Prolog
Albrecht Dürer erreicht die Nachricht am 17. Mai in Antwerpen. Da ist Luther bereits zwei Wochen wie vom Erdboden verschwunden. Niemand weiß Genaueres über seinen Verbleib, es gibt nur Gerüchte. «Als bald waren 10 pferd do, die fürten verrätherlich den verkaufften frommen, mit dem heyligen geist erleuchteten mahn hinweg, der do war ein nachfolger Christj vnd deß wahren christlichen glaubens. Und lebt er noch oder haben sie jn gemördert, das ich nit weiß»[1], klagt sein Anhänger Dürer verzweifelt. Einen Monat zuvor war Martin Luther auf dem Reichstag in Worms erschienen. Karl V. hatte ihn vorgeladen und verlangt, dass der Mönch, der ihm so hager und eiferglühend gegenüberstand, seine Schriften widerrufe, aber Luther wollte nicht gehorchen. Er widerrief nicht, weil er sich im Recht glaubte. «Es sey dann das ich durch gezeugnus der geschrifft oder aber durch schynlich vrsach (dann ich glaub weder dem Bapst / noch dem Concilio allein / wyl es am tag ligt / das die selben zů mermalen geirret vnd wider sich selbs geredt haben) überwunden würd. Ich bin überwunden durch schrifft / so von mir gefürt vnnd gefangen im gewissen / in dem wort gottes / derhalben ich nit mag noch will widerrůffen / dwyl wider gewissen beschwaerl ich zů handeln vnheilsam vnnd vnfridlich ist.»[2] Solange er nicht durch das Zeugnis der Schrift überzeugt werde oder aber durch stichhaltige Gründe, werde er nicht widerrufen; er glaube weder dem Papst noch den Konzilien allein, es sei hinlänglich erwiesen, dass beide mehrfach geirrt und sich widersprochen hätten. Für ihn gebe es nichts zu widerrufen, erklärte er, er habe nur geschrieben, was ihm sein Gewissen eingegeben hätte.
Unverschämter, selbstbewusster, moderner geht es im mittelalterlichen Jahr 1521 nicht. Mit dem Gewissen hatte in Worms niemand gerechnet, nicht damit, dass ein Mönchlein sich mit diesem windelweichen Argument gegen den mächtigsten Mann der Welt auflehnen würde, der ihn und die Causa Lutheri insgesamt nur als überaus lästige Station auf dem Weg zur Konsolidierung seiner monarchischen Ansprüche betrachtete. Der Papst gönnt ihm die Bestellung zum Kaiser nicht, Frankreich macht ihm seine Rechte streitig, die Türken bedrohen wie immer das Reich, die spanischen Stände zu Hause revoltieren und lassen sich nur mit Hilfe der Heiligen Inquisition niederhalten. Karl V. will dieses schrecklich aufsässige Deutschland so schnell wie möglich wieder verlassen, will aufbrechen zu neuen Taten und neuen Kriegen. Er herrscht über ein Weltreich, das sich von Ungarn bis Südamerika spannt, in dem die Sonne fast nie untergeht, und hat vor sich die deutschen Fürsten, die jeden finanziellen Beitrag für seinen Unterhalt verweigern. Gegen diese weltliche Macht stellt sich der eine einzige Luther als jemand, der nicht von dieser Welt ist, vor der er sich doch verantworten soll und es auf keinen Fall tun wird, schließlich sei er «gefangen im gewissen in dem wort gottes». Widerrufen mag er nicht, «Got helff mir. Amen.»[3]
Der Auftritt auf dem Reichstag in Worms wird ein Weltaugenblick der Rebellion und begründet den Protestantismus. Der siebenunddreißigjährige Dr. Martin Luther (der akademische Titel bleibt ihm sein Leben lang wichtig) zeigt einen bis dahin unerhörten Mannesmut vor Königsthronen, und es ist diese Unerschrockenheit, die ihn zum Stifter einer neuen Religion werden lässt. Bestimmt hat er nicht die Donnerworte gesprochen, die ihm die Überlieferung gern zuschreibt: «Hier stehe ich. Ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen.» Aber so wie er hatte noch niemand mit der Majestät zu reden gewagt, die deshalb verfügte, was fällig und unausweichlich wurde. Wie vom Papst gewünscht, erklärte Karl den Bettelmönch aus Wittenberg zum Ketzer. Seine Schriften wurden verboten, Verleger, die sie trotzdem herausbrachten, bestraft (noch im selben Jahr wurde Luthers wegen in Leipzig ein Drucker hingerichtet), umlaufende Exemplare waren einzusammeln und zu vernichten, ihr Autor galt fortan als vogelfrei.
Doch der Kaiser, eine ganze Generation jünger als sein Widersacher, keineswegs ungebildet, durch seine burgundisch-flandrisch-spanisch-deutsche Herkunft sogar ungleich weltläufiger, unterschätzt die Revolution, die in Deutschland ausgebrochen ist. Nur vier Jahre nach seiner ersten Veröffentlichung ist Martin Luther bereits zum erfolgreichsten Autor in der Geschichte des Buchhandels aufgestiegen. Ende 1519 hat er mit fünfundvierzig Einzelpublikationen eine Auflage von zweihundertfünfzigtausend Stück erreicht. Seine überwiegend lateinisch geschriebenen Texte erscheinen nicht nur in Deutschland, sondern auch in Venedig und Rom.[4] Europas führender Intellektueller, Erasmus von Rotterdam, hat Luthers Thesen, mit denen seine Rebellion begann, nach London an Thomas Morus weitergeleitet, den Berater des englischen Königs. In Briefen, Vorreden, Pamphleten, Schmähschriften und Drucken entwickelt sich schnell eine ungeheure Sekundärliteratur.
Im Kupferstich hat ihn Lucas Cranach als halben Heiligen gezeichnet, ein Bild, das in unendlichen Variationen hinaus in die Welt geht. Hans Holbein der Jüngere huldigt ihm in einer Karikatur als «Hercules Germanicus», die Leichen seiner erschlagenen Feinde vor sich; von der Nase baumelt ihm ein gefesselter Papst. Ulrich von Hutten, der von Maximilian, Karls Vorgänger als Kaiser, zum poeta laureatus gekrönt wurde, appelliert an den Kurfürsten Friedrich den Weisen, sich des «Doctor Martinus Luther, von allen menschen verlassen», anzunehmen. Er empfiehlt zugleich, sich im Kampf gegen das verkommene Rom, das von seinem Rachefeldzug gegen Luther nicht lassen will, der «allerhefftigsten artzneyen» zu bedienen.[5] Der Nürnberger Ratsherr Lazarus Spengler schreibt 1519 eine anonyme «Schutzrede» für Luther, in der es heißt, dass der Leser Luthers ebenso wie jener, der Predigten seiner Anhänger gehört hat, durch die Suche nach Wahrheit frei werde von Gewissensnöten, «vil tzwefliger irsal vnd scrupel verwickelter conscientz entledigt ist»[6]. Und ein Buchhändler in Basel jubelt, nachdem er im Oktober 1518 einen Luther-Sammelband herausgebracht hat, dass er noch kein Buch besser verkauft habe. «Noch niemals hatte ein Autor seine Sache derart rasch, derart umfassend und derart genau dem lesenden Publikum vermitteln können.»[7]
Nach dem Bannspruch, während die Reichsstände noch über ihn beraten und der Kaiser an seinem Verdikt formuliert, verlässt der Ketzer Worms. Der Rückweg und freies Geleit sind garantiert für einundzwanzig Tage, nicht länger. Trotzdem schickt Luther den kaiserlichen Herold, der ihn begleitet, bald zurück, er reist weiter ohne Schutz, vogelfrei. Auch davon hat Albrecht Dürer erfahren und fürchtet das Schlimmste: «O Gott, ist Luther todt, wer wird uns hinfürt das heilig evangelium so clar fürtragen! […] O ihr alle fromme christen menschen, helfft mir fleissig bewainen diesen gott geistigen menschen.»[8]
Luther wusste aber sehr wohl, wie ihm geschah, meldete er doch sein vorläufiges Schicksal rechtzeitig «dem fursichtigen Meister Lucas Cranach» in Wittenberg, dem er einen nicht geringen Teil seines Ruhms verdankte. Der solle sich nicht sorgen, wenn der Mönch nicht nach Wittenberg zurückkomme. «Ich laß mich eintun und verbergen, weiß selbst noch nicht wo.»[9] Ihr gemeinsamer Schutzherr und Arbeitgeber, Kurfürst Friedrich von Sachsen, hatte sich zwei Tage zuvor mit seinen Räten über das weitere Schicksal Luthers besprochen. Es wird also zu einem Überfall kommen, Berittene werden Luther festnehmen und entführen, damit er vor den kaiserlichen Häschern wie den frommen Eiferern verborgen ist und sein Kurfürst sich nicht rechtfertigen muss für ihn.
Wohl ist dem Schutzhäftling dabei nicht, doch er hat keine andere Wahl. Unweigerlich kommt ihm Christus in den Sinn, der zu seinen Jüngern spricht: «Uber ein kleines / so werdet ir mich nicht sehn.» Er sagt es bei Joh 16,16, ehe er in Jerusalem einzieht, wo ihm bald der Prozess gemacht und er hingerichtet wird.
Luther aber wird kein Leid geschehen. Hingerichtet wurde gut hundert Jahre vorher der böhmische Prediger Jan Hus, weil er sich dem Papst widersetzt hatte. Luther betrachtet Hus als Märtyrer und bedauert fast, dass die Vorladung auf den Reichstag für ihn so glimpflich ausgegangen ist; dem großen Auftritt hätte, wie er etwas selbstgefällig klagt, ein noch größerer Abgang folgen können. Lieber hätte er von Tyrannenhand den Tod erlitten, schreibt er Cranach, doch müsse er «guter Leut Rat nicht verachten, bis zu seiner Zeit»[10]. Er hat auf dem Höhepunkt seines Ruhms zu verschwinden, was ihn erst recht berühmt machen wird.
Dem Kaiser und den Reichsständen schickt er noch mal ein Protokoll seines Auftritts und wiederholt, was er gesagt hat oder sagen wollte: «So ich verweiset wurd, das ich solt geirret haben, wolte ich alle irtumb widerruffen und der erst sein, der meine bücher in das fewr wolt werfen und mit den füssen darauf tretten.»[11] Wenn sich erweisen sollte, dass ich geirrt habe, dann, bitte, dann könnt Ihr meine Bücher ins Feuer werfen oder sie mit Füßen treten – er würde es ihnen gleichtun. Aber es gibt ja keinen Grund, seine Bücher ins Feuer zu werfen. Sie sind ohne Irrtum, weil sie aus der Schrift kommen, und er nur das geschrieben hat, was ihm sein Gewissen befahl. Frech vergleicht Luther sich auch in diesem Abschiedsbrief an seine weltlichen Herren mit...