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Luther und die Juden; Luther, der Protestantismus und der Holocaust

Vorträge zum 500. Reformationsgedenken 2017

AutorGünter Brakelmann
VerlagBooks on Demand
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl96 Seiten
ISBN9783752863215
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis3,49 EUR
Die beiden vorliegenden Beiträge sind im Rahmen der Luther-Vorträge im Reformationsjahr 2017 in der Evangelischen Stadtakademie Bochum gehalten worden. Sie stießen auf ein so großes Interesse, dass sie in der Reihe Evangelische Perspektiven veröffentlicht werden. Der Autor konnte dabei zurückgreifen auf ältere Veröffentlichungen, die aber inhaltlich entscheidend erweitert wurden. Der zweite Vortrag greift in die auch aktuell wieder geführte Diskussion um die Mitverantwortung Luthers für den nationalsozialistischen Holocaust ein. Günter Brakelmann kommt es zentral darauf an, dass man klar den christlichen Antisemitismus unterscheidet von dem Rassenantisemitismus, der die ideologische Grundlage für die physische Vernichtung der Juden war. ,Es ist nicht zu bestreiten, dass große Teile des Protestantismus im 19. und 20. Jahrhundert durch ihren politischen und kulturellen Antisemitismus, häufig gepaart mit dem religiösen Antijudaismus, die NS-Verfolgung der Juden argumentativ und psychologisch mit vorbereitet haben. Aber nirgends - bei keinem Theologen oder einer kirchlichen Gruppe - findet sich im Kaiserreich oder in der Weimarer Republik ein Rassenantisemitismus, der die ideologische Begründung für die physische Vernichtung der Juden abgibt.´ Eine heute wieder zu hörende Ahnenreihe von Luther über Hitler zum Holocaust kann ohne weiteres nicht konstruiert werden. In dieser klaren Unterscheidung wird aber auch deutlich, dass der Protestantismus eine Mitverantwortung für die nationalsozialistische Judenpolitik hat. Das Verschränkungsverhältnis von Protestantismus und Drittem Reich wird klar herausgearbeitet. Die evangelische Kirche in ihrer Gesamtheit hat nie ein deutliches Wort weder gegen den fortschreitenden Entzug der Rechte noch gegen die folgenden NS-Verbrechen gesagt. Nur einzelne Pfarrer und evangelische Laien haben das Schweigen ihrer Kirche durchbrochen. Für diese kritische Unterscheidung, die sowohl für unser Luther-Bild Bedeutung hat wie auch die für die bleibende Mitverantwortung der Kirche bis zum notwendigen Widerstand gegen jede Form des erneut offen zu Tage tretenden Antisemitismus, dankt die Evangelische Stadtakademie Bochum ihrem Referenten Günter Brakelmann.

Günter Brakelmann wurde am 3. September 1931 in Bochum geboren. Er studierte evangelische Theologie, Sozial- und Geschichtswissenschaften an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen und der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster. Nach seiner Promotion 1959 wurde Brakelmann zunächst Berufsschul- und Studentenpfarrer in Siegen. Von 1962 bis 1968 war er Dozent an der Evangelischen Sozialakademie in Friedewald. 1967 wurde er Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Christliche Gesellschaftslehre der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster, bevor er 1970 zum Direktor der Evangelischen Akademie Berlin berufen wurde. 1972 nahm er einen Ruf auf den Lehrstuhl für Christliche Gesellschaftslehre an der Ruhr-Universität Bochum an, auf dem er bis zu seiner Emeritierung 1996 blieb. Von 1980 bis 1996 war er Direktor des Sozialwissenschaftlichen Instituts (SWI) der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), das bis 2004 in Bochum angesiedelt war. Brakelmann, der in verschiedenen Gremien der westfälischen Landeskirche, der Evangelischen Kirche in Deutschland und der SPD, der er seit 1957 angehört, tätig war, war Mitglied verschiedener Gremien des Westdeutschen Rundfunks und des Programmbeirats für das Erste Deutsche Fernsehen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen seit seiner Emeritierung in der Geschichte des Antisemitismus und der Geschichte des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus. 2000 wurde Günter Brakelmann mit dem Hans-Ehrenberg-Preis der Hans Ehrenberg Gesellschaft und des Evangelischen Kirchenkreises Bochum ausgezeichnet.

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Leseprobe

Luther, der Protestantismus und der Holocaust


In seiner Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ (1543) fordert Luther die Obrigkeiten auf, folgendes zu unternehmen:

  1. Anstecken der Synagogen und Schulen
  2. Zerstörung ihrer Häuser und Konzentration in Judenhäusern
  3. Konfiskation der Betbücher und des Talmuds
  4. Verbot der Lehre durch Rabbiner
  5. Aufheben des Geleites auf Straßen und des Aufenthaltes auf dem Lande
  6. Verbot des Wuchers, Beschlagnahmung ihrer Gelder
  7. Arbeitspflicht für Juden und Jüdinnen

Seine Erklärung dazu lautet: „Unseren Oberherren, die Juden unter sich haben, wünsche ich und bitte, dass sie eine solche scharfe Barmherzigkeit gegen diese elenden Leute üben wollten … Will das nicht helfen, müssen wir sie wie die tollen Hunde ausjagen, damit wir nicht ihrer gräulichen Lästerung und aller Laster teilhaftig mit ihnen Gottes Zorn verfielen und verdammt werden … Meines Gutdünkens wills da hinaus: sollen wir von der Juden Lästerung rein bleiben und nicht teilhaftig werden, so müssen wir geschieden sein und sie aus unserem Lande vertrieben werden. Sie mögen daran denken, in ihr Vaterland zu kommen (nach Palästina auswandern). Dann dürfen sie nicht mehr vor Gott über uns schreien und lügen, dass wir sie gefangen halten: wir auch nicht klagen, dass sie uns mit ihrem Lästern und Wucher beschweren. Dies ist der nächstliegende und beste Rat, der beide Partner in solchem Fall sichert … Wenn ich Macht hätte über die Juden, wie unsere Städte und Fürsten haben, wollte ich diesen Ernst mit ihrem Lügenmaul spielen.“ (Bienert, 154)

Diese Maßnahmen sollten dazu dienen, die Christen von der jüdischen Lästerung in Glaubensfragen und vom jüdischen Wucher zu befreien. Sie sollten dazu dienen, in den protestantischen Ländern und Stadtstaaten die Voraussetzungen für einen inneren religiösen und gesellschaftlichen Frieden zu schaffen.

Anfangs ist zu sagen, dass keine protestantisch sich verstehende Obrigkeit vom Ausgang der Reformationszeit an bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein diese Forderungen zum staatlichen Gesetz und zu staatlicher Praxis gemacht hat. Das schließt nicht aus, dass es spontane örtliche Pogrome, physische Angriffe auf einzelne Juden oder auf Gruppen von Juden, Belästigungen und Beschimpfungen und vieles mehr durch die christliche Bevölkerung gegeben hat. Es hat durch alle Jahrhunderte hindurch eine alltägliche Judenfeindschaft, einen christlichen religiösen Antijudaismus und eine ökonomische, politische und kulturelle Judenfeindschaft gegeben. Auch in deutschen Landen hat es eine jüdische Leidensgeschichte gegeben.

Aber – und das ist die andere Seite – wir haben Geschichte nur in ihren Widersprüchen: es hat einen von einzelnen Christen und Juden getragenen langen Kampf um die Emanzipation der Juden, um ihre rechtliche Gleichstellung gegeben, die z. B. in Preußen zu zwei entscheidenden Rechtsformulierungen geführt hat:

Emanzipations-Edikt vom 11. März 1812:

s. Einleitung u. §§ 1, 3, 7, 8, 9, 20, 21– 25, 30, 39 (Huber, Bd. 1, 45 ff.)

Die Juden sollen „gleiche bürgerliche Rechte und Freiheiten mit den Christen genießen“. „Sie können daher akademische Lehr- und Schul-, auch Gemeindeämter, zu welchen sie sich geschickt gemacht haben, verwalten.“

3. Juli 1869: „Alle noch bestehenden, aus der Verschiedenheit des religiösen Bekenntnisses hergeleiteten Beschränkungen der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte werden hierdurch aufgehoben. Insbesondere soll die Befähigung zur Teilnahme an der Gemeinde- und Landesvertretung und zur Bekleidung öffentlicher Ämter vom religiösen Bekenntnis unabhängig sein.“ (HH 2, 428 f.)

Vorher wurden nach der Gründung des Norddeutschen Bundes folgende Gesetze erlassen: Freizügigkeitsgesetz – freie Niederlassung – Möglichkeit des Erwerbes von Grundstücken – Aufhebung des Verbotes der Eheschließung zwischen Juden und Christen u. a.

Es ist die bürgerlich-liberale Emanzipationsbewegung im 19. Jahrhundert, zumeist getragen von liberalen Protestanten, die – geleitet von Prinzipien der philosophischen und politischen Aufklärung – in Kombattantenschaft mit jüdischen Denkern und Politikern die rechtliche Emanzipation der Juden erkämpft haben. Diese rechtliche bürgerliche Rechtsgleichheit ist im Kaiserreich und in der Weimarer Republik trotz der sich in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts bildenden antisemitischen Bewegungen durch keine deutsche Regierung und durch kein deutsches Parlament bis 1933 aufgehoben worden. Weder der theoretische noch der praktische Antisemitismus hat trotz seiner nicht geringen Bedeutung im gesellschaftlichen und kulturellen Leben wie in seinem zahlreichen Schrifttum politisch-weltanschaulich die Mehrheit der Deutschen je bestimmt.

Das bedeutet: Eine konsequente Anwendung von Luthers judenfeindlichen Postulaten hat in der deutschen Geschichte bis 1933 keine große Chance gehabt.

Wie steht es nun mit dem von Christen getragenen politischem Antisemitismus, der im Kaiserreich seine entscheidende Figur in Adolf Stoecker (1835 – 1909) gehabt haben dürfte? Dieser gehört zu der sich in den siebziger und achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts bildenden Vielzahl von antisemitisch eingestellten Professoren, Journalisten und Parteien. Zwischen 1870 und 1882 erscheint eine Flut von Büchern, Broschüren und Zeitungsartikeln gegen die zeitgenössischen modernen Juden, die als fremdstämmige Rasse mit ihrem Geist und mit ihrer Praxis tief in die überkommene deutsch-germanische und deutschchristliche Lebens- und Denkkultur eingedrungen seien und sie zu zerstören drohten.

Es sind in Sonderheit politisch-konservative Denker, Journalisten und Politiker, die gegen das moderne emanzipierte, politisch-liberale Judentum polemisieren. Für sie ist das moderne emanzipierte und säkulare Judentum, das sich von seiner traditionellen Religion schon längst verabschiedet hat, Träger eines Geistes, der einen konsequenten liberal-ökonomischen Besitzindividualismus vertritt und den Sinn des Lebens in der persönlichen Bereicherung sieht. Sie argumentieren: Die Juden sind durch Bismarcks Wirtschaftspolitik die entscheidende Trägerschicht des Kapitalismus geworden: Ihre Domäne sind Banken, von denen die industrielle und landwirtschaftliche Produktion sowie der Großhandel abhängig sind. Sie sind zugleich die Herren der Börsen und betätigen sich als Börsenspekulanten. Auch die meisten Fabrikanten und Händler sind zumeist Juden. Politisch gehören sie zur Nationalliberalen Partei, die einen sozialen Staatsinterventionismus ablehnt. Gegen Bismarcks judenfreundliche Politik richtet sich die Polemik der konservativen Kreise, die ihre traditionelle Vormachtstellung im Staat, in der Gesellschaft und in der Ökonomie bedroht sehen. Was nun auffällt, ist dies: Das Judentum als Religion interessiert diese konservative Fraktion am Rande, ihr Gegner ist das ökonomisch und politisch immer stärker werdende zeitgenössische assimilierte und emanzipierte Judentum.

Stoeckers Antisemitismus

1879 greift Stoecker in die Berliner Judendebatte ein. 1880 unterschreibt er die sog. Antisemitenpetition, die von Bismarck fordert,

„1. die Masseneinwanderung von Juden, besonders von Osten her, zu erschweren; 2. die Geschäftszweige, welche, wie Börsen, Banken und Zeitungswesen, von den Juden und den zu jüdischen Anschauungen verführten Individuen zur Ausbeutung des deutschen Volkes benutzt werden können, kontrolliert und möglichst hoch besteuert werden; 3. die amtlichen Berufskreise, deren Autorität durch das Eindringen jüdischer Anschauungen gefährlich wird, etwa mit dem Rechte der Wahl … gesetzliche Garantien für die völlige Ausschließung aller Juden von obrigkeitlichen Ämtern und Befugnissen geboten werden.“ (Br. Stoecker 2, 53)

Stoecker gerät mit seinem „christlichen Antisemitismus“ in den achtziger Jahren in die Auseinandersetzung mit den radikalen antisemitischen Parteien und Gruppierungen. Mit seiner im Jahre 1878 gegründeten Christlich-Sozialen Arbeiterpartei, die zur Deutschkonservativen Partei gehörte, steht er in ständiger politischer Auseinandersetzung mit der Vielzahl radikaler antisemitischer Positionen. 1889 formuliert er in einem Flugblatt sein Programm. Darin steht unter anderem:

  • Einschränkung der Anstellung jüdischer Richter nach der Verhältniszahl der jüdischen Bevölkerung
  • Entfernung der jüdischen Lehrer aus den Volksschulen
  • Da Aufhebung der Emanzipation nicht möglich ist, Brechen der jüdischen Übermacht im Erwerbsleben durch soziale Reformpolitik
  • Änderung des Aktiengesetzes
  • Einführung einer Börsensteuer und von Wuchergesetzen, Verbot des Hausierhandels

„Alles, was gegen die rücksichtslose Gewinnung der jüdischen Geldmacht gerichtet ist, muss konsequent getan werden.“ (Br. Stoecker 2, 193 f.) Und noch dieses: „Gegen das...

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