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E-Book

Pop

Ein Panorama der Gegenwart

AutorJens Balzer
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783644122413
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR
Pop - so viel mehr als nur Musik Von Helene Fischer bis zu Sunn O))), von den Waldschraten des Neo-Folk bis zum queeren Pop von Antony, vom Männlichkeitskult des Hip-Hops bis zum Minimal-Technorausch im Berliner Berghain: Popmusik ist die wichtigste Kunstform der Gegenwart, keine andere reagiert so direkt und schnell auf die Verfassung unserer Zeit. Jens Balzer liefert eine Gegenwartsdiagnose des Pop: einer Musik, die das rasende Tempo der digitalisierten Kultur spiegelt, das Glück und die Qual endloser Möglichkeiten, die Sehnsucht nach Ruhe ebenso wie den Wunsch, dem Leben erst richtig Fahrt zu geben. Jeder Künstler erschafft sich seine eigene Welt zwischen Sound und Performance, sanften Klängen und schrillem Trash, Minimalismus und Größenwahn. Doch wie finden wir uns in dieser Vielfalt künstlerischer Welten zurecht? Was unterscheidet guten von schlechtem Pop? Und was verrät er uns über die Zeit, in der wir leben? Der renommierte Popkritiker Jens Balzer ist stets ganz nah dran, ob als Konzertbesucher, tanzend im Club oder in der Begegnung mit Künstlern und Bands. In diesem Buch skizziert er Strömungen, Charaktere, Trends und Konstellationen der letzten zehn Jahre und lässt so ein energiegeladenes Panorama des aktuellen Pop entstehen - der so viel mehr ist als nur Musik.

Jens Balzer, geboren 1969, ist Autor und Kolumnist, u.a. fu?r die «Zeit», «Rolling Stone», den Deutschlandfunk und radioeins. Er war stellvertretender Feuilletonchef der «Berliner Zeitung» und kuratiert den Popsalon am Deutschen Theater. 2016 erschien sein vielgelobtes Buch «Pop», 2019 «Das entfesselte Jahrzehnt. Sound und Geist der 70er», über das der «Tagesspiegel» schrieb: «So lehrreich wie unterhaltsam ... Am Ende ist man um nie geahnte Erkenntnisse reicher - und wünscht sich, dass sich der Autor bald das nächste Jahrzehnt vornehmen möge.»

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Leseprobe

1. Was ist nur aus den Heroen des Pop geworden? The Strokes, The Libertines und der Niedergang der männlichen Herrschaft


Ich persönlich bin ja ganz glücklich, wenn ich einmal ordentlich erniedrigt werde. In Popkonzerten bietet sich dazu aber nur noch selten Gelegenheit; man findet kaum mehr Künstler, die eine Erniedrigung sachgerecht durchzuführen verstehen – die also derart schön, stark, dominant, schillernd und arrogant sind, dass man sich in ihrem Angesicht schäbig, klein und nichtswürdig fühlen kann. Darin zeigt sich ein Traditionsbruch: In den sechziger, siebziger, achtziger und neunziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts wurde die Popmusik von unerreichbaren, sehr schönen oder zumindest sehr wilden oder seltsamen Männern dominiert, die weit jenseits des mittelmäßigen und kleinen, unansehnlichen und weitgehend unwilden Lebens ihres Publikums zu existieren schienen, von Elvis Presley bis zu David Bowie, von Mick Jagger bis zu Michael Jackson, von Prince bis zu Kurt Cobain. Eine Weile lang pflegte man diese Sorte von Männern auch als «Superstars» zu titulieren.

Kurt Cobain war Anfang der neunziger Jahre der letzte Neuzugang in diese Gilde der heroischen Männer. Mit seiner Gruppe Nirvana und dem von ihr popularisierten Grunge-Genre brachte er noch einmal den breitbeinigen, maskulin schwitzenden Rock ins Zentrum der populären Musik; doch die Botschaften, mit denen er das Medium füllte, kündeten vor allem von einer zutiefst Rock-untypischen, rundum verunsicherten und mit sich selbst beschäftigten Männlichkeit. Insbesondere durch sein ausgiebig vorgetragenes Leiden an der eigenen Größe ruinierte Cobain die für den heroischen Pop-Maskulinismus wesentliche Aura der dominanten Unnahbarkeit. Er präsentierte sich als phallischer Charakter, gab dabei jedoch nur einen kläglichen, geknickten Phallus ab; einen Phallus, der nicht eingeführt und gestoßen, sondern gestreichelt und getröstet werden wollte; einen Phallus, der nicht nach einer Sexualpartnerin rief, sondern nach Mama.

Nachdem Kurt Cobain sich 1994 mit einer Schrotflinte erschossen hatte, zeigte das Publikum lange Zeit kein Interesse daran, den auf diese Weise vakant gewordenen Posten neu zu besetzen. Doch selbst wenn man den damit eröffneten Konkurs des klassischen maskulinen Rock-Heroismus – wie ich es im Folgenden tun werde – als sexualemanzipatorischen Fortschritt beschreibt, kommt man nicht umhin festzustellen, dass mit der dazugehörigen Dialektik aus auratischer Dominanz und bewundernder Demut auch ein wesentlicher Teil der überkommenen Pop-Erotik verlorengeht: jene Erotik, die aus der Lust entspringt, sich Künstlern zu unterwerfen, die überlebensgroß wirken, «larger than life».

Zum bislang letzten Mal habe ich eine gelungene Verschränkung von dominantem Rock-Maskulinismus und masochistischem Publikumsverhalten bei einem Konzert der New Yorker Gruppe The Strokes gesehen. Im März 2002 treten sie in der Berliner Columbiahalle erstmals vor einer deutschen Zuhörerschaft auf, um ihr gerade erschienenes Debütalbum «Is This It» vorzustellen; diesem ging eine klassisch musikindustriell geschulte, minutiös durchgeplante Strategie des Schürens von Erregung und der Inszenierung von Aura voran. Dazu gehörten Konzerte in winzigen Klubs und Kunstgalerien in New York für wenige Glückliche, streng limitierte, ausgesucht rätselhafte Gesprächstermine sowie der systematische Aufbau eines überhitzten Rockstar-Geweses durch kontrolliert gestreute Gerüchte über die sexuelle Orientierung der Künstler, über Schrullen, Perversionen oder sonst irgendwie am vermuteten Mehrheitsempfinden vorbeilaufende menschliche und künstlerische Idiosynkrasien. Auf dem Cover der Platte sieht man von der Seite einen weiblichen Hintern, auf den gerade ein Handschuh aus Lackleder patscht.

Zu dieser erotisch-mysteriösen Gesamtinszenierung passt auch das gleißende Konzert, das die Strokes in der Columbiahalle vor einem besinnungslos jubelnden Publikum geben. Der Auftritt dauert kaum länger als eine Dreiviertelstunde, in dieser Zeit rockt die Band sich weitgehend kommentarlos und hastig durch ihr vollständiges Repertoire. Dabei handelt es sich um vierzehn aus ein bis drei Akkorden zusammengesetzte Dreiminutenstücke, nur gelegentlich wird die Abfolge der Songs von unverständlichen hingenuschelten Bemerkungen des Sängers Julian Casablancas unterbrochen. Dann endet das Programm mit einem Stück namens «Take It Or Leave It».

Auch das ist Programm. Die Strokes geben nicht nur keine Zugabe; so eindeutig zugabenuntauglich ist ihr Auftritt gewesen, dass das bis dahin so begeisterte Publikum sich diskussions- und widerstandslos, von greller Hallenbeleuchtung beschienen und von schrecklichem Easy-Listening-Gedudel bedröhnt, in sein Schicksal fügt und einander zufrieden zumurmelnd den Ausgängen zustrebt. Lange schon, denkt man an dieser Stelle, sind die Leute von Rock-’n’-Rollern nicht mehr so abweisend behandelt worden; und lange schon haben die Leute sich nicht mehr dermaßen darüber gefreut.

2002 sind die Strokes noch sehr jung, fünf frisch erblühte dunkelhaarige Schlackse mit allerliebsten lockigen Wuschelfrisuren und sauber rasierten knabenhaften Kinnen; besonders dieses letzte Merkmal wird, wie wir noch sehen werden, im weiteren Fortgang der Popgeschichte von Bedeutung sein. Sie sind wahlweise in zu enges schwarzes Leder gekleidet oder in zu enge schwarze Hemden, die über der Hose getragen werden: So schön sind sie, dass sie sich jede Art von Arroganz leisten können. In keinem Moment erwecken sie denn auch nur den Eindruck, als interessierten sie sich für den zu ihren Füßen umherhopsenden Mob; nie darf das Publikum glauben, es könne der Band etwas zurückerstatten von der Energie und der Freude, die sie verschenkt.

Wenn sich Julian Casablancas nicht gerade mit seinem Mikrophon an den Bühnenrand schleppt, um sich in abrupten Energieschüben die Seele aus dem Leib zu singen und zu seufzen, schlurft er schub- und energielos und dem Publikum abgewandt zwischen seinen vier Mitmusikern umher. Untrennbar sind in diesen Gesten der Coolness Verausgabung und Gleichgültigkeit miteinander verbunden; dies gilt auch für den melodischen Krach, den die Band produziert. In den Gitarrenarrangements wird kaum zwischen Strophe und Refrain unterschieden, und noch in Momenten größter Intensität tuckert das Schlagzeug schnöde und geistesabwesend dahin. Dennoch besitzen die Songs der Strokes eine so ungeheure Dynamik, dass jeder einzelne von ihnen das Publikum in die Raserei treibt. Man kann sich vollständig in ihnen verlieren; ihre rätselhafte Aura versteht freilich nur, wer sich ein wenig aus der hopsenden Masse entfernt. Dann sieht man, dass diese Musik den Menschen zugleich sehr nah ist und sehr fern; dass man auf die Bühne wie durch ein Okular guckt, dessen Brennweite sich nicht recht einstellen lässt.

Wie in jeder masochistischen Liebesbeziehung wechseln sich Launen und Gemütslagen stetig ab. Nicht nur der Sänger, auch sein Publikum schwankt zwischen Verausgabung und äußerster Erschöpfung. Darum fällt die Spannung in dem Moment, in dem die Band die Bühne verlässt, so schlagartig in sich zusammen. Bis dahin aber wird sie von der sonnenbebrillten Coolness der Strokes bis ins Äußerste gespiegelt und verstärkt.

 

Wenn man mit anderthalb Jahrzehnten historischer Distanz auf dieses Konzert zurückblickt, fühlt man sich wie in einer sehr fremden Welt. Zum letzten Mal wurde hier eine sehr junge, sehr männliche, sehr heterosexuelle Rockband mit allen Mitteln der traditionellen Musikindustrie in das Aufmerksamkeitszentrum der gitarrenrockliebenden Jugend gehievt. Es gab keine Testphase, die Band wurde als ein wie aus dem Nichts erscheinendes Ereignis inszeniert. Das Ereignis war überlebensgroß, so groß, dass man schon beim ersten Anblick ahnte: Es kann ihm kein Überleben beschieden sein. Und tatsächlich, schon wenig später war davon nichts mehr übrig geblieben.

Erst einmal paradierte indes eine lange Reihe von Epigonen an der geneigten Pop-Hörerschaft vorbei: Kaum ein Monat verging in den folgenden etwa zwei Jahren, in dem nicht irgendeine ähnlich gestrickte musizierende Gruppe von jungen heterosexuellen Männern als «die neuen Strokes» auf die Bühne geschickt wurde; Gruppen, an deren Namen sich schon sehr bald kaum noch jemand erinnerte. Viele von ihnen trugen wie The Strokes ein «The» im Namen, weswegen eine Weile auch von den «The-Bands» die Rede war: The Hives, The Vines, The Von Bondies, The Datsuns und The Kills. Es traten aber auch geistesverwandte Gruppen ohne das «The» auf wie Black Rebel Motorcycle Club, Interpol oder – etwas später, um das Jahr 2005 herum – die Arctic Monkeys, Franz Ferdinand, Bloc Party und Art Brut.

All diese Gruppen verglühten ebenso schnell wieder, wie sie aufleuchteten; am schnellsten und schauderlichsten verglommen jedoch The Strokes. Kein weiteres auch nur annähernd erregendes Album ist ihnen mehr gelungen: Auf ihrem zweiten Werk «Room on Fire» behalfen sie sich 2004 mit einer Variation des Debüts; «I Wanna Be Forgotten, I Wanna Be Forgotten», singt Julian Casablancas im Eröffnungsstück, und das Publikum dankte es ihm damit, dass es die Strokes in der Tat schnell vergaß. Auf der dritten Platte «First Impressions of Earth» versuchten sie sich 2006 an einer Art Progressive-Rock-Variante; dabei tauschten sie ihre kurzen, verschwenderisch energiereichen Songs gegen längere, scheinbar raffinierter arrangierte, in Wahrheit jedoch vor allem energetisch medioker eingepegelte Kompositionen ein, die die Verschwendung nicht mehr in der Rasanz suchten, sondern in pseudoschlauer Ornamentik und Verfeinerung.

Man mochte dies als...

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