Leidensweg Lipödem
Michaela war als Kind zart gebaut. Sie war dünn, fast knochig. Der Hausarzt wollte sie sogar zur Kur schicken, damit sie ein wenig zunehmen sollte. Das änderte sich jedoch in der Pubertät. Sie entwickelte weibliche Formen und freute sich darüber. Doch die Freude währte nur ein oder zwei Jahre. Mit 18 Jahren war zwar Michaelas Oberkörper sehr gut proportioniert, aber die Beine wollten nicht dazu passen. Es schien, als gehörte der Unterkörper zu einer anderen, deutlich korpulenteren Frau.
Trug Michaela Blusen in der Größe 34 oder höchstens 36, benötigte sie bei Hosen erst 38, dann 40, und mit Mitte zwanzig passte sie auch in Größe 42 nicht mehr richtig hinein. Michaela ging viermal pro Woche ins Fitness-Studio, ernährte sich von Salat, Gemüse und Eiweiß-Shakes, doch der ersehnte Erfolg wollte sich nicht einstellen.
Während eine Freundin, die es mit dem Training viel lockerer anging, zügig abnahm, schienen Michaelas Beine im Gegenteil noch dicker zu werden. Ein Personal-Trainer versuchte sie zu beruhigen: Das käme eben vom Muskelaufbau. Doch Muskeln, das wusste sie, fühlen sich ganz anders an. Das Gewebe wirkte teigig, geschwollen, und immer häufiger waren ihre Oberschenkel voller blauer Flecken. Meist wusste Michaela gar nicht, wie die entstanden waren.
Irgendwann kamen auch noch Schmerzen hinzu. Es begann mit andauernden Spannungsgefühlen in den Beinen, die deutlich schlimmer wurden, wenn sie lange gestanden hatte. Manchmal schmerzten einfach die gesamten Beine. Wenn sie ihr Partner an den Beinen berührte, fauchte sie ihn unwillkürlich an, das würde ihr einfach wehtun, was er kaum verstehen konnte. So fest sei das wirklich nicht gewesen.
Sie entschloss sich zu einer Radikalkur: Zwei Wochen aß sie überhaupt nichts mehr, obwohl ihr viele Menschen davon abgeraten hatten. Gleichzeitig ging sie wie besessen ins Studio. Nach ein paar Wochen hatte sie wirklich einige Kilos verloren. Aber zufrieden war sie beileibe nicht. Sie hatte an den völlig falschen Stellen abgenommen! Im Gesicht wirke sie ausgemergelt, ihre Oberweite hatte sich verringert, doch die Beine waren praktisch unverändert und wirkten jetzt noch weniger passend als zuvor. Michaela resignierte, offenbar stimmte etwas mit ihrem Körper nicht.
Zum Glück schien sich ihr Mann, sie war mittlerweile verheiratet, nicht so sehr an ihrer Figur zu stören. Und das war gut so. Denn nach den zwei Schwangerschaften waren die Beine noch unförmiger geworden. Jetzt kamen Wellen und Knoten dazu, die sich unter der Haut wie Haselnüsse anfühlten. Michaela traute sich schon lange nicht mehr, Röcke anzuziehen und versuchte, ihre Figur so gut wie möglich zu kaschieren, da sie schon lange nicht mehr in Hosengröße 44 passte.
Am Tag vor ihrem vierzigsten Geburtstag schaute sie sich bewusst im Spiegel an. Es war das eingetreten, was sie immer hatte vermeiden wollen: Sie hatte genau die Figur ihrer Mutter!
Erbliche Vorbelastung: Bei vielen Frauen mit Lipödem sind Mutter und Großmutter ebenfalls betroffen.
Lipödem – meist nicht erkannt und falsch behandelt
Michaela war nicht undiszipliniert. Sie war auch nicht im eigentlichen Sinn »dick«. Sie litt unter einer Krankheit, einem Lipödem. Das Krankheitsbild ist keineswegs selten. Allein in Deutschland leiden Millionen von Frauen darunter. Doch obwohl es so verbreitet ist, wird das Beschwerdebild meist erst spät und oft gar nicht erkannt. Den betroffenen Frauen wird erklärt, sie seien eben übergewichtig und sollten etwas dagegen tun. »Machen Sie Sport und nehmen Sie ab!« Diesen Rat können Frauen mit Lipödem schon bald nicht mehr hören.
Doch was bei Übergewicht hilft, ist beim Lipödem praktisch wirkungslos! Trotz schweißtreibender Stunden im Fitness-Studio und zermürbender Diäten erweisen sich die Polster an den Beinen als hartnäckig. Wenn überhaupt geht das Gewicht an den schlanken Körperregionen zurück. Manche Frauen ziehen es dann vor, lieber schwergewichtig als ungleichförmig zu sein.
Die richtige Diagnose erfolgt häufig wie nebenbei. Manchmal erwähnt es der Hausarzt, häufiger ein Venenspezialist (Phlebologe). Viele Frauen verbinden die Diagnose mit einer Hoffnung. Ist die Krankheit erst erkannt, wird doch etwas dagegen zu tun sein? Doch meist folgt Enttäuschung. Viel zu tun sei da nicht, heißt es. Lymphdrainage und Kompressionsstrümpfe seien eine Möglichkeit, aber wirklich helfen würde das nicht. Es sei so vielleicht möglich, Schlimmeres zu verhüten, lautet eine häufige Antwort.
Doch bei der konkreten Umsetzung wird es meist schwierig. Zwar erhalten viele Frauen Kompressionsstrümpfe verordnet, doch das Tragen erweist sich als mühsam. Der Strumpf zwickt und schneidet ein, und nach einer Weile landen viele teure Strümpfe im Schrank. Dagegen wird die manuelle Lymphdrainage von Betroffenen fast uneingeschränkt geschätzt. Nach so einer wohltuenden Massage lassen Spannungsschmerzen und Schwellungen in aller Regel nach. Doch am nächsten Tag – manchmal bereits nach Stunden – kehren die Beschwerden wieder zurück. Und bald tut sich eine weitere Schwierigkeit auf: Zwei oder drei Verordnungen für jeweils sechs Massagen wird der Hausarzt wohl ausstellen. Aber danach zeigt er sich zögerlich. Mehr könne er leider »wegen seines Budgets« nicht verordnen.
Schließlich kommt irgendwann die Sprache auf eine Operation. Das würde vielleicht helfen, vielleicht auch nicht, und wie lange das wirke, sei schwer zu sagen. Und außerdem sei das eine echte Operation mit echten Nebenwirkungen. Und von der Krankenkasse werde sie nicht übernommen.
Michaela erhielt die Diagnose von einem Venenspezialisten, den sie wegen ihrer Schmerzen aufsuchte. Nein, die Venen seien ganz in Ordnung. Es sei nur ein Lipödem. Erst einmal war sie erleichtert. Es lag also nicht an mangelnder Disziplin oder »Frustfraß«. Jetzt hatten die Beschwerden einen Namen! Dann sollte es auch eine Therapiemöglichkeit geben.
Sie erhielt Kompressionsstrümpfe, ging ein oder zweimal pro Woche zur Lymphdrainage und intensivierte den Sport. Anfangs schien es tatsächlich etwas besser zu werden, aber nach einigen Monaten wurde Michaela skeptischer. Die Spannungsschmerzen waren wohl weniger, solange sie die Strümpfe trug. Im Sommer war das eine echte Überwindung!
Aber waren ihre Beine wirklich schlanker geworden? In dieser Hinsicht waren die Fortschritte kaum wahrnehmbar. Sie dachte daran, die Lymphdrainagen zu intensivieren, doch ihr Arzt winkte ab. Mehr als sechs Massagen im Quartal könne er ihr nicht verordnen. Es sei sowieso strittig, ob diese Massagen überhaupt etwas brächten.
Michaela suchte im Internet nach Hilfe. Doch das, was sie dort lesen konnte, war enttäuschend. Viele frustrierte Leidensgenossinnen und wenig praktische Hilfe. Und eine Operation, das war ihr klar, das kam für sie nur als Allerletztes in Frage.
Worum geht es?
In diesem Buch sollen folgende Fragen beantwortet werden:
Was ist eigentlich ein Lipödem?
Wie entsteht es?
Wie ist der Verlauf?
Warum helfen weder Sport noch Diäten?
Warum zucken Ärzte häufig nur mit den Achseln?
Welche Therapieverfahren sind sinnlos?
Was hilft wirklich?
Was kann ich selbst dagegen tun?
Wie muss ich mich langfristig verhalten?
Schließlich soll noch auf zwei weitere Beschwerden eingegangen werden, die häufig gemeinsam mit dem Lipödem auftreten: Cellulite und merkwürdige Wassereinlagerungen (vor allem um die Augen und Finger), ohne dass sich hierfür ein Grund finden ließe.
14-Tage-Selbsthilfe
Zentral ist ein multimodales 14-Tage-Selbsthilfeprogramm, das Sie alleine zu Hause durchführen können. Nach meinem Wissen ist es das erste Programm seiner Art. Es kombiniert die wirksamsten Selbsthilfeverfahren zu einem kraftvollen Therapiepaket.
Scannen Sie hier:
www.weiss.de/lip/1
Internet, Interaktivität und Videos
In einem Buch lässt sich vieles ausführlich und detailliert darstellen. Manchmal ist jedoch ein Film anschaulicher. Daher finden Sie vielfach Hinweise auf Filme, in denen bestimmte Zusammenhänge nochmals erläuternd oder vertiefend im Internet dargestellt werden. Dazu können Sie einen QR-Code auf Ihrem Smartphone scannen oder eine Adresse in Ihren Computer eingeben.
Ebenso finden Sie Links, unter denen Sie zusätzliches Material, Hilfsmittel oder weitere neue Erkenntnisse erhalten.
Wie ist das Buch entstanden?
2007 erschien das erste Buch Lipödem & Cellulite. In den folgenden Jahren hatte ich Gelegenheit, mit meinem Team (Ärzte, Physiotherapeuten, Diätassistenten, Krankenschwestern und Arzthelferinnen) mehrere Tausend Frauen zu untersuchen und zu behandeln. Wir haben leichtere und schwere Fälle gesehen, ältere und junge Frauen und selbst Kinder, die bereits unter den Beschwerden litten. Viele Schicksale haben uns bewegt, und wir haben mit unseren Patientinnen nach Wegen gesucht, wie der Krankheitsverlauf aufgehalten oder sogar wieder rückläufig gemacht werden könnte.
Heute sind wir glücklich, dass es in den allermeisten Fällen möglich ist, Schmerzen, Schwellungen und auch den Umfang ohne Operation wirksam zu reduzieren sowie das Hautbild deutlich zu verbessern. Dies erfordert jedoch eine sehr konsequente Behandlung und vor allem eine strukturierte Selbsthilfe. Dadurch konnten unsere Patientinnen auf operative Eingriffe in aller Regel verzichten.
In diesem Buch möchte ich Sie daran teilhaben lassen, was wir in den letzten Jahren zusammen mit unseren Patientinnen lernen...