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Mein Leben heute
Du hast alles richtig gemacht.
Du hast Freunde, auf die du dich verlassen kannst, Arbeit und einen wirklich netten Partner. Du hast ein Haus gekauft und Kinder bekommen. Du hast gar nicht groß darüber nachgedacht, sondern es einfach getan. Hast dafür all die Jahre schwer geschuftet. Du warst deinem Mann treu, bist eine überdurchschnittlich gute Mutter – und ja, das darf man laut sagen. Du hast dich immer gut angezogen, es aber nie übertrieben. Du hast ein bisschen Angst gehabt. Du hast brutal Angst gehabt. Du hast deine chaotische Vergangenheit hinter dir gelassen. Gleichzeitig saß dir jenes Mädchen, das du mal gewesen bist, diese katastrophale, kleine rebellische Schlampe, immer im Nacken. Du wolltest nichts mehr mit ihr zu tun haben. Trotzdem hast du manchmal spätabends, wenn deine Kinder und dein Mann längst im Bett waren, im Wohnzimmer Whisky getrunken, obwohl du noch gestillt hast. Du hast im Dunkeln Musik gehört. In solchen Momenten ist dir das Mädchen immer energischer auf die Pelle gerückt, bis du die Musik ausgemacht hast, ins Ehebett zurückgekehrt und in einen traumlosen, trunkenen Schlaf gesunken bist. Du bist mit dem Gefühl aufgewacht, du hättest dir die Zähne zu Stummeln geknirscht. Du hattest Kopfschmerzen davon.
Dieses Leben hat sich über ein, zwei Jahrzehnte angesammelt – wie ein Misthaufen, das Nest eines Laubenvogels oder eine gruselige Sammlung von Fingernagelresten. Es hat sich jedenfalls angehäuft, angereichert, weil du es nicht anders wolltest. Du gehörst zu den Leuten, die bekommen, was sie wollen. Du wolltest dieses wunderschöne Leben – ein Leben, das bei aller Schönheit die Person vollkommen ignoriert, die du einmal gewesen bist. Du hast dir buchstäblich den Arsch aufgerissen, um das zu schaffen.
Du bist aufs sogenannte »Land« gezogen. Aber nur weil man eine Fähre nehmen muss und Bauern in der Nähe wohnen, ist es noch kein richtiges Land, sondern einfach nur ein sehr, sehr malerischer Vorort. Dieses Pseudoland bot dir jene Natur, nach der du dich gesehnt hattest – einen Wald hinter deinem neuen Haus, eine Wiese zum Federballspielen und einen verwahrlosten Garten, den du »verwildert« nanntest und dir schöngeredet hast. Auch die Schulen waren fantastisch und das Haus, das du gekauft hast, größer als das alte, sodass deine Tochter und dein Sohn sich kein Zimmer mehr teilen mussten, obwohl es toll ist für Kinder, sich ein Zimmer zu teilen – höchstens etwas unpraktisch, wenn sie älter werden. Du hast dir ein schönes neues Sofa gekauft, weil die Kinder das vorherige im Kleinkindalter mit Kacke, Kotze und Blut vollgesaut haben, als wäre es der Rücksitz von Travis Bickle aus Taxi Driver. Du hast deinen Kindern Zahnspangen spendiert. Und dann sind die Kinder viel zu schnell erstaunlich groß geworden. In deinem sicheren, schönen Haus am Wasser auf dem sogenannten Land gegenüber der Stadt, in der du aufgewachsen bist, hast du das bemitleidenswerte Mädchen, das du einmal gewesen bist, mehr oder weniger vergessen. Es war aber auch ein dermaßen dämliches Aas, dass du es ohnehin lieber vergessen willst. Vielleicht hast du es mal auf einer Party zum Leben wiedererweckt, vor neuen Freunden, Eltern von Klassenkameraden deiner Kinder, die höflich über deine schrägen Anekdoten gelacht haben. Am nächsten Morgen war es dir einfach nur peinlich.
Und dann ist es auf einmal so, als wäre ein Schalter umgelegt worden. Und zwar im April 2011. Du bist vierundvierzig, und du weißt das natürlich noch nicht, aber da beginnt dein Abstieg in die Hölle. Du wachst benommen auf. Dein Mann, ein Journalist, muss eine längere Geschäftsreise antreten, aber bevor er geht, bringt er dir noch Kaffee ans Bett und ruft den Kindern etwas zu. Du stehst auf, gehst in die Küche, lehnst dich verschlafen an die Arbeitsfläche und siehst, wie die Horde hereinpoltert. Na ja, zwei Kinder, aber frühmorgens wirken sie wie eine ganze Horde.
Deine Tochter, ein ernstes, großäugiges Mädchen mit schrägem Humor, ist zwölf. Ungefähr so alt, wie du warst, als du völlig aus der Bahn geworfen wurdest. Macht dir ihr Alter Angst? Wenn ja, gestehst du es dir nicht ein. Sie wird von Tag zu Tag schöner, während du immer unansehnlicher wirst, egal wie oft du die Chaturanga Dandasana einnimmst, die Brett-Haltung. Eine Freundin hat im Reformhaus deiner Insel eine Substanz namens Emu-Öl entdeckt. Soweit du es anhand des Kleingedruckten auf der ohnehin nicht gerade großen Flasche entziffern kannst, scheint es sich dabei um das Drüsensekret von Emus zu handeln. Welche Drüsen bitte? Keine Ahnung. Egal, es lässt dich und alle anderen Frauen in deiner Nachbarschaft einfach toll aussehen und bringt euch zum Strahlen. Einen Monat lang sind alle ganz verrückt danach, aber irgendwann wird es doch ein bisschen eklig. Währenddessen scheint deine Tochter kraft ihres kleinen inneren Mondes förmlich zu leuchten. Sorgt ihr Leuchten im Umkehrschluss dafür, dass dir deine Vergänglichkeit, deine schwindende Jugend umso bewusster wird? Nein, auch das magst du dir auf gar keinen Fall eingestehen.
Dein Sohn machte es dir deutlich leichter: Er ist neun Jahre alt, pausbäckig und auf eine herrlich unkomplizierte Art ebenso liebevoll wie laut. Da sind sie also, Morgen für Morgen, mit ihrem zerzausten Haar und ausdruckslosen Blicken, zwei schlafwarme Ungeheuer, deren wilde Träume erst noch mit Streicheleinheiten, Frühstück und Ermahnungen verscheucht werden müssen.
Dein Mann greift zu seinem Koffer und geht zur Tür, während beide Kinder nach ihren Schuhen suchen. Denn von der Geburt bis zur Volljährigkeit wird sie eines begleiten: unauffindbare Schuhe.
Dein Leben ist von A bis Z fremdgesteuert. Du wirst gebraucht, in jeder Hinsicht. Genau das hast du gewollt.
Dann bist du endlich allein und setzt dich an den Computer, um einen längst fälligen Artikel zu schreiben. Deine Konzentration lässt zu wünschen übrig. Durchs offene Fenster weht der Ruf einer Grundammer, der so klingt wie die Austin-Powers-Titelmelodie. Die Frühlingsluft stimmt dich wehmütig, sie ruft eine Erinnerung an Klassenzimmer wach, erinnert dich daran, dass du vom Schreibtisch fliehen willst – ja an die Entfesselungskünstlerin, die du mal warst. Während du da sitzt, kannst du plötzlich gar nicht mehr aufhören, an sie zu denken … an das Mädchen, das du mal gewesen bist.
Es ist nur so, dass du dich nicht mehr allzu gut an sie erinnern kannst, weil du sie bereits so lange verdrängt hast. Plötzlich brauchst du Beweise, dass es sie überhaupt gegeben hat. Du gehst wie in Trance in den Keller und wühlst in alten Umzugskartons. Wie eine Büßerin kniest du auf dem kalten Zementboden und suchst nach ihr.
Die Briefe sind schnell gefunden – ganze Kisten davon. Sie quellen aus Plastiktüten und flattern aus Büchern wie platt gedrückte Jungvögel. Als du noch jung warst, waren Briefe das Kommunikationsmedium: Damals hast du dein ganzes kleines Ich in einen Umschlag gequetscht, ihn in den Briefkasten geworfen und gewartet. Auf diese Weise wurden jahrelang Freundschaften aufrechterhalten. Briefe waren keine kostbare Seltenheit, sondern Papier gewordenes Leben, Gefühlsleben, und das war das einzige Leben, das dich damals interessiert hat.
Du sortierst die Briefe zu einem ordentlichen Stapel und suchst weiter, wühlst darin wie ein Trüffelschwein. Fotos aus dieser Zeit gibt es deutlich weniger, denn damals war es noch nicht üblich, einander in einem fort zu fotografieren. Als du noch jung warst, war es etwas ganz Besonderes, ein Foto von sich zu betrachten. Meine Güte, denkst du, bin ich altmodisch! Damals hast du nur dein Spiegelbild zu Gesicht bekommen, und das hat notorisch gelogen.
Deine Tagebücher – mehrbändige Schriften – sind nicht ganz so leicht zu finden. Du hast sie nicht zusammenhängend aufbewahrt. Bei jedem Umzug sind sie in unterschiedlichen Kartons gelandet, als hättest du dich vor dir selbst verstecken wollen. Du reißt die Kartons auf. Findest ein Tagebuch in einer Kiste mit alten Konzertshirts, die sich ihrerseits wie ein Tagebuch lesen: die Tattoo-You-Tour der Rolling Stones, Beat Happening, Died Pretty, The Melvins, The Presidents of the United States of America. Du findest noch ein Tagebuch, eingekeilt zwischen Stapeln mit Babywäsche, die du aus sentimentalen Gründen aufbewahrst. Drei unter College-Büchern von Autoren wie Clifford Geertz und Michel Foucault. Sobald du eines der Tagebücher berührst, erfasst dich eine Glückswelle: Dies ist das Buch, das du am dringendsten lesen willst.
Du schleppst das ganze Zeug in dein Arbeitszimmer im Garten, ein winziges Häuschen, das nur wenige, aber entscheidende Meter vom Haupthaus entfernt ist. Hierhin ziehst du dich zurück, um allein zu sein, deiner Familie aus dem Weg zu gehen wie diese emotional gestörten britischen Ehemänner, die Tage in ihren Schuppen verbringen, um irgendwelchen seltsamen Hobbys nachzugehen: Pornos? Philatelie? Du hingegen kommst zum Schreiben und zum Weinen her. Es ist ein Luxus, ein eigenes kleines Häuschen zu haben, in das man sich zum Weinen zurückziehen kann, auch wenn es äußerst schlicht ist: Fenster vom Sperrmüll, Sperrholzfußboden, Flohmarktmöbel. Du schnupperst kurz und nimmst einen Geruch wahr, der eindeutig tierischen Ursprungs ist. Unter dem Schuppen leben Waschbären.
Du verbringst viel zu viel Zeit hier, es ist einer deiner Rückzugsorte, eine Art Ventil. Ohne es dir einzugestehen, hast du dir in den letzten Monaten immer mehr davon zugelegt – etwa seit du vierundvierzig bist. Womöglich verselbstständigt sich das gerade ein wenig. Du hattest immer schon ein inniges Verhältnis...