2 VERFÜGUNGSMACHT
Brüssel, im September 2008 Die Europäische Kommission umfasst derzeit 27 Mitglieder, einschließlich des Präsidenten. Sie werden von den jeweiligen EU-Staaten nach Zustimmung durch das Europäische Parlament ernannt. Das jüngste Mitglied ist 47 Jahre und das älteste 71 Jahre alt. Ein Drittel der Mitglieder der Kommission sind Frauen. Neunzehn der Kommissionsmitglieder stammen aus Ländern, die in der Zeit des Kalten Krieges dem „Westen“ zugerechnet wurden, und acht Mitglieder kommen aus Staaten, die bis zur Wende im Jahr 1989 dem kommunistischen Machtbereich angehörten.
Die Lebensläufe der Kommissare spiegeln die Jahrzehnte währende politische Teilung Europas wider: So beschreibt der tschechische Kommissar Spidla in seinem Curriculum vitae, was er zwischen 1976 und 1989 erlebt hat: „In dieser Zeit machte eine ehrenhafte Person in meinem Land in der Tat keine besondere Karriere. Deshalb habe ich nach meinen Studien eine Reihe von Positionen in unterschiedlichen Bereichen ausgeübt, häufig als einfacher Arbeiter: Sägewerk-Arbeiter, Kulissenschieber, Archäologe, Bediensteter im Bereich Naturschutz und Umwelt, Bauarbeiter, öffentlicher Bediensteter im Bereich der Denkmalpflege.“ Seine Kollegen aus dem Westen waren in dieser Periode beruflich dagegen schon lange auf dem Weg nach oben, konnten sich frei politisch betätigen und waren keinen Reisebeschränkungen unterworfen. Nicht nur die Kommissare haben einen vielfältigen kulturellen und soziologischen Hintergrund, sprechen verschiedene Sprachen und bringen unterschiedliche Mentalitäten mit. Das Gleiche gilt auch für die Bediensteten der Kommission und anderer europäischer Einrichtungen. Wer in „Europa“ Leitungsfunktionen ausübt, muss diese Verschiedenheit seiner Mitarbeiterschaft in seiner täglichen Arbeit berücksichtigen.
Sie haben es in Ihrem Unternehmen oder in Ihrer Organisation als Chef vielleicht nicht mit Belegschaftsmitgliedern aus vielen Nationen zu tun. Aber auch wenn Ihre Mitarbeiter nur aus einem Land stammen, so unterscheiden sie sich, wie am Beispiel der Kommissare in die Brüssel gezeigt, nach ihren Lebensläufen, sozialer Herkunft, Alter, Geschlecht, Bildung, Temperament, Fähigkeiten, Geschmack, Mentalitäten, Sitten und Gebräuchen, individuellem Habitus, Interessen und vielem anderen, was zur menschlichen Persönlichkeit gehört. Das macht den täglichen Umgang mit Ihren Mitarbeitern nicht gerade einfach. Gibt es eine goldene Regel, wie man es richtig macht? Manche Ratgeber empfehlen, jeden so zu behandeln, wie man selbst behandelt werden möchte. Das würde aber bedeuten, sich selbst zum Maßstab aller Dinge zu nehmen. Also nach der Devise: Wenn ich einen derben Witz über mich vertrage, dann muss das auch ein anderer über sich können. Ergo kann ich auch mal mein Gegenüber hochnehmen, ohne dass er gleich beleidigt sein darf.
Wenn Sie so vorgehen, werden Sie jedoch immer wieder Leute verprellen und sich hinterher konsterniert fragen: „Was hat der nur“? Benutzen Sie deshalb folgendes Rezept für die Behandlung anderer Menschen: „Behandle jeden so, wie er behandelt werden möchte, und zwar seiner Individualität und hierarchischen Stellung nach.“ Sie müssen sich also die Mühe machen, herausfinden, mit welchen Mitteln Sie den anderen packen können, damit er Sie versteht und das tut, was Sie von ihm wollen. Das setzt Fingerspitzengefühl voraus, Verständnis für andere Kulturen und einen guten Schuss Menschenkenntnis.
Ein geschicktes Beziehungsmanagement ist einer der wichtigsten Schlüssel für Ihren Machterhalt.
Das Arbeitsleben ist für den Menschen einerseits eine Bühne, um seine Talente zur Entfaltung zu bringen. Auf der anderen Seite stellt die Berufstätigkeit nach Kindheit, Schule und Ausbildung den größten und den zeitlich längsten Eingriff in die persönliche Freiheit des Einzelnen dar. Die Notwendigkeit, seinen Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen, zieht die Abhängigkeit von Dritten nach sich, sei es von einem Arbeitgeber oder von Kunden, wenn man selbständig ist. Immer gibt es jemanden, der einem kraft seiner Machtstellung sagen darf, was man zu tun oder zu lassen hat. Das ist nicht immer angenehm.
Wenden Sie die Erkenntnis der Abhängigkeit – auch Ihrer eigenen – auf Ihre Machtausübung an: Ihre Machtstellung wird hautnah von denjenigen Menschen erlebt, die Ihnen direkt unterstellt sind. In Ihrer Position sind Sie nach dem Arbeitsrecht Disziplinarvorgesetzter und damit weisungsbefugt. Das heißt, der Untergebene ist verpflichtet, Ihre Anordnungen zu befolgen. Weigert er sich, dürfen Sie Sanktionen ergreifen, die je nach Schwere des Falles bis zur Entlassung des Arbeitnehmers führen können. Sie haben damit die Verfügungsmacht über Art und Menge der Arbeit, die der Bedienstete zu verrichten hat, sowie über die Zeit, in der sie zu erledigen ist.
Das ist die rechtliche Situation. Sie ist jedoch nur ein Teil der Wirklichkeit. Ihre Mitarbeiter sind zwar gehalten, Ihre Aufträge zu erfüllen. Mit welchem Engagement sie das tun, hängt jedoch zum großen Teil davon ab, wie Sie ihnen gegenübertreten. Als Führungskraft ist Ihnen der große Einfluss bewusst, den Sie auf das Betriebsklima und damit, wirtschaftlich gesehen, auf die Produktivität Ihres Arbeitsbereichs haben. Wenn Sie nach dem Prinzip von „Befehl und Gehorsam“ verfahren oder mit Angst regieren, werden Ihre Leute schon bis zu einem gewissen Grad parieren und Sie erreichen kurzfristig Erfolge – vielleicht.
Aber fragen Sie sich gelegentlich einmal, ob es für Ihre langfristige Machtstrategie und Ihr Fortkommen klug ist, den Mitarbeitern ständig ihr Unterworfensein vor Augen zu führen, mit der Folge, dass sie nicht ihre volle Leistung bringen. Wäre es nicht besser, wenn Ihre Leute Ihnen freiwillig folgten und ihr Bestes geben, weil Sie ein „guter“ Chef sind (was nicht „Weichei“ heißt!). Lesen Sie nachstehend, was Benedikt von Nursia zu den Eigenschaften des idealen Vorgesetzten geschrieben hat und prüfen Sie, ob Sie diesem Vorbild entsprechen und – falls Sie es jetzt noch nicht tun – wie Sie ihm näher kommen können. Dieser Abschnitt lädt Sie nicht nur zum Nachdenken über Ihre Rolle als Führungskraft ein, sondern gibt Ihnen darüber hinaus Tipps, wie Sie bestimmte „Chefsachen“ zu Ihrem Nutzen erledigen, nämlich die Personalauswahl (Seite 43ff.), die Motivierung von Mitarbeitern (Seite 51ff.), die Delegation von Aufgaben (Seite 59ff.) und das Feedback (Seite 67ff.).
Machtprofil
Kloster Monte Cassino, im Jahr 530 Benedikt von Nursia (geb. um 480) sitzt im Kloster Monte Cassino an einem Tisch in seiner Zelle. Das Kloster hat er vor einigen Jahren selber gegründet. Benedikt schreibt auf Latein in gestochener Handschrift Zeile um Zeile auf Bögen von Pergamentpapier. Seit Wochen arbeitet er an seiner „Regula Benedicti“. Er weiß nicht, dass seine Klosterregeln für mehr als eintausendfünfhundert Jahre das gesamte abendländische Klosterleben organisieren und beleben werden.
Benedikts Werk, in 73 Kapitel unterteilt, stellt das Leben in der Gemeinschaft und die körperliche Arbeit in den Mittelpunkt. Kapitel 31 und 32 verlangen die Berufung eines Wirtschaftsverwalters des Klosters („Cellerar“) und anderer Funktionsträger. Sie sollen sich um die materiellen Güter des Klosters kümmern und sie so sorgfältig behandeln wie die geweihten Altargefäße.
Die Regeln des Benedikt für die Wirtschaftsverwalter seiner Ordensklöster sind immer noch genauso aktuell wie zu den Zeiten ihrer Niederschrift. Sie sind in den letzten Jahren zunehmend in Managementansätze eingegangen, die Menschenführung auch als geistige Aufgabe verstehen. Das ist vor allem das Verdienst des Benediktinermönchs Anselm Grün, der seit über zwanzig Jahren die Aufgabe des Cellerars der Abtei Münsterschwarzach wahrnimmt und damit selbst Leitungsfunktionen ausübt. Er dient mittlerweile vielen hochrangigen Managern in Deutschland als spiritueller Ratgeber. In seinem Buch „Menschen führen, Leben wecken“ nimmt er die „Regula Benedicti“ als Aufhänger, um aktuelles Verhalten von Chefs zu beschreiben und zu kommentieren. Pater Anselm Grün „erinnert an einen Führungsstil, der vielen deutschen Managern heute wie ein Fremdwort klingen mag: Führung mit Werten wie Gerechtigkeit, Zivilcourage, Maß und Klugheit. Pater Anselm setzt auf ‚Wertschöpfung durch Wertschätzung‘.“16
Als Chef gehört Menschenführung zu Ihren Hauptaufgaben. Benedikt hat hierzu den Grundsatz aufgestellt: „Wer führen will, muss sich selbst führen können“ und versteht darunter, dass der Verantwortliche „mit seinen eigenen Gedanken und Gefühlen, mit seinen Bedürfnissen und Leidenschaften zurecht (kommt)“,17 also mit sich selbst weitgehend im Reinen ist. Benedikts weitere Anforderungen an den Leiter sind: Erfahrung, menschliche Reife, Bescheidenheit, Demut, Unaufgeregtheit, Gerechtigkeitssinn, Entscheidungsfreudigkeit, Sparsamkeit und schließlich, wie ein Vater zu handeln.18 Wie finden Sie das? Altmodisch und nicht in die heutige Zeit passend? Oder nachdenkenswert? Wenn Sie diese Merkmale Benedikts einmal auf Ihren direkten Vorgesetzten anwenden: Wie würde er nach Ihrem Urteil abschneiden?
• Hat er Erfahrung, nicht nur im Beruflichen, sondern mit sich und den Menschen?
• Besitzt er menschliche Reife, also Objektivität, innere Ruhe und Gelassenheit? Diese Frage stellen auch Personalberater von heute: „…Führungsstärke [umfasst] immer auch die Befähigung, als Manager über die Reife und die Persönlichkeit zu verfügen, die auch erforderlich sind, um in einer hochkomplexen Welt die eigene Organisation vorbildgebend zu...