I. Die Debatte um den Realismus
Maxim Gorki – Die Fantasie als Produktivkraft und ihre Eigentümer
Über sowjetische Literatur, 1934
„Das Hauptthema der europäischen und der russischen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts ist die Persönlichkeit in ihrem Gegensatz zur Gesellschaft, zum Staat und zur Natur. Der Hauptgrund, der die Persönlichkeit veranlaßte, sich gegen die bürgerliche Gesellschaft aufzulehnen, ist eine eigenartige, den Klassenideen und Lebenstraditionen widersprechende Konzentration an negativen Eindrücken. Die Persönlichkeit spürte sehr wohl, daß diese Eindrücke einen Druck auf sie ausüben und ihre Entfaltung hemmen, aber sie begriff nur unklar die eigene Verantwortung für ihre Banalität, die Gemeinheit und den verbrecherischen Charakter der Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft. Jonathan Swift steht für ganz Europa, doch die europäische Bourgeoisie glaubte, seine Satire richte sich nur gegen England. Überhaupt war sich die rebellierende Persönlichkeit bei der Kritik am Leben ihrer Gesellschaft selten und nur sehr mangelhaft ihrer eigenen Verantwortung für die schändliche Praxis der Gesellschaft bewußt. Und noch seltener war ein tiefes und richtiges Verständnis für die Bedeutung der sozialökonomischen Ursachen das Grundmotiv ihrer Kritik an der bestehenden Ordnung; meistens basierte die Kritik entweder auf einem Gefühl der Hoffnungslosigkeit der eigenen Existenz in dem engen, eisernen Käfig des Kapitalismus oder auf dem Bestreben, sich für die Mißerfolge des Lebens, für alle Demütigungen zu rächen. Und wenn sich die Persönlichkeit dem arbeitenden Volke zuwandte, so tat sie das gewiß nicht den Interessen der Masse zuliebe, sondern in der Hoffnung, daß die Arbeiterklasse ihr nach der Zerschlagung der bürgerlichen Gesellschaft Gedanken- und Handlungsfreiheit garantieren würde. Ich wiederhole: Das grundlegende und wichtigste Thema der vorrevolutionären Literatur ist das Drama des Menschen, dem das Leben zu eng erscheint, der sich überflüssig in der Gesellschaft fühlt, einen bequemen Platz sucht, ihn jedoch nicht findet und infolgedessen leidet und zugrunde geht, indem er sich entweder mit der ihm feindlichen Gesellschaft aussöhnt oder aber mit Trunksucht oder Selbstmord endet. […]
Der kritische Realismus – das müssen wir wissen – entstand als individuelles Schaffen ‚überflüssiger Menschen‘, die zum Lebenskampf unfähig waren, keinen Platz im Leben fanden, mehr oder weniger deutlich die Ziellosigkeit ihres persönlichen Lebens erkannten, aber diese Ziellosigkeit nur als Sinnlosigkeit aller sozialen Erscheinungen des gesamten historischen Prozesses auffaßten.
Ohne die gewaltige Leistung des kritischen Realismus leugnen zu wollen und bei aller Wertschätzung seiner formalen Errungenschaften in der Kunst der Wortmalerei, müssen wir doch begreifen, daß wir diesen Realismus nur brauchen, um die Überreste der Vergangenheit darzustellen, um sie zu bekämpfen und auszumerzen.
Aber diese Form des Realismus hat der Erziehung einer sozialistischen Individualität nicht gedient und kann ihr nicht dienen, denn sie kritisierte alles und bejahte nichts, oder aber sie kehrte schlimmstenfalls zur Bejahung dessen zurück, was sie bereits negiert hatte. […]
Der sozialistische Realismus bejaht das Dasein als Handeln, als schöpferische Tätigkeit, deren Ziel die ständige Entwicklung der wertvollsten individuellen Fähigkeiten des Menschen für den Sieg über die Naturkräfte ist.“5
Wie eine Nachricht aus einer sehr fernen Welt liest sich dieser kurze Ausschnitt aus der Rede von Maxim Gorki, die er auf dem „1. Allunionskongreß der Sowjetschriftsteller“ 1934 in Moskau gehalten hat. Im Zentrum des Kongresses stand die Untersuchung der Frage, welche Funktionen Schriftsteller und Literatur beim Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft haben können. Die Teilnehmer kamen aus allen Teilen der Sowjetunion, aber auch aus dem westlichen Europa. Louis Aragon, Klaus Mann, Ernst Toller, André Malraux und Wieland Herzfelde, um nur einige zu nennen, waren ebenso vertreten, wie Fjodor Gladkow, Ilja Ehrenburg, Isaak Babel oder Wiktor Schklowski. In 26 Sitzungen wurden in teilweise sehr langen Vorträgen sowohl eine Bestandsaufnahme der aktuellen Literatur als auch konkrete Forderungen an die Schriftsteller formuliert. Bestimmend für alle Beiträge war die Frage nach dem Realismus, bei dem zum ersten Mal zwischen einem bürgerlichen und einem sozialistischen Realismus unterschieden wurde.
Am Beginn einer solchen materialistischen Ästhetik steht ein kurzer Kommentar von Friedrich Engels, den er in einem Brief an Margarete Harkness formuliert hat. Realismus hat nicht nur die Wahrheit der Details zu schildern, sondern eine „wahrheitsgemäße“ Reproduktion typischer Charaktere unter typischen Umständen zu sein. Dabei sollten folgende Themen behandelt werden: „rebellische Auflehnung der Arbeiterklasse gegen das Milieu der Unterdrückung, das sie umgibt, ihre Versuche – konvulsivisch, halbbewußt oder bewußt –, ihre Stellung als menschliche Wesen wiederzuerlangen.“6 Damit ist die doppelte Aufforderung eines sozialistischen Realismus bestimmt: Das Detail soll nicht in einer Kette schöner und wahrheitsgetreuer Realismen erscheinen, sondern im Detail soll der Zusammenhang sichtbar werden. Das Detail ist konkret, da in seinen Abhängigkeiten erkannt, und nicht das Abstrakte des isolierten Faktischen einer unverstandenen Realität. Und zum Zweiten sollen nicht irgendwelche Fakten des Lebens geschildert werden, die dem Autor oder seinem Publikum gerade als unterhaltsam erscheinen, sondern die Auswahl wird bestimmt durch die prägenden Widersprüche der Gesellschaft. Pointiert gesagt, bedeutet Realismus hier die Darstellung der konkreten Widersprüche in einer Klassengesellschaft.
Der bürgerliche oder kritische Realismus ist von diesen Forderungen weit entfernt und doch wird ihm von den Rednern eine wichtige Rolle beim Kampf der bürgerlichen Klasse gegen den Adel zuerkannt. Zugleich wird aber auch bemerkt, dass mit dem Aufstieg des Bürgertums zur herrschenden Klasse im Kapitalismus dessen kritischer Realismus in die Phase der Reaktion eintritt. Der bürgerliche Realismus erstarrt in der Konvention, die nur noch als schöner Schein für eine zynische Realpolitik taugt. Kunst verklärt nun, wie schon zuvor im Feudalismus, die schlechte Wirklichkeit. Gegen diesen affirmativen Realismus wenden sich innerhalb der bürgerlichen Kultur die Avantgarden. In fast allen Beiträgen wird auf die Vor- und Nachteile dieser Rettungsversuche einer kritischen Kunst innerhalb des weiterbestehenden Systems des Kapitalismus eingegangen.
Dabei sind sich die Analysen weitestgehend einig, dass der Kampf der Kunst, der im real existierenden Kapitalismus geführt werden muss, immenser Anstrengungen bedarf, um die ästhetischen Methoden und Formen entwickeln zu können. Zugleich wird jedoch die Tendenz dieser Rettungsversuche bemerkt. Sie geraten aufgrund der einseitigen Betonung der formalen Mittel und der Abwertung der inhaltlichen Seite allzu oft in die Sackgassen des Formalismus oder der Dekadenz. Die formalen Experimente der Avantgarden erscheinen den Vertretern des neuen, sozialistischen Realismus wie ein Rückzug aus der Realität. Die Überbetonung der Formfrage ist für sie der paradoxe Versuch, im Inneren der bürgerlichen Seele eine Revolution anzetteln zu wollen, die in den realen Produktions- und Eigentumsverhältnissen niemand zu denken wagt. Das Urteil fällt entsprechend scharf aus: Die künstlerischen Versuche, die sich mit Formfragen beschäftigen, ohne die Frage des Klassenbewusstseins zu stellen, sind dazu verurteilt, formale Spielereien zu bleiben. Als solche sind sie, auch wenn sie die bürgerlichen Kunstgewohnheiten provozieren, affirmativ zur kapitalistischen Gesellschaft. Avantgardekunst vertritt gerade in ihren gelungensten Experimenten zwangsläufig die Klasseninteressen der Besitzenden, denn an die Stelle der Aufklärung, die zu einem revolutionären Denken führt, tritt die Verschleierung der Interessen durch komplexe ästhetische Ereignisse, und an die Stelle der Emanzipation tritt die Feier des unternehmerischen Egoismus durch die Affirmation seines verfeinerten Kognitionsvermögens. Die Provokation des individuellen Geschmacks ist die stärkste Bestätigung des Systems, das solche Provokationen erlaubt.
In dieser Kritik formuliert sich schon 1934 eine Beobachtung, die erst heute wieder als ein Problem erkannt wird. Unter dem Namen der Künstlerkritik werden seit einigen Jahren die Versuche aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert zusammengefasst, die aus dem Inneren der kapitalistischen Wirtschaft eine Kritik an deren zwangsläufiger Entfremdung üben wollten. Genau diese Bewegung führt dann in der Postmoderne dazu, dass das Konzept der Künstlerkritik erlahmt, weil es Entfremdung nicht als Folge falscher ökonomischer Verhältnisse denkt, sondern als individuelles Problem darstellt. Entfremdung wird von einem Begriff der Ausbeutung zu einer Einschränkung des bürgerlichen Gefühls. Die...