Es ist reich gewesen
Sie sitzt am Haupt des Tisches. Unter dem hellen Lampenlicht leuchtet das Bündnerfleisch dunkelrot von der Farbe geronnenen Blutes. Auf dem Holzteller daneben bröckelt der Sarner Hobelkäse in die Petersiliensträußchen hinein.
Es ist reich gewesen, sagt sie unvermittelt.
Drei Paar Augen schauen erschreckt hoch, bereits gerötet, mit Augenwasser gefüllt. Sie trägt den türkisfarbenen Morgenrock aus Frottee. Kragen, Manschetten, Taschenbesatz und Gürtel sind weiß eingefaßt. In meiner Erinnerung ist es eine weiße Litze aus Baumwolle. Das Weiß bleibt ganz für sich und hebt sich klar vom Türkis ab. Ihr Blick ist getrübt. Die blaue Iris verschwommen, das Weiß des Augapfels vergilbt. Blau und Weiß sind an den Rändern verwischt.
Die alarmierten Gesichter haben sich wieder von ihr abgewandt. Die Augen konzentrieren sich auf die Teller. Im Morgenrock hat sie nie am Tisch gesessen. Doch. Wenn sie krank gewesen ist, ist es vorgekommen. Es ist auch vorgekommen, daß sie das Frühstück im Morgenrock gerichtet hat. Das hat sie erst gemacht, als sie älter war und nur während der Woche, nicht an einem Sonntag. Sonntags mußte sie frühmorgens mit den Vorbereitungen für das Mittagessen fertig sein; um neun Uhr begann der Gottesdienst.
Aber wenn sie mittags oder abends im Morgenrock am Tisch gesessen hat, hieß das: Sie kann schon wieder aufstehen. Sie ist krank gewesen. Nicht richtig angekleidet, nicht richtig ausgekleidet. Vor dem Bad, nach dem Bad. Nach der Krankheit, vor der Genesung. Der Morgenrock gehört zwischen zwei Zustände, zwischen Rückzug und In-Erscheinung-Treten.
An diesem Abend ist es anders. Der Morgenrock wird zum Indiz wie ihr alarmierender Satz. Sie wird die Tageskleidung mit Nachthemden tauschen. Sie wird die Nachthemden durchschwitzen und nur noch einmal tragen. Später werde ich wissen, es ist das letzte Abendessen gewesen mit ihr an einem Tisch. Das Unbegreifliche läßt sich nur mit der Zeit nachvollziehen.
An jenem Abend bin ich Teil der Szene wie die Mutter, der Vater, die Freundin, die mit mir gekommen ist. Die Tischordnung ist verändert. Im alten Haus hat die Mutter unten am Tisch gesessen, der Küchentür am nächsten, und mußte bei jedem Essen zwei-, dreimal aufspringen, um etwas zu holen; ihr Mann rechts von ihr, neben dem Geschirrschrank auf der Eckbank. Wer dort saß, mußte am seltensten aufspringen. Der Platz war eher unzugänglich; es hieß, sich zwischen Geschirrschrank und Tischkante hindurchwinden. Waren ihre Söhne mit Schwiegertöchtern und Enkelkindern zu Besuch, so füllten sich die Plätze rings um den Tisch wieder auf. Kam ich, die Tochter, allein zu Besuch, so saß ich links von ihr, auf dem zweiten angestammten Aufspringplatz, gegenüber von ihrem Mann. Brachte ich eine Freundin mit, saß sie oben am Tisch, gegenüber von der Mutter. In der neuen Wohnung steht ein anderer Tisch an anderer Stelle. Seit einem halben Jahr essen sie und er hier zusammen. Aber jetzt sitzt er unten am Tisch, näher auf dem Weg zur Küche, und muß laufen. Neben ihrem Stuhl lehnt eine metallene Krücke. Sie und er sitzen sich an diesem Abend an der Längsseite, meine Freundin und ich an der Breitseite gegenüber. Die beiden Paare sitzen exakt über Kreuz.
Sie und er leben mit den Möbeln ihrer Eltern. Sie ist vor dem Krieg mit ihm in sein Land, das Sudetenland, gegangen. Er ist ihretwegen aus der katholischen Kirche ausgetreten. Nach dem Krieg ist er in ihr Land nachgekommen. Nach zehn Jahren durfte er sich dort einkaufen. Er spricht gebrochen schweizerdeutsch. Sie sind seit dreiundfünfzig Jahren zusammen. Einen Fernseher haben sie nie gehabt. Nach dreißig Jahren haben sie ihr Haus verlassen. Sie sind einige Straßen weiter in eine Wohnung mit zweieinhalb Zimmern gezogen. Der Große Schrank, der Sekretär, der Spieltisch, die Standuhr bestimmen auch hier die Räume. Ihre Familie hat in ihrem Erbe gelebt. Aufgestellte Zinnteller oben auf den Bücherregalen, Zinnkannen oben auf dem Schrank. Auf dem Sekretär eine alte Bibel, die zum Abstauben mit zwei Händen heruntergehoben werden muß. Sie ist verschlossen und liegt als Wertstück dort. Darüber hängt die Bleistiftzeichnung von Dürers Mutter. Knochiges, abgehärmtes Gesicht, hagere Schlüsselbeine, eine unbegreifliche Jahreszahl dazu, 1514. Die Zahl wirkt so fremdländisch, als komme sie aus einer Kultur, in der für die einzelnen Ziffern andere Zahlenwerte gelten. Am Sekretär kann schon lange keine mehr schreiben. Die Schreibplatte hängt schräg nach unten. Sie beginnt zu knarren, sobald der Schlüssel umgedreht ist und sie hinuntergeklappt wird. Von Kind an habe ich gehört: Laß ja die Platte nicht fallen! Es ist ein langsames Herunterlassen, ähnlich wie bei der Falltür, mit der die Treppe zum Dachboden heruntergeholt wird. Ich weiß von Kind an, warum die Platte so knarrt. Sie muß das Geheimnis des Sekretärs hüten. Der Sekretär hat zwei Gesichter. Von außen ist er glatt und glänzt honigbraun. Zwei tiefe Schubladen, gefüllt mit aufgebügelten Geschenkpapieren, mit Schachteln und Bändern von Weihnachtsfesten und Geburtstagen, unter der Platte, eine Schublade darüber. Diese ist meistens abgeschlossen. Sie enthält Dokumente. An allen drei Schubladen prangen Löwenköpfe aus Messing mit Nasenringen zum Aufziehen.
Innen zeigt der Sekretär Schubladen und Fächer. Vier kleine Schubladen links und rechts, in der Mitte ein hohes, tiefes Fach, in dem es dunkel ist. Über dem Fach befindet sich die fünfte Schublade, darüber, in ganzer Breite, drei niedrige hellere Fächer und über dem Ganzen eine Ablage. In den kleinen Schubladen bewahrt die Mutter ihren Kram auf. Das Haushaltsportemonnaie und ihr eigenes, ein blaues schmales Heft, in dem sie versucht, regelmäßig ihre Ausgaben zu notieren. Ausweise, Reisepaß, Briefpapier, Karten, Umschläge, kleine Notizblöcke mit kariertem Papier, Reißnägel, Klebstreifen, Büroklammern, Radiergummi, Briefmarken, Tinte, Füller.
Es hat lange gedauert, bis sie ein Zimmer für sich allein gehabt hat. Sie hat mit den Möbeln gewohnt wie an verschiedenen Orten. Für mich waren die Möbel Figuren und Bezirke. Der niedrige runde Tisch, der bei den Großeltern noch Salontisch hieß, der gesellige Bezirk. Auf der Tischplatte sind Spielfelder eingelegt, Schach, Mühle, Dame. Am Sonntag vormittag wurde daran gespielt. Großvater paffte an dicken Stumpen, und durch die stinkenden Rauchschwaden hindurch sprach manchmal Gott aus dem Radio; Kirchenmusik hat dazu georgelt. Die Männer (Großvater Vater Brüder) haben Schach gespielt, tief über die Spielfiguren gebeugt. Aus Großmutters und Mutters Küche dufteten Sonntagsbraten. Keine Frau in der Familie spielte Schach. Die Kunst des Bratens, Schmorens und Garens zu lernen, war ich noch zu klein, und so konnte ich hin- und hergehen zwischen den Bezirken, Nachrichten überbringen, zuschauen, zuhören und rechtzeitig entwischen, bevor die Frage auftauchte: Hast du schon den Tisch gedeckt?
Im Sekretär treffen sich zwei Bezirke: der Ordnungsbezirk für familiäre Angelegenheiten und, darin enthalten, die Potenz ihres Schreibens. Der Große Schrank ist der Frauenbezirk, auch wenn er manchmal Großvaterschrank heißt. Ihr Vater hat ihn bei einer seiner Arztvisiten einem Bauern abgehandelt. Der Schrank steht im Wohnzimmer. Für das Schlafzimmer ist er zu groß, und er würde nicht zu den anderen Möbeln passen. Sie bewahrt ihre Kleider darin auf und lauter Frauensachen. Keiner der Männer macht sich daran zu schaffen. Sie hütet den Großen Schrank wie ihren Augapfel. Als kleines Mädchen ist er für mich wie ein Haus gewesen. Über eine hohe Schwelle kletternd gelange ich hinein und rutsche gleich in die Tiefe, wo ich mich gemütlich hinsetzen kann, zwischen Schuhen, Kartons, der runden, lederbezogenen Hutschachtel und rauhen und glatten Stoffbahnen. Daß die Mutter einen noch viel geheimeren Ort hat, merke ich erst nach Jahrzehnten.
Es ist viel Leben da, sagen die Eltern zufrieden, wenn sie auf dem Balkon an der Sonne sitzen und die Kinder aus den umliegenden Häusern unten auf dem Rasen herumtoben.
Und wir haben sogar einen Apfelbaum vor dem Fenster.
Am Ende ihres Lebens ist ihr alles in den Rücken gefahren. Da war von einem Umzug bereits die Rede, aber dringend notwendig war er noch nicht.
Das Bein ist immer so kalt und der Fuß ganz taub, sagt sie eines Abends im Spätsommer auf der Terrasse des alten Hauses.
Ihr rötlichbraungraues Haar ist an den Schläfen weiß geworden. Das Gesicht wirkt heller als früher, als werde es durch den weißen Haarkranz aufgehellt. Die fragende Erwartung an das Leben überhaupt hat sich noch einmal darin versammelt, als schmerze sie alles, was es ihr im Lauf der Jahrzehnte aufgetischt hat, bereits nicht mehr. Fast sehen die Linien ihres Mundes so aus, als könnten sie sich aus Kümmernis und Bitterkeit heben und sich wieder weich zu den Wangen hinziehen, als müßte sich das Entrückte, das lebenslange Sehnen nicht hinterrücks gegen sie wenden.
Den ganzen Sommer lang habe ich wieder Bündner Nelken am Balkon gehabt, sagt sie stolz.
Sie zieht beide Beine auf den Sessel hoch und reibt sich den linken Fuß.
Der Kirschbaum ist letzten Winter erfroren, sagt sie.
Die Zitronenmelisse ist ganz aus dem Garten verschwunden. Das ist seine Stimme.
Es ist einer jener Abende, an dem die alt gewordenen Stimmen der Eltern die seltene Tonart finden, die gereinigt ist vom nörgelnden Einerlei, vom Quengeln, gereizten Aufbegehren und Abwehren, von Seufzern und Klagen. Die Stimmen lehnen sich in die Gartenstühle zurück und...