Wie viele Berlinerinnen und Berliner ihrer Zeit war Lina Morgenstern eine Zugereiste, und wie für das 19. Jahrhundert typisch, kam sie aus Schlesien. Die meisten davon fühlten sich zu Zeiten der Industrialisierung durch die aufstrebende preußische Hauptstadt angezogen. Dort hofften sie auf Arbeit, Teilhabe am gesellschaftlichen und kulturellen Leben – sie wollten „dabei sein“ und sich beweisen.
Für Lina sollten sich in der Großstadt viele ihrer Hoffnungen erfüllen. Denn im Unterschied zu Hunderten anderer Zugezogener hatte sie es nicht nötig gehabt, auf Stellungsuche zu gehen, um fremden „Herrschaften“ zu dienen. Denn sie entstammte einer jüdischen Familie, die als fleißig und wohlhabend galt und die es sich leisten konnte, ihren Töchtern jeweils eine ihrem Stande gemäße Mitgift zu gewähren. Und sie war, als sie nach Berlin kam, bereits verheiratet.
Linas Geburtsstunde hatte am 25. November 1830 in Breslau geschlagen, und in dieser Stadt durchlebte sie gemeinsam mit mehreren Geschwistern eine sorgenfreie Kindheit. Dieser Aussage steht aber nicht entgegen, dass ihr eine recht strenge Erziehung zuteil wurde. Denn in ihrem Vaterhaus haben – wie sie später schrieb - „sittlicher Ernst, das strengste Pflichtgefühl und die reinste Menschlichkeit geherrscht“. Sie und ihre Geschwister seien zu „Sittlichkeit, Selbstbestimmung und Berufstreue angehalten worden“. /1/
Von ihrem Vater, dem Fabrikanten und Kaufmann Albert Bauer, hieß es, er sei m Umgange mit seiner Familie, mit Freunden, und Bekannten, aber auch Fremden gegenüber jovial und heiter gewesen. Seine Frau Fanny, geborene Adler, stammte aus Krakau, der damals von Österreich besetzten ehemaligen polnischen Hauptstadt. Sie wurde weit hin als ein Vorbild echt weiblicher Würde und aufopferungsvoller Menschenliebe gepriesen. Ein angenehmes Wesen habe sie ausgezeichnet. Nie soll sie aufgehört haben, von den schönen Dingen des Lebens, in Sonderheit von Wissenschaften und Kunst, zu lernen. Bis ins hohe Alter hinein schätzten selbst Männer ihr Urteil als selbständig und scharf. Für Lina war die Mutter das Vorbild einer sittenreichen und edlen Frau. /2/
Lebhaft, wie Lina als war, tollte sie oft mit anderen Kindern in den Gassen der Altstadt umher. Des Sommers sah sie gern den Schwänen nach, die still und gravitätisch auf dem klaren Wasser der Oder dahinglitten. Wie sehr konnte sie sich auf den Promenaden über die sorgfältig angelegten Blumenteppiche erfreuen. Exotische Pflanzen und akklimatisierte Ziersträucher mochte sie über alles. Oft bestieg sie mit Eltern, Schwestern und Freundinnen die Liebighöhe, die auf einer der früheren Bastionen angelegt war. Hier bot sich ihr zu jeder Jahreszeit ein köstlicher Rundblick über den Westen der Stadt. Von der Ziegelbastion im Osten genoss man den Blick auf die Dominsel mit ihren vielen Kirchen, aber auch auf die vielen Schiffe, die auf dem Strom entlang zogen. Im Winter dagegen bewunderte sie die Sprints und Eskapaden der Schlittschuhläufer. Jedoch ist nicht überliefert, inwiefern sie sich auch selbst sportlich betätigte. /3/
Mit sechs Jahren wurde Lina in die Höhere Töchterschule aufgenommen. Da sie begabt war, fiel ihr das Lernen nicht allzu schwer. Dafür fand sie den Unterricht anfangs oft langweilig und war in der ersten Zeit nicht besonders fleißig. Dagegen neigte sie wie manche ihrer Mitschülerinnen zu sentimentaler Träumerei. Unter jungen Mädchen waren damals das Verseschmieden und Klavierspielen stark in Mode. Lina versuchte sich in beidem, ohne jedoch besonders herauszuragen. Doch da sie immerhin gut bei Stimme war, durfte sie in der Breslauer Singakademie mitwirken.
Die Neigung zu Sentimentalem und zu schulischer Unlust schwand, als sie in die oberen Klassen kam; dort war der Unterricht um Etliches interessanter. Zwei gelehrte Rabbiner führten die Schülerinnen in Religion, Literatur und Geschichte des Judentums ein. Die Eltern wünschten, für ihre Tochter eine gediegene Bildung und vor allem die Festigung ihrer humanistischen Gesinnung. Mit nie erlahmendem Eifer verschlang Lina nun alles, was ihr aus Literatur und Geschichte in die Finger kam. In beidem sowie auch in den naturwissenschaftlichen Fächern zählte sie bald zu den Besten.
Von den Schriftstellerinnen hatten es ihr besonders Rahel Varnhagen von Ense (1771 – 1833), Dorothea Mendelssohn (1769 – 1839) und Henriette Herz (1785 – 1859) angetan. Immer wieder griff sie auch zu den Traktaten der Bettina von Arnim, an denen sie vor allem deren freigeistiges politisches Engagement bewunderte. Eines Tages bekam sie die Streitschrift in die Hände, in der Bettina vom hannoverschen König Ernst August I. (reg. 1837 – 1851) die Aufhebung des Berufsverbots gegen die „Göttinger Sieben“ gefordert hatte. Diese Professoren, der Staatsrechtler Wilhelm Eduard Albrecht, der Historiker Friedrich Christoph Dahlmann, der Orientalist Heinrich Ewald, die Germanistenbrüder Jacob und Wilhelm Grimm, der Literaturhistoriker Georg Gottfried Gervinus sowie der Physiker Wilhelm Eduard Weber hatten ihrerseits vergebens gegen die von ihm 1837 verfügte Aufhebung der liberalen Verfassung seines Königreiches protestiert. Lina war fest davon überzeugt dass Bettina mit ihrer Schrift den König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen (reg. 1840 – 1861) bewogen hatte, seine Landeskinder freizubekommen – er hatte die Dahlmann und Gebrüder Grimm an die Universität Bonn beziehungsweise die Akademie der Wissenschaften zu Berlin berufen.. /4/
1843 war Bettina von Arnim ein weiteres Mal politisch aktiv geworden. In einer weiteren Schrift dahingehend hatte sie sich dahingehen geäußert, dass es der Obrigkeit zukäme, für das Wohl seiner Untertanen, die in oft beispiellosem Elend lebten, zu sorgen. Ebenso gefiel der jungen Breslauerin die Art und Weise, mit der es Bettina verstanden hatte, ihre Schrift an der Zensur vorbei zu schleusen um eine breite Leserschaft zu erreichen.; sie hatte sie direkt dem König gewidmet hatte. Unter dem Titel „Dies Buch gehört dem König“ war sie für die Behörden tabuisiert. /5/
1844 hatte sich Bettina von Arnim in aller Öffentlichkeit mit den aufständischen schlesischen Webern solidarisiert. Sie hatte es für ihre Pflicht gehalten, die Armen im Glauben an den Wert der menschlichen Seele zu bestärken, damit diese, wie sie schrieb, „sich ermannen und dem Schicksal trotzen können“./4/ Als darauf dann noch derselbe König verlauten ließ, er wolle im Berliner Lustgarten einen Dom errichten, empfahl sie ihm, stattdessen lieber die Lasten der Armen lindern zu lassen.
Durch das Beispiel Bettinas und die väterliche Erziehung wurde Lina zu tieferem Eindringen in die Geschichte angeregt. Daraus wiederum ergab sich in ihrem Fühlen und Denken eine stärkere Hinwendung zu aufklärerischer Liberalität, Offenheit und Toleranz, was sich dann in stärkerer Opposition gegen politisch motivierte geistige Bevormundung offenbarte.
Doch für Freigeistiges konnte man sich nichts kaufen, und um so mehr lag den Eltern an der Entwicklung des Sinns ihrer Töchter für Wirtschaftlichkeit und familiäre Verantwortung. Sie achteten auf strenge Zeiteinteilung und bezogen die Mädchen konsequent in die häuslichen Arbeiten ein. So absolvierte Lina mit ihren Schwestern immer eine Woche lang den „Haushaltsdienst“, der sich auf alle Arbeiten in der Küche, am Nähtisch und im Waschkeller erstreckte. Die Mutter kontrollierte streng. Für das Musizieren mussten die frühen Morgenstunden genügen. Nur die Abende waren der Lektüre und kleinen schriftstellerischen Arbeiten vorbehalten, mitunter musste oft genug sogar die Nacht herhalten.
In dieser Atmosphäre erlebte Lina die aufrührerischen Stürme um das Jahr 1848. Schon zwei Jahre zuvor war das nicht allzu ferne Krakau zweimal zum Zentrum spontaner polnischer Aufstände geworden; nach deren Niederschlagung strömten viele Flüchtlingszüge nach und durch Schlesien.
Lina war immer zu finden, wo es auf Hilfe ankam. Im März 1847 wurde es auch in Breslau unruhig. Handwerker erhoben sich gegen zunehmende Teuerung und Verelendung. Manchem Lehrbuben in Vaters Fabrik mochte Lina eine Kleinigkeit zugesteckt haben.
Dann kam es im Frühjahr 1848 in Berlin zu Barrikadenkämpfen. Jeder Tag brachte nun aufregende Neuigkeiten – mal gute, mal schlechte. Verschreckt musste der König nachgeben und eine bürgerliche Regierungsmannschaft berufen - das von Camphausen geführte Kabinett. Die „Schlesische Chronik“ durfte nun offen freiheitliches Gedankengut verbreiten. Als ein neues demokratisches Blatt erschien die „Allgemeine Oder-Zeitung“, die aufmunternd von den Vorgängen im Königreich berichtete.
Mit Freuden erfuhr Lina, dass ihr Idol, Bettina von Arnim, jetzt vom König verlangte, doch einen Schritt weiterzugehen und ein Ministerium der Linken einzusetzen. Er selber solle sich zum Kaiser eines geeinten Vaterlandes ausrufen lassen – „vom Volk auf den Schild gehoben als Befreier,...