ZWEI
Elisabeth Wellano genannt Liesl Karlstadt
LIESL Karlstadt wurde am 12. Dezember 1892 in der Zieblandstraße in München-Schwabing als Elisabeth Wellano geboren. Ihre Eltern waren der Bäckermeister Ignaz Wellano aus Osterhofen und Agathe Wellano, geb. Edenhofer, aus Regen im Bayerischen Wald.
Liesl Karlstadt hat ihrem Freund Theo Riegler, der eine Zeit lang die Wanderbühne »Rieglers Nudelbrett« betrieb und als Conférencier arbeitete, in den Fünfzigerjahren ihre Lebensgeschichte erzählt. Daraus ist nach ihrem Tod das Liesl-Karlstadt-Buch entstanden. Theo Riegler vergleicht darin ihre Kindheit mit den Märchen der Brüder Grimm, in denen Armut und Anständigkeit immer ein Paar bilden, das irgendwann reichlich belohnt wird.
»Das Leben der Liesl Karlstadt ist die rührende und schmucklose Geschichte eines kleinen Münchner Aschenbrödels – nur fand sie als junges Mädchen von zwanzig Jahren keinen Prinzen, der sie in ein prunkvolles Schloß führte, sondern einen dünnen, kauzigen Komiker, der Karl Valentin hieß.«2
Die junge Elisabeth Wellano
© Monacensia Literaturarchiv, München
Liesl Karlstadt in »Der Bittsteller«
© Monacensia Literaturarchiv, München
Ganz abgesehen von der Frage, ob Karl Valentin wirklich als der die Erlösung bringende Märchenprinz zu betrachten ist, muss hier sofort darauf hingewiesen werden, dass Liesl Karlstadt nicht auf jemanden gewartet hat. Sie hat schon sehr früh ihr Leben selbst in die Hand genommen und eben nicht auf den Mann gehofft, der ihr ein anderes Leben bieten konnte. Das war für die Zeit um die Jahrhundertwende nicht selbstverständlich. Damals war die weibliche Aschenbrödelhaltung üblich. Kein irrationaler Komplex, sondern eine realistische Verhaltensweise, die aus den mangelnden Selbstverwirklichungsmöglichkeiten einer Frau erwuchs. Das, was Colette Dowling achtzig Jahre später ihren Geschlechtsgenossinnen als Cinderellakomplex vorwirft, nämlich eine passive Wartehaltung der aktiven Tat vorzuziehen, konnte damals nicht als Vorwurf benutzt werden.
Das durchschnittliche Frauenleben zu Beginn des Jahrhunderts bot nicht viele Möglichkeiten zu individueller Verwirklichung, und auch die Arbeitsmöglichkeiten zum Zweck des Geldverdienens waren beschränkt auf die Fabrik und den Haushalt, wie Marita Krauss und Florian Beck in ihrem Buch »Leben in München. Von der Jahrhundertwende bis 1933« anhand von Originaltexten belegen.
»Ob als Näherin, Kellnerin, Verkäuferin oder Zugehfrau: Beruflicher Aufstieg und selbständige Arbeit war 1907 nur wenigen der etwa 100 000 arbeitenden Münchnerinnen möglich. Das erstrebte Wunschziel vieler Frauen blieb deshalb eine gute Heirat, die allein finanzielle Unabhängigkeit garantierte.«3
Dienstmädchen war einer der häufigsten weiblichen Berufe. Bis Mitte der Zwanzigerjahre arbeiteten etwa 23 000 Dienstmädchen in München, die ihre Stelle oft wechselten.
»Hatte das Mädchen eine Stelle gefunden, begann der harte Arbeitsalltag; spätestens um sechs Uhr morgens hieß es aufstehen. Im Winter mußten zunächst die Öfen angeheizt werden. Regelmäßig hatte das Mädchen Frühstück, Mittag- und Nachtessen zu bereiten, außerdem gehörten Abspülen, Putzen, Waschen und Bügeln zu ihren Aufgaben. Laut Emy Gordons Bestseller »Die Pflichten eines Dienstmädchens« fiel in Haushalten mit kleinen Kindern auch noch die ›Wartung und Beaufsichtigung derselben‹ in dessen Aufgabenbereich. Eigentlich stand das Dienstmädchen 24 Stunden am Tage zur Verfügung. Nur am Sonntagnachmittag nicht: Zwischen drei und sieben Uhr, in Ausnahmen bis zehn Uhr, hatte das Mädchen Ausgang.«4
Als Dienstmädchen hat Liesl Karlstadt nie gearbeitet, auf der Bühne allerdings hat sie die Rolle einige Male gespielt, zum Beispiel im »Brillantfeuerwerk«, und dafür viel männliche Anerkennung erfahren, genau wie ihre »Kocherl«-Kolleginnen, die von jeher eine verlockende Projektionsfläche für Männerfantasien boten. Der Münchner Kunsthistoriker und Journalist Dr. Wilhelm Hausenstein schrieb 1930 unter dem Titel »Es war einmal die Rosenau«:
»Und die Dienstmädchen, die hübschen Dienstmädchen von damals. Du lieber Himmel, war das eine Generation von Kocherln – und wie ganz und gar gelungen waren ihre Repräsentantinnen gestern abend! (…) Die Dienstmädchen in der Theater-Rosenau: das war die Wirklichkeit, die wir noch erlebt haben; es konnte gar nicht suggestiver sein. Und noch einmal, wie blitzsauber sie waren; die erste, vorn am ersten Biertisch – man muß einen Fluch des Entzückens unterdrücken; aber auch die dritte und, verdammt, auch die robuste mittlere. Und wie sie angezogen waren; es stimmte auf den Druckknopf; nur daß ich der Liesl gern ein paar ›Stiefeletten‹ auftreiben möchte, die vorn, am Rand oben, herzförmig geschnitten wären; denn so war es, und dies ist wichtig; so war es mit den Knopfstiefeletten von dazumal!«5
Liesl Karlstadt kam als fünftes von neun Kindern zur Welt. Ihr Vater, der Bäcker aus Osterhofen, war 25 Jahre lang als Brotschießer in der Dombäckerei Ringler am Münchner Frauenplatz tätig. Obwohl er hart arbeitete, lebte die Familie in großer Armut. Liesl Karlstadt hat Theo Riegler erzählt, wie einfach die Mahlzeiten bei ihr zu Hause waren. Nur selten gab es ein Fleischgericht oder eine süße Mehlspeise, stattdessen Kartoffeln und trockenes Brot. Da der Vater sehr früh aufstehen musste, schlief er am Tag. Darauf hatte die Familie Rücksicht zu nehmen. Die Mutter hielt ihre Kinder dazu an, den Vater nicht zu stören. Um ihn, seinen Arbeitsalltag, sein Wohlbefinden drehte sich alles. Liesl Karlstadt hat also schon früh erfahren, dass der Mann und seine Arbeit der Mittelpunkt ist, um den herum sich die Frau bewegt. Dass er wichtiger ist.
Als es für ihre Mutter immer schwieriger und schließlich unmöglich wurde, die vielen Kinder vom geringen Verdienst ihres Mannes zu ernähren, kaufte sie einen kleinen Milchladen auf der Schwanthaler Höh.
Liesl Karlstadt musste von Anfang an mithelfen und frühmorgens die Milch austragen. Aber der Laden rentierte sich nicht und wurde schließlich wieder geschlossen. Es gab so gut wie keine Perspektive, dass es der Familie jemals besser gehen würde. Liesl Karlstadt hat einmal gesagt, sie habe dadurch sehr früh die Relativität menschlicher Glücksgefühle kennengelernt. Sie entwickelte eine Sensibilität für kleine Dinge, ein schönes Essen, einen liebevollen Blick, ein Sichkümmern. Aber immer verbunden mit der Angst, dass es wieder verschwinden könnte. Niemals ein ungetrübter Genuss, sondern immer die Erwartung der Kehrseite. Wenigstens das genießen, was da ist. Ein Stück warmer Leberkäs war ein Festmahl für sie und wurde mit den anderen geteilt. Die anderen, das waren mittlerweile nur noch fünf Geschwister, denn vier waren gestorben.
Die Familie wohnte in einer einzigen Stube, die gleichzeitig Küche, Wohn-, Schlaf- und Kinderzimmer war. Neben der häuslichen Enge hatte Liesl Karlstadt nach eigenen Angaben auch unter Diskriminierung zu leiden: »Wellano – Italiano – lebst aa no?«, riefen ihre Mitschüler hinter ihr her und verspotteten ihren klangvollen Namen. Vielleicht nur ein harmloser Kinderreim, der jedoch angesichts der Tatsache, dass vier ihrer Geschwister gestorben waren, für Liesl Karlstadt eine tiefere Bedeutung hatte.
Wenn sie davon erzählte, tat sie das im Ton der unerschütterlichen Heiterkeit und meinte, dass ihr der angeborene Humor und die anerzogene bayerische Frömmigkeit über die Kränkung hinweghalfen. Vielleicht trug sie in dieser Zeit schon den Traum vom Weg ins Freie mit sich herum.
Mit Wehmut hat sie ihre Firmung geschildert. Als Kind konnte sie noch nicht ahnen, dass sie ein Vierteljahrhundert später auf der Bühne als Firmling große Triumphe feiern und das Publikum von München bis Berlin in Begeisterungsstürme versetzen würde. Über die eigene reale Firmung sagte sie:
»Der Firmtag war sehr bescheiden – aber schee! Wir warn ja ganz arme Leut, und mei Mutter is glegen, und die Firmung is immer näher kommen. Wie sie mich dann einmal in die Adalbertstraß gschickt hat um ein Petroleum zur Kramerin, da hab ich gwart, bis alle Leut fort warn, und dann hab ich zur Kramerin gsagt: ›Bitt schön, können S’net mei Firmpatin machen?‹ Die Kramerin hat gsagt: ›Ja mei, Lieserl, i bin aa krank, aber vielleicht macht’s mei Tochter!‹ Die Kramertochter hat dann auch wirklich die Firmpatin gmacht, in der Josephskirche.«6
Sie bekam zwar keine Uhr geschenkt wie die anderen Kinder, aber dafür einen roten Kleiderstoff, ein Gebetbuch, einen Rosenkranz in einem gedrechselten Ei, das man aufschrauben konnte. Sie hat es ihr Leben lang aufgehoben und in ihrer Wohnung aufgestellt. Nach der Firmung ging sie mit ihrer Firmpatin in die Max-Emanuel-Brauerei zum Weißwurstfrühstück. Es wird dort nicht so ausgelassen zugegangen sein wie später auf der Bühne, mit Weinzwang, Affenthaler, Brezn und Zigarre.
Dass es anders als bei ihr daheim zugehen konnte und auch zuging, dass es eine andere Welt gab, die sehr wenig mit der zu tun hatte, in der sie mit ihrer Familie lebte, erfuhr sie durch die Bücher. Darin las sie von einem anderen Leben, in dem es Spielsachen, Marzipan, Weintrauben und Puppen mit goldenem Haar gab. Aus den Träumen entwickelte sich allmählich eine Sehnsucht und aus der Sehnsucht eine Fluchtlinie. Sie führte über Bildung.
Am 12. Dezember 1902, an Liesl Karlstadts 10. Geburtstag, wurde ihre...