern war es recht. Das Reformwerk kam unter Steins Nachfolgern ins Stocken. Sie waren mit dem miserablen Zustand der Staatsfinanzen beschäftigt und mußten erst ihren Abschied nehmen, als sie ihrem König zur Erfüllung der Kontributionen an die französischen Besatzer den Verkauf Schlesiens empfahlen. Friedrich Wilhelm berief im Juni 1810 Karl August Fürst von Hardenberg zum Minister und Staatskanzler.
Der liberale Hardenberg setzte mit Augenmaß und Geschick die Bemühungen Steins gegen die Opposition junkerlicher Kreise fort: Demokratische Grundsätze in einer monarchischen Regierung, im Wirtschaftsleben rechtliche Gleichheit bei freier Konkurrenz. Noch im Jahr seines Antritts wurden die Vorrechte der Zünfte beseitigt, die Gewerbefreiheit proklamiert und eine allgemeine Gewerbesteuer eingeführt. »Ich stimme für kein Gesetz der Juden, das nicht die vier Worte enthält: ›Gleiche Rechte, gleiche Pflichten‹.« Hardenberg hielt Wort, sein Entwurf für die Emanzipation der Juden folgte diesen Grundsätzen. Friedrich Wilhelm III. allerdings mißfiel ein Punkt der Vorlage ganz besonders: die Zulassung der Juden zum Staatsdienst. Er schloß sich dem Widerspruch seines konservativen Justizministers Kircheisen an und verlangte die Fassung: »Inwiefern die Juden zu anderen öffentlichen Bedienstungen und Staatsämtern zugelassen werden können, behalten Wir Uns vor, in der Folge gesetzlich zu bestimmen.«
Das Toleranz-Edikt »betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in dem Preußischen Staate« wurde...