DIE LIEBE KAM „WIE VOM HIMMEL HERAB“
Constanze Esmarch, die Tochter des Segeberger Bürgermeisters, und Theodor Storm, der Sohn des Husumer Rechtsanwalts, kannten sich als Cousine und Cousin von Kindesbeinen an. Das war eine Kinderliebe, die sich in Haus und Garten austobte (BB II). Später jedoch, in der zweiten Hälfte des Jahres 1843, als die 18jährige Constanze in Theodor Storms Husumer Elternhaus lebte, haben sich zunächst keine näheren Beziehungen zwischen ihnen ergeben. Um so erstaunter waren die Familie und die Freunde, als Constanze und Theodor Ende Januar 1844 ihre Verlobung bekanntgaben. Wie es dazu gekommen war, läßt sich aus Erinnerungsbruchstücken und Mitteilungen, die sie später ihren Briefen anvertraut haben, rekonstruieren.
Als Tochter des Segeberger Bürgermeisters Ernst Esmarch war Constanze in einem gutbürgerlichen Hause aufgewachsen, hatte allerdings nur eine mäßige Schulbildung genossen. Mit 18 Jahren wurde sie nach Husum geschickt, um in Storms Elternhaus eine neue Welt und einen größeren Haushalt kennenzulernen. Theodor Storms Vater war ein Schulfreund ihres Vaters (beide hatten die Husumer Gelehrtenschule besucht), und Storms Mutter war eine Schwester ihrer Mutter (eine geborene Woldsen); Constanze und Theodor waren also Cousine und Cousin ersten Grades4. Trotzdem sind sie sich während der fünf Monate ihres Aufenthalts in Theodors Elternhaus weitgehend fremd geblieben.
Theodor lebte im Jahre 1843 sozusagen in einer anderen Welt als Constanze. Bereits mit 17 Jahren hatten ihn seine Eltern von Husum weg nach Lübeck geschickt, damit er auf dem dortigen Katharineum seine Schulbildung vollende. Er hatte dann in Kiel und Berlin Jura studiert, war nach bestandenem Examen im Herbst 1842 nach Hause zurückgekehrt, hatte zunächst in der Rechtsanwaltspraxis seines Vaters gearbeitet, dann aber sein Elternhaus verlassen, in der Husumer Großstraße eine eigene Rechtsanwaltspraxis aufgemacht und eine eigene Wohnung bezogen (März 1843). Das war ein erster Versuch des jungen Storm, sich nach dem Studium neu zu orientieren. Er hatte lange Zeit – während des Studiums und wohl auch in den ersten beiden Jahren nach seiner Rückkehr – „ziemlich locker gelebt“ (I 381 f.), der „Weiber Gunst erfahren“ (I 94), sich in „Liebschaften“ verzettelt, die „mit der Liebe nichts zu thun“ hatten (I 339), und wollte nun seinem Leben neue Akzente verleihen. Zeitweise meinte er, es in Husum „nicht länger aushalten“ zu können; ja, er spielte sogar mit dem Gedanken, seine Heimatstadt zu verlassen (gegen Ende 1844, vgl. II 133). Unzufrieden und unglücklich war er auch deshalb, weil seine große Liebe, die Hamburgerin Bertha von Buchan, seinen Heiratsantrag zurückgewiesen hatte. Diese Absage hatte ihn – wie er seinem Freund Theodor Mommsen bekannte (M 70) – „in einen Abgrund von Traurigkeit“ gestürzt, ja, er glaubte, „die Liebe zu diesem Kinde“ werde sein Leben „noch schlimm verwüsten“, und stöhnte: „Ich entbehre hier alles, den Freund und die Geliebte; ich verfalle noch gegen meine Natur in Langeweile“ (M 34 f.).
Vorübergehend bildete das Sammeln für das Müllenhoffsche Sagenbuch und für das „Liederbuch dreier Freunde“ ein Betätigungsfeld, das eine gewisse Befriedigung mit sich brachte. Nachdem aber Mommsen als treibender Motor ausgefallen, das „Liederbuch“ fertig redigiert war (Anfang 1843)5 und auch die Gründung eines „Singvereins“ in Husum zunächst mehr Schwierigkeiten als Erfolge mit sich brachte6, spürte Storm die Gefahr, den sogenannten „Vergnügungen“ zu verfallen (II 110) und aus Ermangelung an edlen Naturen mit den „Wüsten“ Umgang pflegen zu müssen (I 315). Auf der Suche nach dem „Poetischen“, das – wie er meinte (I 61) – „in seiner Natur lag“, und mit dem Wunsch, „alles geistig zu erheben“, war er von seiner Umgebung enttäuscht. Es fehlte der „beständige und lebendige Gedankenaustausch“ mit den Kieler Freunden; er vermisste den „Nachsommer der Studentenjahre“ (I 185; M 68). In diesem Zustand übersah er seine Cousine Constanze zunächst völlig, obwohl es in der zweiten Hälfte des Jahres 1843, das Constanze in Storms Elternhaus in der Hohlen Gasse verbrachte, genügend Gelegenheiten für Theodor Storm und seine Cousine gab, sich zu begegnen, miteinander zu sprechen, zu scherzen und zu tanzen. Dabei mußte Constanze Theodor eigentlich aufgefallen sein: Sie war schön, „eine stolz und hochgewachsene <Frau> mit zugleich groß und feingeschnittenen Gesichtsformen und schönen ernsten grauen Augen unter breiten Lidern“ (P 8). Sie wird als lebensfroh, ja geradezu als „übermütig“ bezeichnet, war musikalisch, sang und tanzte gern (G I 168, BB II), war aber, wie sie selbst sagt (I 117), „noch ein Kind“, das wenig erlebt und wenig von der großen Welt gesehen hatte.
1 Constanze Esmarch, um 1844, 18 Jahre alt. Zeichnung von Friedrich Feddersen im „Album für Constanze“
(Original und Foto: StA – Husum)
Zum erstenmal sind sich Constanze und Theodor Storm am Weihnachtsabend 1843 wirklich , begegnet‘. In der „Vorstube“ des Stormschen Elternhauses – so erfahren wir aus ihren Briefen (I 201, 220) – war man damit beschäftigt, die Lichter am Weihnachtsbaum anzuzünden. Constanze saß in der „großen Stube“ an der einen Seite der großen Uhr, Theodor an der anderen Seite, und Constanze weinte vor Heimweh; da hat Theodor sich ihr zugewendet und sie getröstet.
Constanze hat später behauptet, daß damals „eine Art Liebe“ in ihr Herz gekommen sei (II 123). Das mag für sie stimmen; für Theodor aber offensichtlich nicht. Auf einem Maskenball jedenfalls, der kurze Zeit später stattfand, hat er „nicht ein einziges Mal“ mit ihr getanzt, sich überhaupt nicht um sie gekümmert. Das hat sie „unendlich“ geschmerzt (II 123).
Spielerisch nähergekommen sind sich Constanze und Theodor dann auf einem geselligen Abend im Elternhaus, Anfang Januar 1844. Wir haben zufällig einen brieflichen Bericht einer Augenzeugin darüber (G I 171): „Constanze war fast übermütig. Theodor und sie machten sich gegenseitig Liebeserklärungen. Wir wurden alle zu Zeugen aufgerufen, daß Theodor Constanze die Ehe angetragen und Constanze sie angenommen habe. Wie es geworden ist, weiß ich nicht“.
Ein entscheidendes Erlebnis wurde für beide der kleine Ball, der am 14. Januar 1844 anlässlich des 24. Geburtstages von Storms Schwester Helene gegeben wurde. Constanze hatte sich in ihrem kindlichen Übermut auf Storms „Schooß und in seinen Arm“ gesetzt, und er hatte, ohne daß ihm „damals klar bewußt“ war, was er tat, gleichsam „wie im Traum“, sich ihrer „lieben Hand bemächtigt“ (I 201, 342). Bereits wenig später, auf einem Spaziergang, haben sie sich dann verlobt (I 220, II 385).
Diese schnelle, ja, man muß sagen, überstürzte Verlobung gibt uns einige Rätsel auf; nicht so sehr von Constanzes Seite: Ihr gefiel offenbar der junge Rechtsanwalt, der wie sie Musikliebhaber war, der tanzen konnte und eine , gute Partie‘ war. Theodor dagegen hatte für Constanze zuerst kein Interesse, er krankte noch an der Zurückweisung seines Heiratsantrags durch Bertha von Buchan, ihm fehlten Freunde und ein wirklicher Lebensmittelpunkt. Da erschien auf der Bildfläche plötzlich ein schönes, unbefangenes, lebensfrohes Mädchen, und er glaubte, sie könnte seinem Leben wieder einen Sinn geben: das war Constanze. Nicht Liebe also, sondern die Überlegung, daß er mit diesem Mädchen ein neues Leben anfangen könnte, war die Triebfeder für seine Verlobung. Das hat er später mehrfach selbst bestätigt (z. B. II 398; vgl. 385). Das bestätigt auch ein Abschnitt aus einem Brief vom 2. Mai 1844, in dem Friederike Jensen, die spätere Frau von Storms Bruder Johannes, einer Freundin in Flensburg ein entsprechendes persönliches Geständnis Storms mitteilte: „Th.<eodor> ist sehr aufrichtig zu mir, und spricht mit mir Manches was er wohl zu Keine<m> sonst sagt. Sein Verhältniß zu Constance hatt eine ganz andere Wendung genommen, erst war es, nach seiner heiligen Versicherung, nur eine Vernunftparthie. Th.<eodor> hat wohl früher ziemlich locker gelebt, hat wohl mit Liebe Scherz getrieben, hat sie wohl zu seinem Spielball gemacht. Er hat wohl um einige junge Mädchen angehalten, aber, o unerhörtes Schicksal, mit Körben zurück geschickt. Er sah Constance, ihm war dies Leben hier als Junggesell zu langweilig, sie war schön, worauf er sehr viel sieht, und er glaubte, mit ihr glücklich zu werden. Dies hat er mir selbst gesagt, darum wählte er grade Constance, nicht aus Liebe. Jetzt ist es aber gottlob anders, jetzt liebt er Constance wie gewiß der zärtlichste Bräutigam und wird gewiß glücklich.“ (Original: StA – Husum, vgl. I 382). Storm gesteht hier, daß er sich nicht aus Liebe mit Constanze verlobt hat, sondern aus „Langeweile“. Er wollte seinem langweiligen Junggesellenleben einen Sinn geben.
Die Mitteilung der jungen Leute, daß sie sich verlobt hätten, hat die Familie zunächst schockiert. Storms Vater konnte sich nur schwer von seinem „Erstaunen“ erholen. Er war – wie er seinem Schwager Esmarch nach Segeberg schrieb – gegen „Familienheiraten“ (also Heirat zwischen Cousine und Cousin) und hatte Bedenken wegen der „Launenhaftigkeit“ seines Sohnes. Sonst aber – so meinte er – war „das Fortkommen des jungen Paares ziemlich gesichert“; Theodor sei „sehr gescheit und arbeitstüchtig“ (G I 172 f.). Der Vater stellte allerdings die Bedingung, „daß die Heirat 1½ bis 2 Jahre hinausgeschoben“ werden sollte.
2 Theodor Storm 1852, nach einer Daguerreotypie vom Dezember 1852 in Berlin. Frühestes Foto...