Mensch, beweg dich!
Uns Mitteleuropäern geht es heute materiell besser denn je. Wir genießen einen unglaublichen Wohlstand, an den wir uns gern gewöhnt haben. Von Tier-, Natur-, Klima-, Arten- und Landschaftsschutz haben wir alle schon viel gehört. Aber Ressourcenschonung, Umweltschutz und Energiewende hin oder her: Industrie und Politik predigen unbeirrt weiter den permanenten technischen „Fortschritt“, schrankenloses Wirtschaftswachstum und den damit einhergehenden Konsumismus, dem sich alles andere unterzuordnen hat. Wir sollen niemals zufrieden sein, sondern immer mehr und immer weiter kaufen, konsumieren, genießen, reisen … Mit der größten Selbstverständlichkeit und besten Gewissens, weil es ja der Konjunktur hilft und Arbeitsplätze sichert! Die meisten Menschen der Ersten Welt haben diese Ideologie in Form eines egoistischen Anspruchsdenkens so tief verinnerlicht, dass es ihnen kaum noch bewusst ist. Aber wir wissen doch längst: Unsere Lebensweise ist das Umweltproblem Nummer eins. Aus dem „Immer mehr“-Denken müssen wir aussteigen!
Schauen wir uns mal zu Hause um: Unsere Kühlschränke sind voll mit Lebensmitteln, und wir werfen einen großen Teil davon weg: „Datum abgelaufen, schlecht geworden …“ Klar. Kostet ja nicht die Welt: Vielfach landen Lebensmittel im Müll, weil sie nicht unser Überleben sichern müssen, wie das etwa in Ländern der Dritten Welt der Fall ist. Der Wert ist irgendwo unterwegs verloren gegangen. Wir können es uns – vordergründig gesehen – eben leisten. Wer Geld hat, lebt nun mal so: voller Kühlschrank, Auto, Handy, Laptop, Flachbildfernseher, Mäh- und Staubsaugroboter und andere Elektronikspielereien immer vom neuesten Modell, mehrere Urlaubsreisen jährlich und eine große Wohnung oder ein ganzes Haus für zwei Personen. Das ist toll und schick und für uns fast selbstverständlich. Dass wir so nebenbei immer mehr zu Energie- und Rohstoffjunkies werden, ist offensichtlich vielen egal. Und dass uns all der Komfort, dessen Aufrechterhaltung viel Zeit kostet, von uns selbst und allem eigentlich Wichtigen ablenken könnte, auf diese Idee muss man erst einmal kommen! Neun von zehn Menschen würden, wenn sie das Geld hätten, nach diesem Stil leben, statt sich materiell zu bescheiden und daraus eine andere Art von Luxus zu schöpfen: den Luxus des „Weniger“.
Aus der Herde ausscheren
Das Verhalten des Menschen entspricht in der Regel dem der Gruppe oder Gesellschaft, die die Norm setzt. So folgen die meisten wie mit Scheuklappen der Herde und denken kaum über ihr Tun nach. Das kostet keine Kraft. Mit tausend Argumenten lässt sich das begründen und verteidigen. Etwa: Ich bin klein und schwach; was kann ich als Einzelner schon ausrichten? „Old habits die hard“, wie es so schön heißt: Alte Gewohnheiten sterben langsam. Mir geht es manchmal ähnlich. Ich vergesse innezuhalten: Halt, schau mal genau hin! Brauche ich das oder brauche ich das nicht? Muss ich das jetzt tun oder ist es auch okay, es zu lassen?
Wir können unsere Lebensweise nicht von jetzt auf gleich und hundertprozentig umstellen, weil wir eben so sind, wie wir sind. Außerdem sind nur ganz wenige Menschen in der Lage, sich zu ändern, obwohl viele um die Probleme in der Welt wissen. Es ist deshalb ratsam, wie der Neurologe Gerhard Roth meint, eine Sache nur in kleinen Schritten zu ändern. Alles auf einmal, das überfordere die Menschen. Aber immerhin sollte ich erkennen, in welchen Lebensbereichen ich der Herde folge und in welchen ich meinen eigenen Weg gehe, auf dem ich mich bewusst anders orientiere. Ein anderes Leben fängt mit anderem Denken an, mit Reflexion. Mein Buch soll Lust darauf machen, die scheinbar unabdingbaren Dinge des Alltags neu zu betrachten.
Prof. Gerhard Roth, Neurologe
Bewusst anders als der Mainstream zu leben, das wäre doch wirklich stark! Aus diesem Gedanken heraus und aus meinem 2012 erschienenen Buch Bewusst anders, in dem ich Begegnungen mit Menschen beschreibe, die mich geprägt haben und die mich vieles bewusst anders machen lassen, hat sich dieser Ratgeber entwickelt – oder besser gesagt dieser „Lustmacher“.
Das Mögliche tun – das Absolute im Sinn
Zuerst hatte ich eine gewisse Scheu davor, dieses Buch zu schreiben. „Bitte kein erhobener Zeigefinger“, dachte ich, und es gibt schon allzu viele Bücher, die einem sagen, was man tun und lassen soll. Ich wollte das Buch Bewusst anders leben nennen, denn darum geht es ja eigentlich. Ich will mit dem Buch etwas bewegen, indem ich Gedanken und Tipps aus meinen eigenen Erfahrungen entwickle. Es soll nicht abstrakt sein wie ein Lehrbuch und keinen absoluten Anspruch haben. Es soll auch meine Ratlosigkeit und mein Scheitern bei einigen Fragen wiedergeben. Das ist eigentlich der Kern. Wir haben das Buch später umbenannt, um klarzustellen, dass es nicht um eine subjektive Weltanschauung oder gar etwas Esoterisches geht. Denn diese Spur wäre falsch, weil es mir um das ganz Konkrete geht, um das, was wir real ändern können, und um die Begründung, warum wir es tun müssen.
Das Individuelle, vielleicht sogar Spirituelle, spielt da durchaus mit: meine innere Haltung, meine Überzeugung, mein Glaube. „Ein bisschen Spiritualität tut jedem gut“, sagte einmal ein Freund. Recht hat er. Ich gehe dabei stets von einem humanistischen und deshalb altruistisch orientierten Menschenbild aus, von der Verantwortung fürs Gemeinwohl, von der Überzeugung, dass wir nur in Sozialität überleben können und dass Solidarität die höchste Form des Miteinanders ist – und nicht eine hemmungslos ausgenutzte Macht und ausgelebte Gier. Unser Respekt, unsere Haltung zur Welt und den Mitmenschen äußert sich in nichts so wirksam wie in dem, was wir täglich tun: was wir denken, wie wir essen, wie wir uns kleiden, wie wir uns fortbewegen, wie wir wohnen, wie wir mit Ressourcen umgehen, wie und wo wir sparen, wie wir investieren und wie wir uns ehrenamtlich engagieren … Ein kultivierter Mensch ist für mich einer, der selbstbewusst sein Handeln in größeren Zusammenhängen sehen kann. Die Erkenntnisse, um die es mir geht, sind nicht neu. Wenn wir Bücher lesen – wie etwa die von Eugen Drewermann aus den 80er-Jahren – erkennen wir, dass seitdem eigentlich alles noch schlimmer geworden ist. Aber die Einsichten müssen wohl laufend wiederholt und an die Verhältnisse der jeweiligen Zeit angepasst formuliert werden, damit wir sie in der Gegenwart verstehen.
Eugen Drewermann, Autor
Wir leben in einer Reproduktionswelt, und viele von uns sind nur mit einem Reproduktionsgeist ausgestattet. Viele gestalten ihr Leben nicht, denn gestalten hieße verändern, Liebgewonnenes ablegen, Eigenständiges machen, nicht kopieren, ins Risiko gehen, vorangehen. Ich frage mich: Warum reproduzieren wir die immer gleichen Fehler? Meine vorliegende Gebrauchsanweisung für ein nachhaltiges Leben, die wir Nachhaltig leben für alle auch in Anlehnung an den basic-Slogan bio für alle genannt haben, soll Ihnen helfen, über den Tellerrand hinauszublicken, über den Konformismus, über die Vorurteile, über die eingefahrenen und unreflektierten Wertvorstellungen, die hinter unserem Tun stecken. Wir müssen uns selbstkritisch betrachten.
Wenn wir 20 Prozent, vielleicht eines Tages 50 Prozent unseres Lebens verändern, ist das gut. Wenn wir dabei froher sind als zuvor, ist die Übung gelungen. Wir Ökos, zu denen ich mich zähle und zu denen ich gezählt werde, werden immer an 100 Prozent gemessen; am Absoluten. Wenn ich etwas Unökologisches tue, zum Beispiel mit dem Auto statt mit der Bahn reise, was selten vorkommt, oder mal in der Not etwas nicht biologisch Erzeugtes esse, werde ich gleich angegriffen, vor allem von Nicht-Ökos. Diese suchen auch immer nach Formulierungen in meinen Schriften oder Reden, mit denen sie meine „wahre“ Gesinnung beweisen können. Ich habe leider einmal gesagt, dass „Bio per se nicht besser“ sei als konventionell Erzeugtes, meinte aber nur einen Teilaspekt, nämlich die Nährstoffe in Bio-Lebensmitteln. Im Nu schrieben die Zeitungen, selbst Schweisfurth gebe zu, dass bio nicht besser sei. Obacht! Die Geier lauern überall, und die Industrie setzt viel Geld und ihre Lobbyisten ein, um ihre Doktrin zu verteidigen.
Klar: Ich kann in der Praxis nicht zu 100 Prozent ökologisch leben. Auch ich fahre nicht nur mit Bus, Bahn und Rad. Ich habe ein (altes) Auto und reise, wenn es sich gar nicht vermeiden lässt, auch mit dem Flugzeug. Doch ich bemühe mich bewusst, anders zu reisen. Wir Menschen verbrauchen nun einmal, wir sind dazu verdammt; nur ist die Frage, wie nachhaltig das geschieht.
Ich denke, wir alle müssen Jahr für Jahr ein Stückchen besser werden. Ökologischer. Es ist ein biblischer Auftrag, „Gott ähnlicher zu werden“, und genau das ist damit gemeint: Er lässt uns Zeit, und das „ähnlicher“ heißt, dass wir nie perfekt wie Gott werden können. „Verschlechtern“ dürfen wir uns höchstens materiell.
Vielen dient der Absolutheitsanspruch als wohlfeile Ausrede. Sie denken: Weil das Ideal sowieso nicht zu erreichen ist, brauche ich gar nicht erst bei mir im Kleinen anzufangen. Grundfalsch! Die reale Welt besteht aus Kleinigkeiten! Jedes kleine Herunterfahren ist eine Verbesserung! Man sollte das also nicht zu eng sehen. Natürlich freue ich mich, wenn jemand zwar Porsche, Audi oder sonst was fährt, aber immerhin Bio-Lebensmittel einkauft. Oder einer fliegt in den Urlaub, hat sich aber ein Holzhaus gebaut. Oder jemand fährt jede Woche in...