„Aufschieberitis“
Einer der am häufigsten genannten dysfunktionalen, also schädlichen Aspekte des Perfektionismus ist die sog. Prokrastination. Darunter wird das Aufschieben von Tätigkeiten verstanden. Übersetzen kann man dieses sperrige Fachwort daher in etwa mit „Aufschieberitis“. Dabei bedeutet Aufschieben in diesem Zusammenhang entweder, dass man erst gar nicht mit einer Aufgabe anfängt, oder, dass man sie immer wieder unterbricht. Man hat sich also etwas vorgenommen und weiß auch, dass es erledigt werden muss, macht es dann aber nicht.
Nun werden auch diejenigen, die nicht zum Perfektionismus neigen, hin und wieder von dieser Aufschieberitis befallen. Das gilt vor allem dann, wenn es um Tätigkeiten geht, die nicht auf Platz 1 der Beliebtheitsskala stehen, wie z. B. Fensterputzen, die Steuererklärung, der Besuch beim Arzt. Auch Entscheidungen schiebt der Mensch gerne vor sich her, so vor allem diejenigen, die unangenehme Konsequenzen haben (könnten), wie z. B. der Wohnungs- oder Jobwechsel oder auch die längst fällige Lösung aus einer kaputten Beziehung. Wenn wir nur ab und zu an Aufschieberitits leiden, ist das also ganz normal. Schwierig wird es, wenn sie zum Dauerzustand wird.
Theorien zur Prokrastination gehen davon aus, dass deren Ursachen entweder in der Angst vor dem Versagen, in der Angst vor der (negativen) Bewertung oder eben im Perfektionismus zu suchen sind. Allerdings ist hier vor allem der dysfunktionale Perfektionismus gemeint. Funktionales perfektionistisches Streben mündet eher weniger in Aufschieberitis. Der Grund: Jemand, der an sich hohe Ansprüche stellt und dadurch aus sich selbst heraus, also intrinsisch, leistungsmotiviert ist, geht eher zielstrebig an eine Aufgabe heran und verschiebt sie gar nicht erst nach hinten. Wer sich dagegen gezwungen fühlt, von außen an ihn herangetragene Erwartungen zu erfüllen, die er gleichzeitig als unerreichbar empfindet, nimmt dies als demotivierend wahr. Er verschiebt alles, was damit zu tun hat, und ist dann mittendrin in der Prokrastination.
Meist sind Menschen, die davon betroffen sind, nicht besonders glücklich mit ihrem Verhalten. Sie fühlen sich damit nicht wohl, haben Angst oder gleiten deswegen sogar in eine Depression. Und natürlich sind sie, wenn der Termin immer näher rückt, zusätzlich hohem Stress ausgesetzt, da die aufgeschobene Angelegenheit dann dringend in einer Hauruck-Aktion erledigt werden muss.
Zwanghaftigkeit
Vielleicht haben Sie die Überschrift zu diesem Abschnitt mit einiger Skepsis gelesen und fragen sich, was Perfektionismus mit Zwanghaftigkeit zu tun haben soll. Die Antwort lautet: viel, denn Perfektionismus und Zwangserkrankungen sind eng miteinander verwandt. Eigentlich ist es offensichtlich – es gilt in beiden Fällen, etwas Unangenehmes zu vermeiden. Unangenehmes kann uns in vielen Formen begegnen, so z. B. in Gestalt von
alltäglichen Vorkommnissen, wie Ungewissheit, Kritik oder mangelnder Kontrolle über etwas,
tatsächlichen oder vermeintlichen katastrophalen Ereignissen.
Wenn wir diese Szenarien zu Ende denken, geht es bei ihnen einzig und allein um die Vermeidung und Abwehr von Angst.
In der sog. Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten, kurz: ICD 10, die Medizinern zur Verschlüsselung von Krankheitsdiagnosen dient, ist die „zwanghafte Persönlichkeitsstörung“ unter der Chiffre F60.5 klassifiziert. Sie befindet sich im Abschnitt Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen und ist den „spezifischen Persönlichkeitsstörungen“ zugeordnet. Folgende diagnostische Kriterien werden an dieser Stelle aufgeführt, wobei mindestens vier der folgenden Eigenschaften oder Verhaltensweisen vorliegen müssen, um von einer Störung sprechen zu können:
übermäßiger Zweifel (z. B. an der eigenen Leistung) und Vorsicht,
ständige Beschäftigung mit Details, Regeln, Listen, Ordnung, Organisation und Planungen,
Perfektionismus, der die Fertigstellung von Aufgaben behindert,
überzogene Gewissenhaftigkeit, Skrupelhaftigkeit und
unverhältnismäßige Leistungsbezogenheit unter Vernachlässigung von Vergnügen und zwischenmenschlichen Beziehungen.
Kommt Ihnen dies bekannt vor? Sicherlich, denn einige dieser Kriterien finden sich ja auch schon in den bisher von mir geschilderten Klientenbeispielen wieder.
Wenn die Wahlfreiheit verlorengeht
Einem Menschen mit der oben genannten Symptomatik fehlt es zumeist an der Flexibilität im Denken und Handeln. Er muss auf eine bestimmte Art und Weise denken und handeln. Das „Kann“ geht dabei verloren. Er ist nicht in der Lage zu wählen: „Es kann auch anders sein“, oder: „Es kann auch anders gehen“. Stattdessen gibt es das Perfekte, das Ideal, das es zu erreichen gilt. Die Wahlfreiheit geht verloren und genau das nennt man dann zwanghaft.
Der Unterschied zwischen einem Perfektionisten und einem an einer Zwangsstörung Erkrankten liegt zumeist darin, dass der Perfektionist sich „nur“ mit Zwangsgedanken herumquält, während ein Zwangserkrankter auch zwanghafte Handlungen ausführt (wie z. B. ständiges Händewaschen). Der Perfektionist durchdenkt bestimmte Szenarien immer und immer wieder. Dabei sind seine Gedanken sowohl vergangenheits- als auch zukunftsorientiert. Seine Gedanken drehen sich um Ideen (etwas besser zu machen), Befürchtungen (über das, was passiert, wenn etwas nicht perfekt bzw. fehlerhaft ist), Vorstellungen (was das für einen selbst bedeutet, wenn die Leistung nicht perfekt ist, oder was passiert, wenn man sich „falsch“ entscheidet).
Wichtig
Zwanghaftigkeit ist eine Form des Perfektionismus, der die Aufgabenerfüllung behindert, in diesem Sinne also dysfunktional ist.
Zwanghaftigkeit hat viele Facetten. Der eine tut sich schwer, sich von Dingen zu trennen, die kaputt und wertlos sind oder einfach nicht mehr gebraucht werden. Dem anderen fällt das Delegieren schwer, denn die Mitarbeiter haben ja schließlich nicht dieselben Arbeitsstandards und -weisen wie man selbst. Wieder andere sind relativ großzügig gegenüber anderen Menschen, aber extrem geizig gegenüber sich selbst. Oder ihnen fällt Geld ausgeben ausgesprochen schwer, da es ihr „Sicherheitspolster“ schmelzen lässt. Andere sind kompromisslos, was die Qualität ihrer Arbeit (und die ihrer Mitarbeiter) angeht. An sich klingt das alles nicht so schlimm. Engt sich der Handlungsspielraum dadurch jedoch auf null ein, wird es zum Problem.
Die Überschneidungen zwischen den Zwangserkrankungen und einem dysfunktionalen Perfektionismus sind zahlreich und lassen sich in den seltensten Fällen wirklich komplett „heilen“. Allerdings kann man die Dosis verändern und damit schon zu deutlich mehr Lebensqualität gelangen.
Arbeitssucht
In Japan gibt es bereits einen Begriff für den Tod durch Überarbeitung. Jährlich werden dort von den Behörden etwa 150 Fälle unter dem Namen Karòshi anerkannt, was übersetzt in etwa stressbedingter Herzinfarkt oder Schlaganfall bedeutet. Man vermutet, dass es zudem eine hohe Dunkelziffer gibt. Die Opfer sind zumeist männlich, ledig und zwischen 30 und 40 Jahre alt. In Japan werden neben Korea die meisten Überstunden gemacht und die wenigsten Urlaubstage in Anspruch genommen. Es gilt sogar als unmotiviert, mehr als 50 % seines Jahresurlaubes zu nehmen – zumal man diesen dann für Krankheitstage aufsparen will.
Ist diese Arbeitswut oder vielmehr Arbeitssucht nur ein japanisches Phänomen? Eher nicht. In den Jahren 2013 und 2014 berichteten die deutschen Medien über den Tod zweier junger Männer, der eine in einem Bankpraktikum, der andere Student an einer Eliteuniversität. Die Untersuchungen ergaben jeweils das Gleiche: Die Männer standen unter hohem Leistungs- und Erfolgsstress. Sie wollten sich durch Wachmacher, Amphetamine und Kaffee auf der Spur halten und vernachlässigten dabei ihr Bedürfnis nach Essen und Schlaf. Einer der beiden hatte wohl vor seinem Tod drei Tage und Nächte durchgearbeitet.
Was Workaholics ausmacht
Neudeutsch werden Arbeitssüchtige als Workaholics bezeichnet, was irgendwie harmloser klingt als der Begriff „Arbeitssüchtiger“. Gehören auch Sie dazu? Beantworten Sie die folgenden Fragen mit Ja, könnten Sie in Gefahr sein.
Machen Sie ständig Überstunden?
Denken Sie – auch in Ihrer Freizeit und im Urlaub – über Ihre Arbeit nach?
Arbeiten Sie auch freiwillig am Wochenende oder nehmen Sie sich Arbeit mit nach Hause?
Studien zeigen, dass etwa 8 bis 10 % der Bevölkerung in Deutschland arbeitssüchtig sind. Aber ist wirklich jeder, auf den die oben genannten Kriterien zutreffen, deshalb gleich ein Workaholic? Natürlich ist nicht jeder, der viel und lange arbeitet und das womöglich sogar noch gern macht, gleich arbeitssüchtig. Es kommt bei der Differenzierung...