Der Mensch
Ich möchte die Menschen glücklich machen mit meiner Trompete! … Sie ist meine Geliebte, und sie liebt mich … Ich bin glücklich, wenn ich meine Trompete spielen kann, und fühle mich stark. Es ist das Leben selbst, das ich ausdrücken möchte, das Leben und die einfachen schönen Dinge des Lebens … Für mich ist die Musik so notwendig wie die Luft, die ich einatme. Wenn ich singe oder meine Trompete spiele, so ist es für mich nicht anders, als wenn ich eine Rede hielte, die Zeitung läse oder eine Liebeserklärung machte …[1]
Musik beginnt mit dem Schlag des menschlichen Herzens und dem Klang der menschlichen Stimme. Aus dem Herzschlag entstehen Puls, Beat, Rhythmus. Die Stimme erzeugt Klänge, Melodien.
Louis Armstrong war als Mensch und Musiker immer den ursprünglichen, «primitiven» Kräften der menschlichen Natur verbunden. Vergleichbar der schwarzafrikanischen ganzheitlichen Kunst- und Lebensauffassung vereinigte Louis Armstrong in den Wurzeln seiner Persönlichkeit: Expressivität der Stimme, Virtuosität des Instruments, Kommunikationsfähigkeit des Entertainers.
Oh, yeah! war nach Auskunft seiner Mutter angeblich seine erste Lebensäußerung.[2] Oh für die Ehrfurcht und das Erstaunen vor dem Wunder Leben, yeah als Äußerung positiver Kraft des Denkens und Fühlens. Auch der französische Jazzforscher Hugues Panassié schreibt in seinem Buch über Louis Armstrong: «Der wärmste und freundschaftlichste Ton, der auf der Welt existiert, ist, Louis Armstrong sagen zu hören: Yeah!»[3]
Louis Armstrong ist eine der bekanntesten und beliebtesten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Seine unverwechselbare, raue Stimme ist Millionen Menschen bekannt. Der Name Louis Armstrong ist für viele förmlich identisch mit der Vorstellung vom Wesen der Jazzmusik.
Louis Armstrong wird von seinen Musikerkollegen, seinen Angehörigen und Bekannten, seinen unzähligen Fans in aller Welt, aber auch von seinen Kritikern als warmherzig, gutmütig, rücksichtsvoll und friedfertig bezeichnet. Man kann seine Lebenseinstellung und sein Verhalten unkonfessionell als christlich bezeichnen: lieben und geliebt werden, in jedem Menschen den Bruder zu suchen.
Louis Armstrong war immer verbindlich, von Natur aus ein geborener Diplomat, the «Real Ambassador Of Peace And Love», der guten Willen und gute Musik wie eine Botschaft zu verbreiten suchte.
Mann, sagte er, wir haben den guten Jazz nie verändert. – Die Leute stimmen gerade jetzt damit überein. Das moderne Zeug zählt einfach nicht. Diese Jazzmusiker (cats) spielen gerade nur Übungen … Sie haben keine Seele … Die Musik muss aus dem Herzen kommen. Warum die Melodie verändern? Es sind keine Fehler darin.[4]
Louis Armstrong war überhaupt ein Kommunikationsgenie. Sein Verhältnis zum Publikum war immer sehr innig und intensiv. Nie hat Armstrong Fans oder Autogrammjäger abgewimmelt. Auf dem Weg zum Zahnarzt in New York entdeckte ihn einmal ein kleiner Junge: «Da ist Satchmo!» (von Satchelmouth = Mund so groß wie eine Tasche). Sofort versammelte sich eine Menschentraube um ihn, und er konnte nicht mehr aufhören, Autogramme zu geben.[5]
Niemand wurde von Armstrong ausgeschlossen. Seine ehrliche, unmittelbare Verhaltensweise ließ ihn auch in Deutschland viele Freunde finden. Das war nach dem absoluten Verbot der «Niggermusik» Jazz durch die Nazis kaum vorauszusehen, lässt sich aber durch das heimliche Kurzwellenhören und das kaschierte Jazzspiel der Tanzorchester in den dreißiger und vierziger Jahren erklären. Der Nachholbedarf an Jazzmusik war in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg sehr stark. – Humorvoll wendet Armstrong sich nach einer Fernsehsendung mit den «All Stars» in New York 1965 an die Berliner Bevölkerung: Grüß mir all die Fans, die ich in Deutschland habe, und sag ihnen, wenn ich komme, sollen sie Sauerkraut und Wurst bereithalten![6]
Louis Armstrong war von nahezu unerschöpflicher Energie. Für Musik, für seine Trompete ließ er schon als Kind alles stehen und liegen. Er trug tagsüber Zeitungen oder Kohlen aus und spielte abends in «Honky Tonks»[7]. Als junger Mann in Chicago machte er morgens im Studio Aufnahmen, spielte nachmittags im Theater «Vendome», abends im «Sunset Café», oft bis vier Uhr morgens. Er hatte sein Leben lang kaum Zeit zum Ausruhen, auch später nicht in seinem Haus in Corona bei New York. Er brachte Verständnis für alle möglichen menschlichen Schwächen auf, für menschliches Elend, das er selbst in den ärmsten Slums von New Orleans erfahren hatte, nur nicht für Faulheit und Bequemlichkeit. In Nashville sagte er einmal zu jungen Musikern: The Lord loves the poor, but not the poor and lazy.[8] (Der Herr liebt die Armen, aber nicht die Armen und Faulen.)
Louis Armstrongs Charakterzüge Schüchternheit und Unsicherheit werden besonders von dem Armstrong-Biographen J.L. Collier betont. Er begründet seine Auffassung mit zwei grundlegenden und schwerwiegenden Bedingungen, die das Wesen Armstrongs bereits in dessen Kindheit geformt haben: er war schwarz, er war vaterlos. Collier behauptet, dass diese Bedingungen Armstrongs gesamtes Leben geprägt hätten und dass er darum nie ganz selbständig geworden sei, um entsprechend bestimmt Autoritäten gegenüber aufzutreten oder sich im Wettbewerb mit anderen Musikern durchzusetzen.[9]
Die diskriminierenden Bedingungen für schwarze Menschen in den USA sind von der weißen Gesellschaft geschaffen worden. Man muss «white, Anglo-Saxon and protestant» sein, um zur ersten menschlichen und gesellschaftlichen Garnitur gehören zu können. Louis Armstrong hat sich unter Einsatz all seiner Kräfte aus dem niedrigsten Negro-Slum, aus «bestialischer Existenz», aus einer «Höllenecke»[10] zum Leben und Überleben und zu einer großen musikalischen Persönlichkeit durchgekämpft, die anfängliche Schüchternheit eines Halbwaisen überwunden und später unbekümmert und spontan vor Königen und Staatsmännern in aller Welt gespielt. Er hat nie von sich aus angegriffen, hat sich aber sehr wohl verteidigt, wenn er angegriffen wurde. Dan Morgenstern, Herausgeber der Zeitschrift «Downbeat» und Direktor des «Institute For Jazz Studies» der Rutgers University, New Jersey, kannte Armstrong 23 Jahre lang, zunächst als Fan, dann als Jazzkritiker und Freund. Er kann Colliers These von Armstrongs tief verwurzelter Unsicherheit nicht bestätigen, da Collier, wie Morgenstern meint, einseitig psychologisierende Quellenforschung betreibt.[11]
Ein eklatantes Beispiel für Mut, Selbstsicherheit und seelische Energie ist Armstrongs Auftritt 1931 in den «Suburban Gardens» von New Orleans. Über die Canal Street war ein Banner mit der Aufschrift: «Welcome To Louis Armstrong, The King Of Perdido» gespannt. 5000 weiße Leute waren in den «Suburban Gardens» versammelt, mehr als 10000 außerhalb auf dem Weg, etwa 50000 warteten am Radiogerät zu Hause. «Louis Armstrong And His Orchestra» waren bereit, die Show mit der Erkennungsmelodie When It’s Sleepy Time Down South zu beginnen, als der Radioansager mit den üblichen Worten begann: «Are you listening? This is ‹Suburban Gardens›!» und dann fortfuhr: «I havn’t got the heart to announce that nigger!» (Ich habe nicht den Mut, diesen Nigger anzusagen!) Nach einer Schrecksekunde nahm Armstrong die Situation selbstsicher in die Hand. Er sagte zur Band: Give me a loud one in Bb flat and hold it! (Gebt mir ein lautes B und haltet es!) Armstrong trat hinter dem Vorhang hervor, mit der Trompete in der Hand, und erwartete, ausgebuht zu werden. – Eine endlose Ovation empfing ihn. Die Weißen in der Nähe der Bühne riefen: «Louis, Louis!» Der Bann war gebrochen; das Konzert fand statt. Louis’ menschliche Größe und seelische Energie hatten den aufkommenden Rassenwahn überwunden.[12] Auf diese spektakuläre Art sprach zum ersten Mal ein Schwarzer in einer Rundfunkanstalt des Südens.[13]
Der Trompeter Rex Stewart aus dem «Fletcher Henderson Orchestra», der ein feuriger Bewunderer und Imitator Armstrongs war, beschreibt ihn als großzügig und zugleich bescheiden. Armstrong kaufte für einen jungen Musiker eine Trompete oder bezahlte für einen alten Musiker die Rente, ohne darüber zu sprechen. Louis konnte ausbrechen wie ein Vulkan, aber für sein Publikum war er immer der liebenswerte, freundlich grinsende, stürmisch blasende, Augen rollende Hello-Dolly-Kommunikationstyp: Louis der Große.[14]
Wer das Energie- und Humorbündel Louis Armstrong nach Auftritten hinter der Bühne gesehen hat, glaubte allerdings, den großen Satchmo nicht mehr wiedererkennen zu können. Äußerste Kraft und Anstrengung waren für das geliebte Publikum verbraucht worden. Da saß nur ein müder, aber trotzdem nie unfreundlicher oder arroganter Armstrong.[15]
Ein besonderer Aspekt in Armstrongs Persönlichkeit war sein umwerfender, ansteckender, explosiver Humor. Der Produzent Edward R. Murrow setzte den ersten abendfüllenden Dokumentarfilm (1957) über einen Jazzmusiker von internationaler Bedeutung, nämlich «Satchmo The Great», in einen weitgreifenden humorvollen Kontext: «Hannibal überquerte die Alpen 218 vor Christus mit 37 Elefanten und 12000 Pferden. Louis Armstrong überquerte die Alpen in der Mitte des 20. Jahrhunderts mit einer Trompete und fünf Musikern.»[16] Bei der friedlichen...