Loufried
If it be your will
That I speak no more
And my voice be still
As it was before
I will speak no more
Leonard Cohen, If it be your will
»Ich mag gar nicht mehr ausgehen heute«, schrieb Rainer Maria Rilke am Abend des 9. Juni 1897 an Lou Andreas-Salomé. »Ich will nicht zu den Menschen reden, damit ich den Nachklang Deiner Worte, der wie ein Schmelz über den meinen zittert und ihren Klang reich macht, nicht verschwende, und ich will nach der Abendsonne kein Licht mehr sehen um am Feuer Deiner Augen tausend leise Opfer zu entzünden.« Da kannten sie sich noch keinen Monat, der 21jährige Student aus Prag und die 36jährige Autorin und Kosmopolitin aus St. Petersburg. René Maria Rilke war im September 1896 nach München gekommen, um dort sein Philosophiestudium fortzusetzen. Er wohnte in der Blütenstraße und gab die Literaturzeitschrift »Wegwarten« heraus, mit der er »dem Volke« die »moderne Dichtung« nahebringen wollte.
Lou Andreas-Salomé lebte damals mit ihrem Mann, dem Orientalisten Friedrich Carl Andreas, mit dem sie seit zehn Jahren verheiratet war, in Schmargendorf bei Berlin. Im Frühjahr 1897 hatte sie, wie fast jedes Jahr um diese Zeit, ihre Mutter und ihre Brüder in ihrer Geburtsstadt St. Petersburg besucht. Anschließend reiste sie nach München und logierte, zusammen mit ihrer Freundin, der Afrikaforscherin Frieda Freiin von Bülow, in den »sogenannten Fürstenhäusern der Schellingstraße«.
»Anläßlich irgendeiner gemeinsamen Theaterverabredung brachte Jakob Wassermann an unsere Plätze einen Freund, den er wünschte vorzustellen: es war René Maria Rilke«, lautet der letzte Satz des Kapitels »Unter Menschen« aus Lou Andreas-Salomés Lebensrückblick. In ihr Leben getreten war der junge Dichter schon vorher. Er hatte ihr, nachdem er erfahren hatte, daß sie sich in München aufhielt, einige Male Gedichte in die Pension Quistorp gesandt – anonym. Nachdem sie sich persönlich begegnet waren, schrieb er ihr umgehend einen Brief. Lou erkannte die Handschrift sofort wieder. Das Geheimnis des anonymen Poeten war gelüftet.
Vor allem durch ihr Nietzsche-Buch genoß Lou Andreas-Salomé in der Kulturszene damals großes Ansehen. Rilke sprach denn auch in den Briefen an seine Mutter von ihr als einer bedeutenden Schriftstellerin. Er war auf Lou Andreas-Salomé aufmerksam geworden durch ihre Erzählung Ruth und besonders durch ihren Aufsatz »Jesus der Jude«, den er im April 1896 in der Neuen deutschen Rundschau gelesen hatte. Der Text hatte ihn tief beeindruckt, und das sollte die Verfasserin unbedingt wissen.
Am 13. Mai 1897 gestand er ihr in einem Brief: »Gnädigste Frau, es war nicht die erste Dämmerstunde gestern, die ich mit Ihnen verbringen durfte. Da gibts in meiner Erinnerung eine, die mich arg verlangen machte, Ihnen ins Auge zu sehen.« Im letzten Winter habe er ihren Essay gelesen, berichtet er weiter, zu einer Zeit, als er selbst gerade an seinen »Christus-Visionen« arbeitete. »Mir war wie einem, dem große Träume in Erfüllung gehen mit ihrem Guten und Bösen; denn ihr Essay verhielt sich zu meinen Gedichten wie Traum zu Wirklichkeit, wie ein Wunsch zur Erfüllung.« An diese »seltsame Dämmerstunde« im Winter habe er während der gestrigen im Mai immer wieder denken müssen, jedoch nicht darüber gesprochen, weil sie gestern nicht allein gewesen seien. »Mir ist immer: Wenn ein Mensch einem andern für etwas sehr Teures zu danken hat, soll dieser Dank ein Geheimnis bleiben zwischen den Beiden.« Dann kündigte er an, am nächsten Tag ins Gärtnerplatztheater zu kommen, wo er sie zu treffen hoffte.
Ganz im Gegensatz zu dem drängenden Verlangen Rilkes, die Bekanntschaft weiter zu vertiefen, steht Lou Andreas-Salomés abwartende Gleichgültigkeit. Sogar nachträglich in ihren Aufzeichnungen bagatellisiert sie das Kennenlernen des jungen Dichters. Fast beiläufig erwähnt sie den nicht näher konkretisierten Theaterabend und weist dem Schriftsteller Jakob Wassermann die Rolle des Vermittlers zu. Es ist aber mehr als unwahrscheinlich, daß sie sich an das Treffen in der Dämmerstunde, das offensichtlich zwei Tage vorher stattgefunden hat, so wenig erinnert – vor allem deshalb nicht, weil es ihr eigentlich durch Rilkes daran anschließenden Brief präsent bleiben oder zumindest werden mußte. Sie hat also von Anfang an versucht, den Eindruck, den der junge Mann auf sie gemacht hat, herunterzuspielen. Und sie tat es erstaunlicherweise sogar im nachhinein.
Doch er ließ weder sich noch seine Gefühle auf Distanz halten, sondern tat das, was ihm am meisten entsprach: Er schrieb ihr, und schon in die ersten Briefe mischten sich Gedichte hinein. In denen war er mutiger, direkter als in seinen an sie persönlich gerichteten Zeilen. Die anonyme, strenge poetische Form erlaubte emotionale Grenzüberschreitungen:
Ich bin Dir wie ein Vorbereiten
Und lächle leise, wenn Du irrst;
Ich weiß, daß Du aus Einsamkeiten
Dem großen Glück entgegenschreiten
Und meine Hände finden wirst.
(31. Mai 1897, Montag früh).
Im Gedicht war er sicher, daß sie sich finden würden, im Leben hat er sie am selben Tag vergeblich gesucht. »Ich bin mit ein paar Rosen in der Hand in der Stadt und dem Anfange des englischen Gartens herumgewandert, um Ihnen die Rosen zu schenken. Ja, statt sie an der Tür mit dem goldenen Schlüssel abzugeben, trug ich sie mit mir herum, zitternd vor lauter Willen, Ihnen irgendwo zu begegnen.«
Eine gute Woche liegt zwischen diesem Brief, in dem Rilke seine erfolglosen Spaziergänge als Rosenbote durch die Stadt schildert, und dem hymnischen vom 9. Juni, in dem er sie beschwört: »Ich will aufgehen in Dir, wie das Kindergebet im lauten, jauchzenden Morgen, wie die Rakete bei den einsamen Sternen. Ich will keine Träume haben, die Dich nicht kennen, und keine Wünsche, die Du nicht erfüllen willst oder kannst.« Der Ton hat sich radikal verändert: Aus dem suchenden, abwartenden, vorsichtigen, lässigen Flaneur ist ein drängender, schwärmender, wortgewaltiger Minnesänger geworden.
Was war in der Zwischenzeit geschehen? Das Werben des Dichters war plötzlich gewaltsam und unerwartet von außen gestört worden durch ein Schreiben der k.u.k Militärbehörde. Rilke erhielt den Befehl, sich umgehend in Böhmisch-Leipa bei Prag zur Musterung einzufinden, damit über seine Militärdiensttauglichkeit entschieden werden konnte. Sofort tauchten die nur verdrängten Bilder aus St. Pölten wieder vor ihm auf und ließen längst überwunden geglaubte Ängste wieder wirksam werden. Sie verstärkten sich kurzzeitig sogar noch, weil er nicht nur den Kriegsdienst fürchtete, sondern beinahe mehr noch die damit verbundene Abwesenheit von der Frau, in die er sich verliebt hatte und auf die sich all seine Gedanken und Gefühle, erotische wie poetische, konzentrierten. Jetzt, wo er seinem Ziel so nahe war ... Doch in diesem Moment gab Lou Andreas-Salomé ihre Zurückhaltung auf und eröffnete ihm die Möglichkeit einer gemeinsamen nahen Zukunft: Bevor er Richtung Prag aufbrach, fuhr sie mit ihm zwei Tage aufs Land, in die Umgebung des Starnberger Sees, um sich nach einer geeigneten Wohnung oder einem kleinen Haus umzusehen, in dem sie den Sommer verbringen würden, wenn Rilke nicht eingezogen werden sollte. Sie fanden ein geeignetes Domizil in Wolfratshausen.
Am 3. Juni reiste Rilke frühmorgens nach Prag, hinterließ ihr seine dortige Adresse und telegrafierte ihr am nächsten Tag, nachdem er aus gesundheitlichen Gründen für dienstuntauglich erklärt worden war: »Frei und bald auch froh.«
Zurück in München, setzte er sein schwärmerisches Bemühen um die Zuneigung der angebeteten Frau fort, so als habe es keine Unterbrechung gegeben. In seinen vielsagenden poetischen Pfingstgrüßen heißt es: »Ich habs noch keinen Mai empfunden / Wie voll die Welt ertönen kann.« Er nennt sie eine große Revolutionärin, erinnert in seinem nächsten Brief an den »Märchenmorgen« vor einer Woche, spricht von den gemeinsamen Inselstunden, denen selbst die Rückkehr in den Alltag nichts anhaben kann, und prophezeit ihr: »Einmal in vielen Jahren wirst du ganz verstehen, was Du mir bist.«
In Lous Andreas-Salomés Lebensrückblick klingen die Begebenheiten der ersten Junitage 1897 viel undramatischer, beinahe lakonisch: »Nun währte es gar nicht mehr lange, bis René Maria Rilke zum Rainer geworden war. Er und ich begaben uns auf die Suche nach etwas Gebirgsnahem draußen; wechselten, hinausziehend, in Wolfratshausen auch noch mal unser Häuschen.« In das erste sei ihre Freundin Frieda von Bülow noch mit eingezogen. Für das zweite, das sie »Loufried« nannten, habe der Architekt August von Endell, der zu ihrem damaligen Münchner Freundeskreis gehörte und ihnen beim Einrichten half, eine Flagge angefertigt. »Gegen den Herbst kam für eine Weile mein Mann nach, nebst dem Lotte-Hund; Jakob Wassermann besuchte uns bisweilen, auch andere; bereits im ersten Häuschen ein zu mir von St. Petersburg hergereister Russe (zwar unguten Andenkens), mit dem ich russische Studien trieb.«
Während sich Rilke immer stärker ausschließlich auf sie konzentrierte, behielt Lou Andreas-Salomé ihre kommunikative Lebenshaltung bei und pflegte weiterhin vielfältige Freundschaften und Beziehungen, was naturgemäß für Spannungen innerhalb der jungen Liebe sorgte. Rilke war eifersüchtig, ließ sich aber durch ihr Verhalten nicht in seiner Zielgerichtetheit bremsen. Er kostete das Hochgefühl...