Chaosforschen
Ein Blick in den Schulranzen
Viele Familien denken heutzutage, für die Grundausstattung ihres Erstklässlers müssten sie aus finanziellen Erwägungen auf den Sommerurlaub verzichten. Ganz falsch! Machen Sie so etwas bloß nicht – Ihr Erstklässler wird bis zu den Herbstferien nicht mehr mit Ihnen sprechen! Verkaufen Sie lieber das Auto und stellen Sie geplante Einkäufe ein paar Jahre zurück. Die Schuhe, die Sie sich 1988 geleistet haben, sind doch noch vollkommen in Ordnung, oder?
Früher war die Sache noch ziemlich schwierig. Da gab es 957 verschiedene Schulranzenformen in 786 Farben. Die Suche nach dem geeigneten Ranzenmodell, das dem künftigen Ranzenträger in jedem Detail zusagte, dauerte fast die kompletten Sommerferien. Lieber diesen helleren Braunton? Oder Grün? Glattleder oder genoppt? Drei schmale Fächer im Inneren oder nur zwei? Zahlenschloss an den Schnallen? Wer merkt sich die Kombination? Oder verschließbar mit einem Schlüssel, der selbstverständlich nach fünf Minuten weg ist und außerdem so klein, dass Papa mit einem Mikroskop den Schulweg absuchen muss. Namensschild außen, innen oder – aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes – gar nicht? Beheizbare Trageriemen? Batteriebetrieb oder solar?
Egal, was dabei herauskam, spätestens am zweiten Schultag mussten Mütter und Väter erneut zum Warenhaus losziehen, weil sich der Ranzen des Nachbarsjungen Horst als so überlegen in allen Belangen herausgestellt hatte, dass das eigene Kind drohte, seine Lernkarriere sofort zu beenden, falls ihm nicht nachträglich das gleiche Modell angeschnallt würde. Auch war häufig von Schulranzen zu hören, die bereits in der ersten Unterrichtswoche verschwanden. Spurlos. Oder in einen zufällig vorbeirauschenden Fluss sprangen. Oder unerwartet in einem fremden Fernreisezug davonfuhren, Ziel unbekannt. Erstklässler erklärten das Phänomen etwa mit den Worten: »Ich hab doch gesagt, das Teil taugt nix.«
Dieses Problem hat sich erledigt. Heute sehen alle Schulranzen genau gleich aus und haben zur allgemeinen Beruhigung die DIN-Nummer 58124. Dass sie größer und – spätestens im gefüllten Zustand – schwerer sind als ein herkömmlicher Erstklässler, sollte niemanden beunruhigen. Im ersten Schuljahr wird die Schultasche ohnehin meist von den Eltern zur Schule getragen.
Den Ranzen hätten wir also. Aber was tun wir hinein?
Glücklicherweise versorgen die meisten Grundschulen ihre künftigen Schüler mit Listen, auf denen alles steht, was für den Anfang benötigt wird. Gewissenhafte Eltern sollten jedoch darauf achten, dass sie die Liste höchstpersönlich und von offizieller Seite in Empfang nehmen. Es soll schon vorgekommen sein, dass Söhne und Töchter sich als zuvorkommende Listenboten ausgaben. In ihren Ranzen befanden sich dann am ersten Schultag weder Lineal noch Radiergummi, sondern Bonbons, Schokoriegel, Digimons, Gameboys, Inline-Skater, Mountainbikes, junge Hunde, Katzen und Elefanten.
Daraufhin wurde die Schultüte erfunden. Sie entzerrt seither den naturgegebenen Interessenkonflikt zwischen Vätern, Müttern und Erstklässlern. In die Schultüte kommen Bonbons und junge Elefanten; der Ranzen ist ausschließlich für ernsthafte Ausrüstungsgegenstände zu verwenden. Wo kämen wir denn sonst hin.
Eine echte Inventarliste für Schulanfängerranzen sieht ungefähr so aus:
fünf Schnellhefter in verschiedenen Farben
25 Klarsichthüllen, abheftbar
ein Mäppchen mit zwei Bleistiften, einem Radiergummi, einem Lineal, einem Spitzer und etwa zehn Buntstiften
eine Schere für Kinder, nicht für Vampirjäger
ein Farbkasten mit Deckweiß, Pinseln und Wasserbecher
zwei Zeichenblöcke (DIN A4 und DIN A3)
ein Klebestift
fünf Rechenhefte (DIN A5)
fünf Schreibhefte (DIN A5)
zwei Hefte DIN A4 mit Erstklässlerzeilen
zwei unlinierte Hefte DIN A5
Turnkleidung und -schuhe
Trinkflasche und Vesperdose für Pausenbrot
Foto von Mama, Papa, Oma und Opa (optional).
Das geht ja noch, wie? Aber nicht so eilig. Zunächst muss das Zeug ja gekauft werden. Das wissen auch Schreibwarenhändler und Schreibwarenabteilungsleiter. Vier Wochen vor Schuljahresbeginn fangen sie an, das ganze Land mit Erstklässlerzubehörprospekten zu tapezieren. Das bleibt auch Erstklässlerinnen und Erstklässlern nicht verborgen. Eines Tages werden Sie Ihren Noch-nicht-ganz-Schüler am Küchentisch antreffen, in einen Prospekt versunken, die Augen entschlossen auf das Wesentliche gerichtet: den »Klebestift Rakete«.
Sie ahnen bereits, was dann passiert.
Es gibt Klebestifte. Die kosten ein paar Cent. Es gibt hervorragende, mehrfach preisgekrönte Marken-Klebestifte. Mit Herzchen drauf. Leicht zu öffnen und zu verschließen. Kleben Papier und nicht die Finger. Die kosten ein paar Cent mehr. Und es gibt den »Klebestift Rakete«, ein sagenhaftes Ding, mit dem man nicht nur echt cool kleben kann, sondern auch noch zum Mond fliegen und wahrscheinlich sogar zum Mars. Der kostet entweder drei Tage Diskussion und Tränen und Türenknallen – oder ein Vermögen.
Dabei hätte der Markendiscounter im benachbarten Stadtviertel Ihnen ein Topangebot zu machen: einen Klebestift, zehn Gramm; einen Vielzweckkleber, 50-Gramm-Flasche, lösungsmittelfrei; Powerstrips, Acht-Stück-Packung; und eine Klebefilmrolle inklusive Handabroller, alles zusammen im rot-blauen Design des renommierten Pappmittelproduzenten, das vierteilige Klebe-Mix-Set für 2,49 Euro – also 80 Cent billiger als der »Klebestift Rakete« im Soloflug.
Was will das preisbewusste Erstklässlerherz mehr? Ganz recht: einen »Klebestift Rakete« natürlich. Und wenn wir schon dabei sind: einen »Tintenkiller Super-Pirat«. Was schert es den Schulanfänger, dass er im ersten Jahr noch gar keine Tinte zu killen hat, weil er mit allem Möglichen schreibt, aber nicht mit einem Füllfederhalter? Und dass es beim Markendiscounter acht »Tintenlöscher« zum Preis eines »Tintenkillers Super-Pirat« gibt, entringt ihm allenfalls ein gewinnendes Lächeln. »Tintenlöscher« – pah. Seit wann brennt’s im Schulheft?
Wie ist die Lage auf dem Deckfarbenkastenmarkt? Bitte sehr: Der Markendiscounter bietet 24 hochdeckende Farben, eine Tube Deckweiß und einen Naturhaarpinsel für einsneunundneunzig – die Hälfte dessen, was der Schreibwarenfachprospekt für den »Deckfarbkasten K12« mit lediglich einem Dutzend Farben haben will. Okay, der »K12« trägt das Konterfei eines eleganten tropischen Vogels, hat »neuartige auswechselbare Farbtabletten mit Mulde zum schnelleren Anlösen der Farbe« und ein beschriftbares Namensfeld im Deckel. Das ist nicht von der Hand zu weisen. Aber würden Sie auch für Ihr neues Auto das Doppelte bezahlen, wenn es mit Mulde im Dach und beschriftbarer Kühlerhaube erhältlich wäre? Sehen Sie. Ihr künftiger Grundschüler würde es jederzeit tun. Und da ist er noch gnädig. Es gibt schließlich nicht nur den »Deckfarbkasten K12«, sondern auch – nein, nicht den »Everest«, aber den »Pro Color 12« inklusive zwei Wasserboxen. Zum doppelten Preis.
So verhält es sich leider mit allen Schreibwaren für Erstklässler. Es gibt Buntstifte, die erfüllen ganz wunderbar den Zweck, zu dem sie produziert wurden: malen. Es gibt Buntstifte mit kleinen Nilpferden am oberen Ende. Es gibt aber auch Filzstifte. Es gibt sogar Fasermaler. Und es gibt Fasermaler mit Zebras und Zebrafohlen auf der Packung. Aber nicht umsonst. So ein Zebra will ja gefüttert werden. Das kostet.
Kluge Eltern könnten nun mit ihren Kindern reden und ihnen erklären: »Schau mal, wir verdienen ja nur famdribarimpumpzig Euro im Monat, und davon kann man nur die normalen Buntstifte kaufen und vielleicht noch die günstigen Fasermaler dazu. Mehr geht nicht. Sonst gibt’s zum Frühstück nur noch Salz aufs Brot und zum Abendessen einen halben Rollmops. Ohne Gewürzgurke.«
Das ist eine lobenswerte und sozialpädagogisch hochwertige Strategie. Damit überzeugen Sie jedes Kind. Bis zum nächsten Morgen. Dann sitzt in der Schule neben dem Kind nämlich wieder dieses andere Kind, dessen Eltern offiziell auch nicht mehr verdienen als Hempels von gegenüber – und dieses Kind hat den »Klebestift Rakete«. Und gestern Abend sieben Rollmöpse gegessen. Mit Gurken. Und Erdbeeren zum Nachtisch. Zur Veranschaulichung hier eine wahre Geschichte aus dem Leben. Eine annähernd wahre Geschichte. Aber auf jeden Fall aus dem Leben. Es waren einmal zwei Jungen, Fritz und Franz, die beide in dieselbe Klasse gingen. Beziehungsweise fuhren. Fritz mit dem alten schmutzig-weißen Klapprad seiner Mutter, der knapp ein Jahr ältere Franz mit einem windschnittigen, grünmetallic-lackierten Rennrad. Zehn Gänge. (Die Geschichte spielt in den frühen 70er Jahren. Heute hätte Franzens Fahrrad 27 Gänge. Wozu auch immer. Man braucht eigentlich nur zehn. Höchstens.) So fuhren sie jahrein, jahraus gemeinsam zur Schule, und eines Tages sagte Fritz zu seiner Mutter: »Das alte Klapprad ist ja noch ganz in Ordnung, aber ich hätte sooo gern auch ein Rennrad. Muss ja nicht grünmetallic sein. Blau genügt, und mit fünf Gängen komme ich...