1. Das Vaterhaus
Am Eingange der Roßstraße zu Berlin, unfern des Kölnischen Rathhauses, in einem engen, betriebsamen und geräuschvollen Theile der Stadt, wo in niedrigen Kramläden Gewerbe und Kleinhandel ihren Sitz haben, liegt ein dunkles Haus, das in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts zu den stattlicheren der Nachbarschaft gehören mochte.1 In diesem Hause wohnte um jene Zeit ein Bürger und Handwerker; das war Meister Johann Ludwig Tieck, der Seiler. Es war ein einfacher, aber auch frischer und kräftiger Mann, der mit geradem Sinne und hellem Auge seines Weges zu gehen pflegte. Ein Leben voll Arbeit und Erfahrung war seine Schule gewesen, und hatte in ihm jene ehrenfeste, altbürgerliche Verständigkeit und Tüchtigkeit ausgebildet, die ohne viel Worte den Nagel auf den Kopf trifft, und in den Zeiten Friedrich's des Großen bei den Genossen des kleinen Handwerks nicht selten war. Auch sein Vater mochte ein Handwerker gewesen sein. Das Familiengedächtniß hat es nicht aufbewahrt, woher er stammte, doch rühmte man sich zuweilen nicht unansehnlicher Verwandtschaft, zu der man sogar einen General zählen wollte.
Wie es die Ordnung des Gewerbes vorschrieb, hatte Meister Tieck in seinen jungen Jahren, als er losgesprochen worden, zum Wanderstabe gegriffen, und war als Handwerksgesell in die Fremde gezogen. Er hatte Deutschland durchwandert, war nach Ungarn gekommen und dann weiter bis an die Grenze der Türkei. Dabei fehlte es nicht an Abenteuern. So hatte sich einst in diesen Gegenden ein Reisegefährte zu ihm gesellt, der die Lage einer jener ungarischen Grenzfestungen so anmuthig fand, daß er sich niedersetzte und die Umrisse in seinem Buche nachzuzeichnen begann. Von der Festung aus bemerkte man seine Absicht, glaubte in den beiden Wanderern Spione zu erkennen, und that einige Schüsse auf sie, die zum guten Glück ihr Ziel verfehlten. Nach der Heimkehr setzte sich Tieck als Meister, wie es Brauch war, und begründete einen Hausstand. Seine Frau holte er sich aus Jeserig, einem Dorfe bei Brandenburg. Sie war die Tochter des Schmiedemeisters Schale, doch im Hause des dortigen Predigers, Namens Latzke, erzogen, der sie frühzeitig als eine Waise zu sich genommen hatte. Darauf betrieb der Meister unter seinen Mitbürgern eifrig sein Gewerbe, und nahm Antheil an Allem, was Handwerk und Bürgerwesen anging. Bei den Zunftgenossen war er angesehen als ein strengrechtlicher Mann, der seinem Stande ergeben sei, und nicht allein das Herz, sondern auch die Zunge auf dem rechten Flecke habe, und zur guten Stunde ein gutes Wort ohne Scheu zu sagen wisse. Darum wählten sie ihn auch in mancher wichtigen Sache zum Sprecher und Vertreter.
Unter den Handwerkern selbst gab es schon allerlei Widerspruch gegen die Zünfte und ihre engen Regeln. Manche meinten, es könne mit dem Gewerbe erst besser werden, wenn diese alten Ordnungen aufgehoben würden. Darüber war ein Streit entstanden, und zu den Vertheidigern der Zünfte gehörte auch Meister Tieck, der von der Auflösung des Verbandes nichts als Unordnung erwartete. Doch wollte er darum nach eigener Erfahrung nicht in Abrede stellen, daß Vieles anders und besser sein könne. Nun hatte sich das Gerücht verbreitet, auch der König sei den Zünften nicht geneigt. Darum beschlossen die Freunde derselben, ihn selbst unmittelbar anzurufen, daß er sie bei dem alten Rechte schütze. Eine Anzahl von Meistern sollte ihm eine Bittschrift überreichen und Tieck ihr Sprecher sein. Den kürzesten Weg schlug man ein, das Geschäft auszurichten. Zu einer bestimmten Stunde des Tages pflegte Friedrich an einem Fenster des Schlosses Sanssouci zu stehen, dann stellten sich die Bittenden unter einen Baum im Garten, auf den der Blick des Königs fallen mußte; nicht selten ließ er sie zu sich hereinrufen und hörte ihre Anliegen. So geschah es auch hier. Friedrich erblickte die Meister, und ließ sie zu sich bescheiden. Tieck durfte ihm die Bittschrift überreichen und noch einige Worte zum Schutze der Zünfte sagen. Der König hörte ihn gnädig an, und entließ ihn mit der Versicherung, auch er sei kein Feind derselben und werde sich der Sache annehmen.
Aber solche Erfahrungen und die Thätigkeit des Tages reichten für die Bedürfnisse des begabten und mit mancherlei Kenntnissen ausgestatteten Mannes nicht hin; er führte dabei auch ein nach innen gekehrtes Leben. In kirchlichen wie in politischen Dingen war er gut Friederichisch gesinnt. Er hielt es mit dem moralischen Wandel und einem redlichen und tüchtigen Handeln, im Uebrigen war er ein Freund der Aufklärung, und pflegte sich die Dinge ohne viele Wunder auszulegen.
Doch in diesem Punkte trat auch die eigenthümliche Sinnesart der Hausfrau hervor. Von ganzem Herzen war sie der alten kirchlichen Gläubigkeit zugethan. Hier am ersten kam es zu gereizten Gesprächen, in denen jeder Theil sich zeigte, wie er war. Der Mann verständig, eifrig, auffahrend, oft derb und handfest, im Hause die rauhe Seite herauskehrend; die Frau sanft, schüchtern, in sich gekehrt, dem Manne gegenüber duldend und beschwichtigend, aber beharrlich. Vor allem war ihr durch Gemüthsart und Erziehung der Glaube eine Herzenssache geworden, und sie ließ sich durch den bald rauhen, bald spottenden Widerspruch des Mannes nicht irre machen. Wenn er sie in den Stunden ihrer stillen Sammlung im Porst'schen Gesangbuch lesend fand, so ging das selten ohne eine Gegenbemerkung von seiner Seite ab. Dann zog er mit seiner hausbackenen Moral ganz ernstlich gegen die alten Kirchenlieder zu Felde, warf ihnen Lüge und Unwahrheit vor, und erklärte sie für überflüssig oder gar schädlich. Am meisten ärgerte er sich an den Liedern, in welchen Christus als Bräutigam der Seele dargestellt wird, besonders wenn sie etwa von Frauen gedichtet waren. Oder mit platter Verständigkeit bemerkte er in Paul Gerhard's Liede »Nun ruhen alle Wälder« gegen den Vers: »Es schläft die ganze Welt«: »Wie kann man dergleichen abgeschmacktes Zeug behaupten! Die ganze Welt schläft nicht! In Amerika scheint die Sonne, da wachen die Leute.« Solchen Einwürfen gegenüber schloß die Frau ihre stille Frömmigkeit nur umsomehr in die Tiefen ihres Gemüths ein.
War gleich diese Art der Aufklärung bei dem Meister Tieck in Fleisch und Blut übergegangen, so fehlte es ihm doch keineswegs an Sinn und Verständniß für höhere Dinge, nur wandte er sich der weltlichen Seite zu. Die ersten glücklichen und kühnen Versuche der deutschen Dichtung seit dem Anfange der siebenziger Jahre hatten einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht und bald sein Herz gewonnen. Wie eine neue Morgenröthe war Goethe's Poesie über der deutschen Literatur aufgegangen. Die einfachen und offenen Gemüther empfanden es alle, hier quelle der Born einer unverfälschten Dichtung. Es spricht für das natürliche Gefühl des alten Tieck, das sich in der harten Schale des werkthätigen Bürgerstandes lebendig erhalten hatte, wenn der schlichte Handwerker erkannte, Goethe sei doch ein ganz anderer Mann als Gellert, Kleist und Gleim. Als später der Streit über die Anerkennung der neuen Poesie heftiger entbrannte und auch dem alten Meister zu Ohren kam, sagte er voll Verdruß: »Was reden denn die Leute, sie verstehen ja diese Bücher gar nicht!« Oder wenn von »Werther« oder »Götz« die Rede war: »Die Andern mögen sich anstellen, wie sie wollen, so etwas können sie doch nicht machen!«
Bei diesem lebhaften Antheil an den neuen Dichterwerken und dem regen Triebe, sich unausgesetzt zu belehren und zu unterrichten, wurde manches gute und nützliche Buch nicht nur gelesen, sondern auch gekauft, und allmälig sammelte sich ein kleiner Hausschatz an, auf den man mit Recht stolz sein konnte. Da fanden sich neben der Bibel, die auch die Aufklärung des Vaters als Grundbuch des Hauses und Lebens in Ehren hielt, und neben der nützlichen Belehrung, die Guthrie's und Grey's »Weltgeschichte« und einige andere historische Bücher gewährten, die erste Ausgabe des »Götz von Berlichingen«, Goethe's Schriften in dem Himburg'schen Nachdruck, die ersten Abdrücke der verwegenen Dichtungen von Lenz, der »Rheinische Most«, einige Wochenschriften und manches Andere der Art.
Auch an dem deutschen Schauspiele, das eben damals selbständig zu werden suchte, fand er vielen Geschmack. Der Zufall hatte ihn sogar mit den Schauspielern zusammengeführt, die er auf den Bretern in der Behrenstraße des Abends tragiren sah. Die Arbeit forderte Ruhe und Erholung, und so war denn Meister Tieck auch den bürgerlichen Vergnügungen nicht abhold. Nachmittags ging er hinaus in eine jener bescheidenen Anlagen vor den Thoren Berlins, wo man bei einem Glase Kottbuser Bier ein sogenanntes Gartenvergnügen, etwa eine Kegelbahn und einige Gevattern und Stammgäste vorfand. Da wurde geraucht, gekegelt, gelacht, mancher handfeste Spaß lief mit unter, und zufrieden mit seinem Dasein, schlenderte man Abends schwatzend und plaudernd wieder nach Hause. Zu den Stammgästen hatten sich auch einige Schauspieler gesellt, mit denen man auf der Kegelbahn näher bekannt wurde. Meister Tieck war vorurtheilsfrei genug, den Verkehr mit der verrufenen Kaste nicht zu meiden. Machte es ihm Vergnügen, die tragischen Helden einmal als gewöhnliche Menschen zu sehen, oder mochten sie durch ihre Späße die Heiterkeit der Gesellschaft erhöhen, genug er stand auf gutem Fuße mit ihnen. Doch bemerkte er an den lockern Gesellen auch Vieles, was seinen strengen Bürgersinn beleidigte, Leichtsinn, Prahlerei, Lüge, Ausschweifung. So kam er denn oft mit der Bemerkung nach Hause: »Die Komödianten (anders nannte er sie nicht) sind doch schlechte, unmoralische Gesellen. Es ist kein Verlaß auf sie!«
Dagegen standen die Gelehrten bei ihm um so höher im Ansehen. Es war nicht das dumpfe Staunen vor einer Masse...