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Love & Passion

Gender und Musik(praxis)

VerlagBooks on Demand
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl336 Seiten
ISBN9783746084824
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Musik und Musikschaffen ist ein wichtiger Bestandteil unseres Lebens, zu dem neben Gefühlen, Botschaften, Technik, Handwerk ... ganz besonders Geschlechterbilder gehören, die oft beiläufig oder verdeckt transportiert werden. Dabei stehen konservative und normative Stereotype von 'Frauen' und 'Männern' längst innovativ praktizierten Realitäten im aktuellen Musikgeschehen gegenüber. 16 Expertinnen* aus dem deutschsprachigen Raum kommen in diesem Sammelband zu Wort. Im ersten Teil widmen sie sich den Themen Homosexualität (Musical, Operette, Heavy Metal), Männlichkeit* (Reggae) sowie den (De)Konstruktionen von Geschlechterbildern in Musikvideos, in der Popmusik und den Gender-Aspekten in musikalischen Aneignungs- und Vermittlungsprozessen. Im zweiten Teil geht es um feministische Musikpraxis. Ein Autorinnen*-Duo untersucht den "Geniekult" und erfahrene Praktikerinnen berichten von den Niedersächsischen Frauenmusiktagen, der MädchenMusikAkademie, von dem pink noise Girls Rock Camp und vom laDIYfest kiel, das seit 2014 stattfindet! ...

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Leseprobe

Gilbert & Sullivans Operette Patience:
„Die komische Rasse“ erobert das
unterhaltende Musiktheater

Neue Männlichkeitsbilder, Oscar Wilde als Operettenheld
und die Position von Patience in der Geschichte der
Schwulenbewegung

von Kevin Clarke

Operette und (Homo-)Sexualität

Das Genre Operette entstand um 1850 in Paris als eigenständige Form des Musiktheaters im modernen Sinn. Die Gründungsväter waren Florimond Ronger, genannt Hervé, und Jacques Offenbach. Die Werke, die sie schufen, zeichneten sich dadurch aus, dass sie ein extrem anti-realistisches Theater der grotesken Überzeichnung waren: eine Monty-Python-artige Parodie auf gesellschaftliche Zustände und auf die damals aktuelle Musikszene. Das heißt, in diesen frühen Slapstick-Operetten hört man ‚uneigentliche‘ Musik, die anders als die Oper des 19. Jahrhunderts nicht nach Wahrhaftigkeit strebt, sondern sich permanent selbst dekonstruiert, indem sie aus tausend Versatzstücken und Zitaten besteht; was sie aus heutiger Perspektive extrem modern macht. Die Werke Hervés und speziell Offenbachs wurden außerdem in Theatern aufgeführt, die ein Halbweltpublikum frequentierte, das aus einer Clique hochstehender männlicher Zuschauer bestand sowie deren weiblichen Begleiterinnen: vor, auf und hinter der Bühne. In seinem Buch Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit bemerkt Siegfried Kracauer: „Die Clique der mit den großen Kurtisanen liierten Lebemänner umfaßte annähernd hundert fashionable Herren, die fast durchweg der Aristokratie entstammten und eine unbedingte Autorität in allen Fragen des mondänen Verhaltens besaßen. Ihre Frivolität äußerte sich darin, daß sie die Verachtung, die sie für die Bourgeoisie empfanden, durch ein Dasein bekundeten, das sich absichtlich über die bürgerlichen Konventionen hinwegsetzte.“38 Eine literarische Verarbeitung der Operettensituation findet sich bei Emile Zola in seinem Roman Nana, wo er diverse Ereignisse rund um Offenbachs Starkurtisane Hortense Schneider aufgreift und beschreibt, wie diese als „blonde Venus“ mit Nacktheit und unerhörter Laszivität auf der Bühne ihr Publikum in den Bann zog: „Nanas Geschlecht schlug die Männer mit Wahnsinn und riß unbekannte Abgründe der Gier vor ihnen auf. Sie lächelte immerzu, […] mit dem geilen Lächeln des männerfressenden Weibes.“39

Das Halbweltambiente, der Wunsch der elitären Zuschauer und Mitarbeiter Offenbachs, sich über die Bourgeoisie lustig zu machen, und die sexuelle Freizügigkeit des Operettentheaters – das quasi als Bordell funktionierte, wie der Theaterdirektor in Nana wiederholt betont – erlaubte den Schöpfern der Ur-Operette große Freiheiten in der Darstellung von nichtnormativem Sexualverhalten auf der Bühne. Und es erlaubte ihnen einen äußerst liberalen Umgang mit der damals gängigen Sexualmoral des Bürgertums und Kleinbürgertums, über das sich Offenbachs Publikum aus Prinzip hinwegsetzen wollte. In dieser befreiten Atmosphäre wurde 1868 erstmals – als absurder Witz – das Thema gleichgeschlechtliche Ehe in Offenbachs L’île de Tulipatan aufgegriffen; also im gleichen Jahr, in dem Karl Maria Kertbeny den Begriff „Homosexualität“ zum ersten Mal als Antonym zu „Heterosexualität“ und „Monosexualität“ verwendete. Und es ist ein Jahr nachdem Karl Heinrich Ulrichs 1867 auf dem deutschen Juristentag in München vor 500 Mitgliedern nicht nur das erste öffentliche Coming-out der Geschichte vollzog, sondern auch erstmals die Forderung nach der Akzeptanz einer „urnischen Ehe“ erheben wollte. Dazu kam es bekanntlich nicht, weil sein Vortrag niedergebrüllt wurde. Trotzdem begann an diesem Tag die Geschichte der Homosexuellenemanzipation, und die Ur-Operette griff solche gesellschaftlichen Trends mit seismografischem Gespür fürs Aktuelle und Pikante sofort auf.

Auch sonst waren heute aktuelle Themen wie Gender und Gendermainstreaming Dauersujets in den Ur-Operette, die zu großen Teilen mit Cross-Dressing spielte, sowohl mit Frauen in Männerrollen, als auch mit Männern in Frauenrollen. Was viele Menschen im 19. Jahrhundert schockte, weil es eine Genderverwirrung erzeugte, die als „horrible prettiness“ und „satanic subversiveness“ beschrieben wurde.40 Damit avancierte Operette – wie man das aus Paris importierte Genre "opéra bouffe" im deutschsprachigen Bereich taufte – zu einer skandalösen Theaterform, die gerade wegen ihres Skandalpotenzials erfolgreich war, weltweit. Die Stücke Hervés und Offenbachs verbreiteten sich in Windeseile von Paris nach Berlin, Wien, Budapest, London, New York, bis hin nach Australien, Neuseeland und Südamerika.

Als Offenbachs mittelalterliche Keuschheitsfarce Geneviève de Brabant (bei der es wie bei Schumann um die Genoveva-Legende geht) 1868 nach New York kam, schrieb der Kritiker der Zeitung Tribune, es sei „the most revolting mass of filth that has ever been shown on the boards of a respectable place of amusement in this city“. Er fuhr fort: „Geneviève is not merely indecent, […] it grovels in a low depth, even below decency.“ Das passt zur Beurteilung von Meyers Konversations-Lexikon von 1877. Dort heißt es: „[D]ie meisten [von Offenbachs Operetten] aber, wie z.B. ‚Orpheus in der Unterwelt‘, ‚Genoveva‘, ‚Die Seufzerbrücke‘, ‚Die schönen Weiber von Georgien‘, ‚Die schöne Helena‘ u.a., […] sind […] so vom Geiste der Demi-monde durchsetzt, daß sie mit ihren schlüpfrigen Stoffen und sinnlichen, zumeist trivialen Tonweisen eine entschieden entsittlichende Wirkung auf das größere Publikum ausüben müssen.“

Diese entsittlichende Wirkung lockte das heterosexuelle männliche Publikum in Massen an, damit aber auch das weibliche Halbweltpublikum, das seinerseits durch attraktive männliche Darsteller auf der Bühne unterhalten werden wollte, wie man u. a. beim britischen Offenbach-Star Emily Soldene in ihrer Autobiografie My Theatrical and Musical Recollections (1896) detailliert nachlesen kann. Der finanzielle Erfolg des neuen Genres Operette mit seinen attraktiven weiblichen und männlichen Stars rief etliche Nachahmer auf den Plan, im deutschsprachigen Bereich vor allem Franz von Suppé und Johann Strauss, die französischen Vorbildern folgten. Es rief nach dem Deutsch-Französischen-Krieg von 1870/71 auch eine Gegenbewegung hervor, die eine respektablere Alternative zu diesen sittengefährdenden Werken für ein weniger elitäres und weniger liberales Massenpublikum anbieten wollten.

„Nance Characters“

Zu diesen moralisch akzeptableren Alternativen gehörten in Großbritannien die Werke von Gilbert & Sullivan. Zusammen mit Impressario Richard D’Oyly Carte kreierten sie ab 1871 die sogenannten Savoy Operas, die eine entschärfte Version des Offenbach‘schen Ur-Modells darstellen. Die Autoren bemühten sich bewusst um „bourgeous respectability“41. Es gab keine Nacktheit oder Risqué-Elemente in ihren Stücken und kein Cross-Dressing. Carolyn Williams schreibt in ihrem großen Gilbert-und-Sullivan-Buch von 2011: „Gilbert especially was scrupulous – even avuncular and fussy – about correct middleclass feminine behavrior, instisting that the female members of the Chorus not be thought coarse in any way. […] The women of the Savoy Chorus were marketed as exceptionally beautiful, but chaste –tobe looked at, but not tobe approached.”42 Trotzdem hatte das Genre Operette grundsätzlich, selbst in der familienfreundlichen Gucken-aber-nicht-Anfassen-Version von Gilbert & Sullivan, den Ruf des Anrüchigen, und bediente diesen verkaufsfördernden Ruf mit versteckten Anzüglichkeiten und dem Spiel mit dem möglichen Skandal, der in allerletzter Sekunde vermieden wird, indem doch alle Abtrünnigen verheiratet werden, bevor es zum wirklichen Sündenfall kommen kann.

In keiner Operette des 19. und frühen 20. Jahrhunderts wird das Wort „homosexuell“ verwendet. Trotzdem kommen in erstaunlich vielen Operetten sogenannte „Nance Characters“ vor: besonders feminin, tuntig bzw. affektiert agierende Charaktere, bei denen homosexuelle Neigungen suggeriert werden über die Darstellung, selbst wenn diese nicht explizit beim Namen genannt werden. Immerhin war in den meisten Ländern, wo Operetten gespielt wurden, Homosexualität bis in die späten 1960er Jahre eine Straftat. Weswegen ein direktes Thematisieren unmöglich war auf einer öffentlichen Bühne, mit Zensurbehörden im Hintergrund.

Während „Nance Characters“ normalerweise auf die komischen Nebenrollen beschränkt waren und sich die ersten beiden offen schwulen Charaktere in einer Operette erst 2006 in The Beastly Bombing: A Terrible Tale of Terrorists Tamed by...

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