Wolfgang Engler
Es geht (wieder) um den Realismus
Die Zersplitterung des Sozialen und ihre Überwindung
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„Am Ufer eines breiten Stromes, oder vielleicht auch am Abhang eines steilen Berges, steht eine Reihe von Statuen. Sie sind aus Marmor. Sie können ihre Glieder nicht bewegen. Aber sie haben Augen und können sehen. Vielleicht auch Ohren, die hören. Und sie können denken. Sie haben ‚Verstand‘. Man kann annehmen, daß sie einander nicht sehen, auch wenn sie wohl wissen, daß andere existieren. Jede steht für sich. Ganz für sich und allein nimmt jede der Statuen wahr, daß etwas auf der anderen Seite des Stromes, oder des Abgrunds, vor sich geht; sie bildet sich Vorstellungen von dem, was da vor sich geht, und grübelt darüber nach, wieweit diese Vorstellungen dem, was vor sich geht, entsprechen. Manche denken, solche Ideen spiegeln einfach die Vorgänge auf der anderen Seite wider. Andere denken, vieles an ihnen ist eine Zutat des eigenen Verstandes; letzten Endes kann man nicht wissen, was wirklich drüben vor sich geht. Der Abgrund ist zu tief. Die Kluft ist unüberbrückbar.“1
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Was, wenn die Statuen außer Augen und Ohren noch Münder besäßen und sprechen könnten, laut genug, um sich mit den Nachbarn und weiteren in der Reihe zu verständigen? Dann ließe sich herausfinden, was andere sehen und hören. Skulptur für Skulptur würde zusammengetragen, was sich aus den jeweiligen Standorten an Eindrücken aufdrängt und zu diesen oder jenen Mutmaßungen führt. Die Ungewissheit über das, was in der Ferne letztlich vor sich geht, wiche allein dadurch nicht. Um die „Wahrheit“ zu erfahren, müssten die Statuen aufhören, Statuen zu sein, ihre Starrheit überwinden, zum anderen Ufer übersetzen oder den Abhang hinuntersteigen. Womöglich aber wiche das beklemmende Gefühl, in der eigenen Wahrnehmung, dem eigenen Urteil wie in einem Käfig eingesperrt zu sein. Dort ging tatsächlich etwas vonstatten, sagte sich jede der Statuen, und einen Zipfel davon hatte ich, wie verschwommen und vage auch immer, vermutlich erhascht.
Aber vielleicht wäre auch das Gegenteil der Fall, um sich greifende Verwirrung und Verunsicherung infolge eines unschlichtbaren Widerstreits der Deutungen. Dann wüchsen die Zweifel in die Tauglichkeit des eigenen Verstandes, erschiene dieser als Quelle aller Täuschungen und Missverständnisse, als Betrüger, und die Statuen mutierten zu postmodernen Philosophen: Es gibt keine Tatsachen, nur Interpretationen ohne Wahrheitsanspruch. Ihr Bild von sich gliche dem Bild, das diese Philosophen vom Menschen als einer „gescheiterten Spezies“ zeichnen. Gerade weil Menschen sich Weltzusammenhänge nur als die Wesen anzueignen vermögen, die sie sind, denkend, begrifflich, Modelle bildend, entginge ihnen, wie diese Zusammenhänge an und für sich, unabhängig von diesen Konstrukten beschaffen sind. Die Verfasstheit von Lebewesen, die Conditio humana in diesem Fall, zur Ursache ihrer Weltentfremdung umzudeuten, ist wahrlich bizarr. Tatsächlich ist das vermeintliche Paradox Wort für Wort ein Argument für und nicht gegen die (mögliche) Realitätsnähe menschlicher Vorstellungen. „Es ist unbestreitbar, dass wir die Welt ‚vom Standpunkt‘ eines Menschen sehen, wie Kant gesagt hat. Doch bedeutet dies nicht, dass wir sie damit nicht erkennen können. Wir erkennen eben vom Standpunkt eines Menschen, wie die Welt an sich ist.“2
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Nur sind dieser Menschen und folglich auch ihrer Standpunkte viele, unvorstellbar viele, wenn man auf die Menschheit blickt. Wie gelangt man da zu einem überindividuellen, gemeinschaftlichen Realitätsverständnis? Was verbürgt dessen Stichhaltigkeit? Wie entkommt man dem Käfig, den Idolen des Stammes, der Höhle, des Marktes, des Theaters aus Francis Bacons „Novum Organum“? Das ist weder möglich noch nötig, lautet der Bescheid der Postmoderne. Nicht möglich aus Gründen, die die postmoderne (poststrukturalistische, konstruktivistische) Philosophie vor Augen führt, nicht nötig aufgrund der Arrangements der postmodernen Konstellation. Der Käfig wird zur Heimat, zum Hort der Selbstbehauptung, Selbstverwirklichung. Die Parabel der denkenden, sprechenden Statuen lanciert das Bild des Menschen als eines Homo clausus, eines von allen anderen Menschen abgetrennten, in seine eigene Welt gebannten Individuums. Die Postmoderne verklärt die Trauer, die dieses Bild hervorruft, zur Melancholie. Etwas ging verloren, aber was genau, ist schwer zu sagen; das Verlorene wiederzugewinnen ist offenkundig aussichtslos. „Man muss die Hoffnungslosigkeit als solche hinnehmen, von ihr im Denken ausgehen und sich leiten lassen“, beschrieb Jean-François Lyotard diese postmoderne Mentalität, und: „Was machen wir, wenn wir keinen Horizont der Emanzipation haben, wo bieten wir Widerstand?“ „Im Hinterfragen der Regeln von Kunst“, lautete die Antwort.3 Das „Hinterfragen der Regeln von Gesellschaft“ steht seither nicht mehr auf dem Programm postmoderner Theoretiker.
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Diesen Regeln auf die Spur zu kommen, verlangt unter den obwaltenden Verhältnissen gehörige Anstrengung. Sie zu entmutigen, geschieht so gut wie alles. „Es gibt keine Gesellschaft, es gibt nur Individuen und Familien“, der Ausspruch stammt von Margaret Thatcher, und die musste es wissen. Die Gesellschaft in eine Ansammlung isolierter Einzelner zu verwandeln, die jenseits von Stand und Klasse lebten (und dachten), war schließlich ihr Projekt. Die systematische Schwächung und gewaltsame Zerschlagung von Organisationen der Arbeiterschaft, begleitet von einer Schockwelle der Privatisierung, bereitete den Boden für die Pflugscharen des neoliberalen Unternehmertums. Die Arbeit selbst wurde in eine kaum mehr überschaubare Vielfalt von Arbeitssituationen, Arbeiterlagen aufgespalten. Wo immer diese Methode zum Einsatz kam, entstanden Risse, Spaltungen zwischen Zentrum und Peripherie, Stammbelegschaften einerseits, Leih-, Zeit-, Hilfsarbeitern, Beschäftigten mit Werkverträgen, illegal in Dienst Gestellten ohne alle Rechte andererseits. Jede neue Kategorie abhängig Beschäftigter verschleierte zusätzlich die ungeheure Kluft, die sich zwischen Arbeitsvolk und Arbeitsherren weltweit auftat. Das Gemeinsame all dieser Formen, Erwerbsarbeit unter dem Kommando des Kapitals zu sein, trat in den Hintergrund. Die soziale Realität per se, Arbeit, löste sich mehr und mehr in scheinbar inkommensurable Realitäten auf. Unter den einzelnen Gruppen machte sich jener „kollektive Individualismus“ breit, den Alexis de Tocqueville zum Kennzeichen der fragmentierten spätabsolutistischen Gesellschaften erhoben hatte. Die Zersplitterung des Realen bildet den objektiven Vorwurf für jeden zeitgemäßen Realismus.
Sie durchdringt, dank der Finessen des „aktivierenden Sozialstaats“, auch die heutige Erfahrung von Arbeitslosigkeit. Die penible Prüfung von Qualifikation, Ersparnissen, Wohnverhältnissen, Partnerschaften etc. erzeugt Abertausende von Sonderfällen. Die Norm verflüchtigt sich in ihre Abweichungen, und in den Sozialgerichten stapeln sich die Klagen, weil keiner mehr durchsieht. Aber lieber das als Klarsicht der Betroffenen hinsichtlich der Gründe ihrer Lage und Behandlung.
Gleich dem Lohnarbeiter und dem Arbeitslosen wurde auch der Schuldner zur Sozialfigur mit endlos vielen Gesichtern. „Pleite gehen ist etwas Höchstpersönliches“, war kürzlich in der Online-Ausgabe der FAZ zu lesen. Gut so, da bleibt den Schuldnern bei ihrem verständlichen Bemühen, den je eigenen Kopf noch aus der Schlinge zu ziehen, die Mühe erspart, die gesellschaftliche Logik der Verschuldung aufzuspüren.
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Diese Logik bliebe dem Bewusstsein auch dann verschlossen, wenn „empathische“ Theaterschaffende eine Produktion unter dieses Thema stellten und Menschen aus dem „wirklichen Leben“ auf eine Bühne bäten, um in einem wie immer gearteten Arrangement über ihre Erfahrungen zu berichten. Die Realität der postmodernen Realitätsverleugnung lebt genau von diesem Zugleich, diesem Nebeneinander, von diesem großen Und, dem Verknüpfungsmodus der Nachrichten. Mit der Methode von Jägern und Sammlern, die nach „Experten aus dem Alltag“ fischen, kommt man dem Hintergrund dieser Erfahrungen nicht bei.
Hoch mobil gemachte Individuen, auf Trab gebrachte Statuen, sind auf getrennten Bahnen unterwegs, in voneinander separierten Räumen von Wahrnehmung, Denken, Handeln. Sie bilden verselbständigte Momente eines verborgenen Prozesses, der sich als „geschlossener Zusammenhang“, als „ein Ganzes“, so wie Georg Lukács das vorschwebte, ebenso wenig rekonstruieren lässt wie unter Ausklammerung des Bewusstseins der Akteure.4 – Das den Blicken Verborgene postmodern-neoliberaler Gesellschaften...