Skandal und infame Verleumdung
Alexander VI. hatte während des französischen Italienfeldzugs nur mit knapper Not sein Leben und seine Tiara retten können. Anders als seine Tochter das wahrscheinlich überblicken konnte, war ihm bewusst, dass die Gefahr noch längst nicht gebannt und seine Stellung als Oberhaupt der Christenheit und Herr des Kirchenstaates schwächer war als je zuvor. Der «Donnerhall», der von der Heiligen Liga hatte ausgehen sollen, war längst verklungen, weil der Herzog von Mailand schon ein halbes Jahr nach Abschluss des Defensivbündnisses in Vercelli einen Separatfrieden mit Frankreich schloss. Das Königreich Neapel war noch lange nicht befriedet und finanziell ausgeblutet. Die größte Schwachstelle der päpstlichen Herrschaft aber war und blieb die Eigensucht und Treulosigkeit des römischen Stadtadels, der sogenannten Barone.
In dieser nach wie vor schwierigen Lage hatte der Papst scheinbar nichts Dringenderes zu tun, als seine Familie um sich zu scharen. Im Mai 1496 holte er seinen jüngsten Sohn Jofré und dessen Frau Sancia nach Rom. Jofré hatte die Zeit der französischen Besatzung unbehelligt auf seinen Gütern in Kalabrien verbracht. Alexander VI. ließ den Vierzehnjährigen wie einen Staatsgast von allen geistlichen Würdenträgern der Kurie, von den anwesenden ausländischen und italienischen Gesandten und den Vertretern der Stadt Rom empfangen. Auch Lucrezia ritt dem Paar mit ihrem Hofstaat entgegen und empfing ihren Bruder mit seiner Frau am Lateran, von wo aus der gesamte Festzug die beiden bis zum Vatikan begleitete. Der Papst erwartete seine Kinder auf dem erhöhten Thron in der Sala dei Pontefici. Zu seinen Füßen waren wie üblich Kissen ausgebreitet, auf denen Lucrezia und Sancia Platz nahmen, während der Papst mit ihnen «ein paar heitere Scherzworte» austauschte.[73] Im August kam dann auch Juan aus Spanien nach Rom zurück, allerdings ohne seine Frau Maria Enríquez, die ihr zweites Kind erwartete. Sowohl Jofré als auch Juan wohnten zumindest anfangs im Apostolischen Palast, wo auch ihr Bruder Cesare als Kardinal und engster Berater seines Vaters residierte.
Wie Lucrezia unterhielten auch die drei Brüder einen eigenen Hofstaat. Dieser bestand im engeren Kreis aus Sekretären, Kammerherren, Finanz- und Hausverwaltern, Pagen und Seelsorgern. Darüber hinaus gab es Wachen, Stallmeister, Pferdeknechte, Köche, Köchinnen und Gesinde; in wechselnder Besetzung außerdem Maler, Musiker, Sänger und Spaßmacher. Ein solcher Hof konnte hundert und mehr Personen umfassen. Auch Sancia unterhielt einen eigenen, wenn auch kleineren Hofstaat. Wie Lucrezia umgab sie sich mit vielen, vor allem jungen und schönen Frauen. Sancia brachte die Arroganz ihrer königlichen Abstammung und die unbekümmerte Weltlichkeit ihrer Heimatstadt Neapel mit. Der Vatikan glich – und das hatte der Papst mit seiner Familienzusammenführung durchaus beabsichtigt – immer weniger dem würdevollen Wohn- und Amtssitz des Oberhaupts der Christenheit, sondern immer mehr einer fürstlichen Renaissanceresidenz, deren Feste ihren Glanz durch die zahlreich anwesenden eleganten Frauen erhielten. Es dauerte nicht lange, bis in Rom die wildesten Gerüchte über die Liebschaften der neapolitanischen Damen herumgeisterten. Bald hieß es, auch Sancia selbst sei eine Affäre entweder mit Juan oder mit Cesare oder besser gleich mit beiden eingegangen.
Nach anfänglicher Scheu freundete sich Lucrezia schnell mit der nur zwei Jahre älteren Sancia an und trat auch selbst immer mutiger in den Vordergrund. Als sei die Kurie ein ganz normaler italienischer Fürstenhof, übernahm sie im Vatikan die Rolle der «donna di palazzo», der Dame des Hauses. Dies wird an einer Episode deutlich, die der Zeremonienmeister Burckard fast beiläufig erzählt. Nachdem der Papst im Februar 1496 drei neue Kardinäle ernannt hatte, mit deren Ergebenheit er rechnen konnte, machten diese wie üblich einen Antrittsbesuch bei allen anderen Kardinälen in deren römischen Titelkirchen, um ihnen «nach alter Sitte zu danken».[74] Am folgenden Tag gingen die drei Neuen dann in großer Begleitung zum Palazzo Santa Maria in Portico, wo ihnen die Papsttochter huldvoll bis zum Fuß der Treppe entgegenkam und sie die Umhänge und damit die Zeichen ihrer Würde ablegen ließ, um ihnen im großen Saal des oberen Stockwerks eine Erfrischung servieren zu lassen. Danach begleitete sie die Herren sogar bis zur Tür. Der Hausherr im Vatikan, dem eigentlich keine Hausherrin zustand, verfolgte diese Entwicklung voller Stolz und mit sichtlichem Vergnügen. Er liebte aufwendig gestaltete kirchliche Inszenierungen an hohen Feiertagen ebenso wie weltliche Feste, bei denen er am liebsten Frauen und unter den Frauen am liebsten seiner Tochter beim Tanzen zusah. Langeweile durfte bei ihm nie aufkommen. Weitschweifige Predigten waren ihm ein Ärgernis. Als Sancia und Lucrezia sich deshalb einmal den Scherz erlaubten, auf die für die Kanoniker reservierte Empore hinaufzuklettern, schritt der Papst nicht ein, obwohl dieses Verhalten, wie der Zeremonienmeister tadelnd erwähnt, «bei uns und beim Volk große Entrüstung und Aufsehen erregte».[75]
Lucrezias und Sancias Unbekümmertheit stießen das Tor zur Verweltlichung des päpstlichen Hofes, das bis dahin schon halb offen gestanden hatte, endgültig auf, und diese Entwicklung wurde teils hingenommen, teils verurteilt, von anderen dagegen freudig begrüßt. Sancia selbst und viele ihrer Hofdamen erregten nicht nur durch ihre Schönheit, ihren Charme und ihre Eleganz, sondern auch durch ihren offen zur Schau gestellten freizügigen Lebenswandel Aufsehen. Das konnte nicht ohne Folgen bleiben und brachte ans Licht, was lange Zeit im Verborgenen geblüht hatte: Aus Konkubinen wurden Kurtisanen. Seit der endgültigen Rückkehr nach Rom zu Beginn des 15. Jahrhunderts hatten alle Päpste daran gearbeitet, durch großartige Bauten, durch Mäzenatentum, prachtvolle Auftritte und Inszenierungen die angesehensten Fürsten- und Königshöfe Italiens in den Schatten zu stellen und damit die Ausnahmestellung der Kurie vor aller Welt sichtbar zu machen. Es hatte jedoch stets das dafür notwendige «weibliche Element [gefehlt], das anderswo eine so bedeutende Rolle spielte, – eine Tatsache, die auch von höchsten kirchlichen Würdenträgern mit Bedauern registriert wurde.»[76] Die humanistisch gebildeten Geistlichen fanden bald in den altgriechischen Hetären, in den berühmten «Gefährtinnen» des Perikles beispielsweise, ein Vorbild für das, was sie suchten. Nach ähnlichen nicht nur schönen und bereitwilligen, sondern auch gebildeten und talentierten Frauen, die eine erotische, nicht zuletzt aber vor allem diese kulturelle Leerstelle zu füllen vermochten, brauchten sie nicht lange zu suchen. Der Zeremonienmeister Alexanders VI. benutzte 1498 für eine solche Frau den widersprüchlichen Begriff «cortegiana, hoc est meretrix honesta», also «Kurtisane, d.h. eine ehrbare Hure». Cortegiana oder cortigiana war zunächst einfach die feminine Form des cortigiano, des Hofmanns, oder des lateinischen curialis, also desjenigen, der Zugang zu einem fürstlichen Hof oder eben der Kurie hatte. Die weibliche Form wurde aber bald zum Synonym für Prostituierte, weshalb man dann die einfachen Prostituierten als cortigiane da lume [mit der Lampe, die zum Anlocken der Kunden im Fenster stand], die eigentlichen Kurtisanen als cortigiane oneste bezeichnete und diese wiederum gegen die donna di palazzo abgrenzte. Auch diese Letztere hatte in der Liebe Bescheid zu wissen und durch Anmut, Eleganz und Esprit zu betören, die Grenzen des Anstands aber durfte sie nie überschreiten.
Ins Licht der Öffentlichkeit traten die Kurtisanen in Rom erstmals unter dem Pontifikat Alexanders VI. Eine der ersten Frauen, die namentlich, ansonsten aber nur schemenhaft bekannt ist, war eine gewisse Fiammetta Michaelis. Sie brachte es dank der Hinterlassenschaft eines Kardinals schon 1479 zu beträchtlichem Reichtum und galt danach auch als Geliebte von Lucrezias Bruder Cesare.[77] Nach der Jahrhundertwende wurden die Kurtisanen Roms geradezu berühmt, und ihr Leben von Dichtern wie Matteo Bandello und Pietro Aretino verewigt. Einige dieser Frauen machten glänzende Karrieren, und auch die nicht so berühmten konnten es sich leisten, ...