Kindheit und Jugend in Wien
(1878–1907)
[…] ich fühle beinahe täglich mit Dankbarkeit, wieviel ich an Gutem und Schönem von zuhaus mitbekommen habe. Letzten Endes ist es noch heute der Boden, auf dem ich stehe […].[1]
Mitten in die Regierungszeit Kaiser Franz Josephs hinein wird Elise Meitner am 17. November 1878 als drittes von acht Kindern des Hof- und Gerichtsadvokaten Philipp Meitner und seiner Frau Hedwig, geb. Skovran, in Wien geboren. Durch das Versehen eines Beamten, ungefähr zehn Jahre später, der bei Elise Meitners Geburtsdatum die Ziffer 1 vergisst, wird der 7. November 1878 zu ihrem amtlichen Geburtstag. An diesem Tag wurde elf Jahre früher die Entdeckerin des Radiums, Marie Curie-Sklodowska, geboren.
Lise Meitner wächst in einem liberalen, intellektuellen, von Musik und Kultur geprägten Elternhaus auf. Zeit ihres Lebens ist ihre Bindung an die Familie innig und stark. Noch im hohen Alter erinnert sie sich immer wieder an die ungewöhnliche Güte, die sie von ihren Eltern erfahren hat, und ist dankbar für die außergewöhnlich stimulierende intellektuelle Atmosphäre, in der sie und ihre Schwestern und Brüder aufwuchsen.[2]
Die Vorfahren von Lise Meitners Vater, Dr. Philipp Meitner, stammen aus dem mährischen Dorf Meiethein.[3] Als im 18. Jahrhundert unter Kaiser Joseph II. für alle Bürger der österreichisch-ungarischen Monarchie das Führen von Familiennamen angeordnet wird, nennen sich die Ururgroßeltern Lise Meitners «Meietheiner», das allmählich zu «Meitheiner» dann zu «Meithner» und schließlich zu «Meitner» wird. Der Großvater väterlicherseits, Moriz Meitner, genannt Reb Meitner (1803/04–1872/73), heiratet um 1835 Charlotte Löwy, geb. Kohn (1811–1896). Die junge Witwe mit zwei kleinen Söhnen besitzt eine Landwirtschaft mit kleinem Grundbesitz in Woechowitz, einem kleinen Ort in der Nähe von Mährisch-Weisskirchen, wo um 1840 Philipp Meitner geboren wird. Noch im Jahre 1915 gibt Lise Meitner auf ihrem Meldezettel als «Ursprungsland» Woechowitz in Mähren an, obwohl sie in Wien geboren ist.[4]
Gisela Lion, die ältere Schwester Lise Meitners, beschreibt die Großmutter Charlotte als diszipliniert, selbstbewusst, heiter und elegant. Den Großvater Moriz Meitner schildert sie als edlen, großzügigen Mann, der jeden Freitag vor den Türen der armen Juden im Dorf einen Laib Brot niederlegt. Er tut dies nach Einbruch der Dunkelheit, weil er nicht gesehen werden will.[5]
Die Großeltern mütterlicherseits stammen aus der Slowakei. Der Großvater Bernhard Skovran (1821–1872) wandert aus Russland in die Slowakei ein und heiratet um 1843 die dort geborene Julie Reinitz (um 1825–1909). Ihr jüngstes Kind ist Hedwig (1850–1924), die Mutter Lise Meitners. Sie ist ein besonders aufgewecktes und intelligentes Kind, das bereits mit fünf Jahren von einem Hauslehrer Lesen und Schreiben lernt. Kindheit und Jugend verbringt sie in Wien, wo ihr wohlhabender Vater zwei Häuser besitzt. Bernhard Skovran ist Heereslieferant für Gewehre und handelt mit Rebstöcken für Tokajer Wein.[6] Hedwig, das Lieblingskind des Vaters, macht bereits in jungen Jahren die Buchhaltung. Sie leidet allerdings unter der unglücklichen Ehe ihrer Eltern. In späteren Jahren erinnert sich Lise Meitners Mutter nur ungern an ihre Jugend und spricht mit ihren Kindern nicht viel über diese Zeit. «Die guten Tage kamen erst mit Papa»[7], berichtet ihre Tochter Gisela später. Sie beschreibt ihre Mutter als übermütigen, glücklichen und reiselustigen Menschen: «Sie trug vormittags kleine weiße Spitzenhäubchen mit bunten Maschen und schöne helle Kleider mit dem Schlüsselbund am Gürtel […]. Es gab immer ein großes Hallo von uns Kindern, wenn Vater die Mutter auf den Arm nahm und in der ganzen Wohnung herumtrug, wobei wir um sie herumsprangen. […] Mutter war mit allem, was sie zu tragen hatte, eine glückliche Frau.»[8]
Über die Jugend des Vaters Philipp Meitner ist weniger bekannt. Von Kindheit an träumt er davon, dass der Mensch imstande sei zu fliegen. «Ich bin fest überzeugt, daß die Menschen einmal fliegen werden», sagt er immer wieder zu seinen Kindern. Den ersten Schauflug in Wien 1908 verfolgt er mit Tränen in den Augen.[9]
Lise Meitners Vater gehört zu den ersten Studenten jüdischer Abstammung, die an der Wiener Universität studieren und promovieren dürfen. Im Dezember 1862 erhält «Philipp Meitner aus Woechowitz stammend» das Recht, an der «Facultatis juridico-politicae» der Universität Wien zu studieren.[10] Philipp Meitner ist Freidenker, liberal, tolerant und aufgeschlossen für alle religiösen, philosophischen und politischen Zeitströmungen.[11] Er ist ein brillanter und leidenschaftlicher Schachspieler, zu seinen Partnern gehören auch Mitglieder des Kaiserhauses.
Im Jahr 1875 heiraten Dr. Philipp Meitner und Hedwig Skrovan. Im selben Jahr eröffnet Philipp Meitner eine Kanzlei nahe dem Prater in der Kaiser-Franz-Joseph-Straße 27 (heute Heinestraße 27). Hier in der Leopoldstadt leben viele bürgerliche, assimilierte jüdische Familien. Die Wohnung der Meitners ist der Kanzlei angeschlossen. Innerhalb von etwas mehr als zwei Jahren kommen hier die Töchter Gisela (1876), Auguste (1877) und Elise (1878) zur Welt. Gisela, genannt Illa, und Auguste, genannt Gustl, erhalten die Namen ihrer Urgroßmütter väterlicherseits, Gelle Meitner und Gitl Kohn. Zwei Jahre nach Lises Geburt wird der erste Sohn Moriz (Fritz) geboren. In den folgenden zehn Jahren folgen noch die Töchter Carola (Lola) und Frida und die Söhne Max und Walter.
Gisela Lion-Meitner erinnert sich später an die gemeinsam verbrachte Kinderzeit, irrt sich allerdings bei der Angabe der Wohnungsadresse: «Wir wohnten damals im Lloydhof in der Praterstrasse […]. In unserem Kinderzimmer standen zwei braune Kinderbetten mit grünen Netzen; eines dieser Betten hatte eine ‹Lade›, die am Abend herausgezogen wurde. In dieser Lade schlief Lise […]. Das Kinderzimmer ging in den Hof und hatte niemals Sonne, aber die Kanzleizimmerfenster sahen auf den Platz, wo jetzt die Fruchtbörse steht und hatten Abendsonne. In diese Zimmer gingen wir nach Kanzleischluß hinein und sahen die bunten Farben, die die Sonne aus den Glasprismen des Lusters zauberte; für uns war es zauberhaft, wie die Farbflecke sich an der Wand bewegten.»[12]
Wie ihre Geschwister wird auch Lise Meitner in das Geburtsbuch der israelitischen Kultusgemeinde eingetragen.[13] Trotzdem erziehen die Meitners ihre Kinder nicht im angestammten jüdischen, sondern wie viele assimilierte Juden des gehobenen Bürgertums im protestantischen Glauben. Lise Meitner und ihre Geschwister besuchen den evangelischen Religionsunterricht. Als Dreißigjährige tritt Lise Meitner am 29. September 1908 aus der israelitischen Kultusgemeinde aus[14] und lässt sich am selben Tag evangelisch taufen.[15] Im selben Jahr konvertieren ihre Schwestern Gisela und Carola zum Katholizismus.[16]
Philipp Meitner beschäftigt sich intensiv mit den vier älteren Kindern. «Bei den jüngeren haben leider Lise und ich uns erziehlich eingedrängt und obwohl es in bester Absicht geschah, wurden hiedurch die Eltern und die Kinder verkürzt»[17], schreibt später Gisela Lion-Meitner über diese Zeit. Der Vater unterrichtet seine Kinder selbst in Englisch, Französisch und Latein und überwacht das Klavierspiel, vor allem der drei älteren Töchter. Zweimal in der Woche kommt ein Klavierlehrer ins Haus. Gustl ist die begabteste; sie darf als erstes Mädchen mit besonderer Genehmigung die «Compositionsschule» am Wiener Konservatorium besuchen.[18] Aber auch Gisela und Lise werden gute Pianistinnen. Philipp Meitner besteht darauf, dass nicht nur seine Söhne, sondern auch die Töchter eine Berufsausbildung erhalten. Gisela wird Ärztin, Auguste Pianistin und Komponistin, Frida Mathematikerin. Von Carola Meitner ist nur bekannt, dass sie «Künstlerin» war.
Auch in gesundheitlichen Fragen denkt Philipp Meitner fortschrittlich; so setzt er zur Behandlung von fiebrigen Erkrankungen seiner Kinder das damals noch selten gebräuchliche Chinin ein. Die Töchter der Familie Meitner gehören auf Wunsch des Vaters zu den ersten Mädchen in Wien, die meistens «ungeschnürt» sind, also kein Mieder tragen. Zu dieser Zeit ist es noch üblich, dass Mädchen aus dem Bürgertum von dreizehn Jahren an eine geschnürte Taille tragen.[19]
Philipp Meitner konfrontiert seine Kinder von früher Jugend an mit dem politischen Geschehen. Lise Meitner bewahrt dieses ausgeprägte politische Interesse ihr Leben lang. Mein bewusstes Erleben verdanke ich vorallem meinem politisch sehr interessierten Vater, […] der mir schon als junges Mädchen die grosse Bedeutung politischer Probleme klar zu machen versucht hat.[20] Als Erwachsene bedauert sie immer wieder, dass ihr historischer Schulunterricht sehr dürftig war. Bei uns endete das 19. Jahrhundert mehr oder weniger mit dem Wiener Kongreß. Was darüber war, war von Übel.[21]
In der Familie und unter den Geschwistern spielt Lise Meitner eine besondere Rolle. Sie ist die kleinste und zarteste; ihr Spitzname ist «Wutzerl», was im Wienerischen «ein winziges Stückchen» bedeutet.[22]...