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Macht im System

AutorNiklas Luhmann
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl156 Seiten
ISBN9783518735374
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Niklas Luhmann hat bekanntlich eine allgemein ansetzende Theorie der Macht entworfen, die zeigt, wie sehr Machtlagen von Gesellschaftsstrukturen und insbesondere von Differenzierungsformen abhängen und sich mit ihnen ändern. »Macht im System« entstand in den späten 1960er Jahren und zeugt von der Bedeutung des Themas im Frühwerk Luhmanns. Anders als in späteren Fassungen seiner Machttheorie argumentiert er hier eher systemtheoretisch als kommunikationstheoretisch. »Macht im System« ist somit auch ein aufschlussreiches Dokument der Systemtheorie im Werden.

<p>Niklas Luhmann wurde am 8. Dezember 1927 als Sohn eines Brauereibesitzers in Lüneburg geboren und starb am 6. November 1998 in Oerlinghausen bei Bielefeld. Im Alter von 17 Jahren wurde er als Luftwaffenhelfer eingezogen und war 1945 in amerikanischer Kriegsgefangenschaft. Von 1946 bis 1949 studierte er Rechtswissenschaften in Freiburg und absolvierte seine Referendarausbildung. 1952 begann er mit dem Aufbau seiner berühmten Zettelkästen. Von 1954 bis1962 war er Verwaltungsbeamter in Lüneburg, zunächst am Oberverwaltungsgericht Lüneburg, danach als Landtagsreferent im niedersächsischen Kultusministerium. 1960 heiratete er Ursula von Walter. Aus der Ehe gingen drei Kinder hervor. Seine Ehefrau verstarb 1977. Luhmann erhielt 1960/1961 ein Fortbildungs-Stipendium für die Harvard-Universität. Dort kam er in Kontakt mit Talcott Parsons und dessen strukturfunktionaler Systemtheorie. 1964 veröffentlichte er sein erstes Buch <em>Funktionen und Folgen formaler Organisation.</em> 1965 wird Luhmann von Helmut Schelsky als Abteilungsleiter an die Sozialforschungsstelle Dortmund geholt. 1966 wurden <em>Funktionen und Folgen formaler Organisation</em> sowie <em>Recht und Automation in der öffentlichen Verwaltung</em> als Dissertation und Habilitation an der Universität Münster angenommen. Von 1968 bis 1993 lehrte er als Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld. 1997 erschien sein Hauptwerk, das Resultat dreißigjähriger Forschung: <em>Die Gesellschaft der Gesellschaft</em>.</p>

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Leseprobe

13I. Klassische Prämissen der Machttheorie


Um genauer zu sehen, um was es geht, wollen wir versuchen, einige Prämissen dessen zusammenzustellen, was man klassische Machttheorie nennen könnte. Eine genaue, logische Analyse der Aussagen bekannter Machttheoretiker würde allerdings zu weit führen und im übrigen sehr bald in Unsicherheit enden. Auch wird man sich nicht darauf verlassen können, daß die Prämissen der verschiedenen Machtbegriffe stets mitbegriffen worden sind. Wir stellen statt dessen als Diskussionsmaterial einige typische Definitionen des Machtbegriffs zusammen, um dann im groben zu sehen, von welchen Voraussetzungen sie ausgehen.

»The Power of Man […] is his present means, to obtain some future apparent Good.«[13]

»Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.«[14]

»Power is present whenever and wherever social 14pressures operate on the individual to induce desired conduct.«[15]

»A has Power over B to the extent that he can get B to do something that B would not otherwise do.«[16]

»The Power of actor A over actor B is the amount of resistance on the part of B which can be potentially overcome by A.«[17]

»Power is the ability to influence because undesirable consequences would follow for the influenced person if he does not yield.«[18]

»A person may be said to have power to the extent that he influences the behavior of others in accordance with his own intentions.«[19]

Die gemeinsamen, ausgesprochenen oder unausgesprochenen Prämissen dieser Definitionen, deren Liste beliebig verlängert werden könnte, sehen wir (1) in der Annahme einer Kausalbeziehung, die (2) im Posi15tiven wie im Negativen feststehe und voraussehbar sei, (3) in der Voraussetzung bestimmter Bedürfnisse, (4) in der Orientierung am Konfliktsfall, (5) in der Auffassung der Macht als eines besitzbaren Gutes und (6) in der durchweg verschwiegenen Voraussetzung eines geschlossenen Systems, in dem (a) die Machtsumme konstant bleibt und (b) Machtbeziehungen transitiv, also hierarchisch geordnet sind. Diese Annahmen bedingen und stützen sich wechselseitig. Ihr Zusammenhang begründet die Einheit und Geschlossenheit der klassischen Machttheorie. Wohl keine dieser Prämissen ist unkritisiert geblieben. Eine jede hat ihre Einschränkungen, Ausflüchte, Rückzugspositionen gefunden. Man mochte sogar die eine oder die andere opfern in dem Glauben, daß die übrigen standhielten. Wenn man aber sehen lernt, in welchem Maße diese Einzelpositionen der klassischen Machttheorie einander bedingen, verschärft das zugleich die Kritik: Jeder Einwand trifft dann das Ganze. Der klassischen Machttheorie muß auf diese Weise zunächst zu einem hinreichenden Selbstbewußtsein verholfen werden; dann erst kann die Systemtheorie sich mit ihr auseinandersetzen.

1. Allen Machttheorien liegt eine Kausalannahme zugrunde.[20] Kausalität wird dabei im neuzeitlichen 16Sinne verstanden als eine Beziehung von Ursachen und Wirkungen, durch die die Ursachen die Wirkungen bewirken. Macht wird dann als eine dieser Ursachen angenommen, und zwar als die, welche den Ausschlag gibt, welche das Geschehen beherrscht. Macht über fremdes Verhalten ist dann gegeben, wenn das Verhalten bei Wegfallen dieser seiner Ursache anders abliefe.[21]

Mit diesen einfachen Überlegungen ist bereits der Kern der Schwierigkeiten erreicht, und alle weiteren Annahmen der klassischen Machttheorie dienen dazu, die Folgeprobleme dieser Auffassung der Macht als Ursache zu lösen oder doch abzuschwächen. Die Kausalbeziehung verknüpft nämlich eine unendliche Zahl von Ursachen mit einer unendlichen Zahl von Wirkungen. Dabei ist alles, was überhaupt Ursache ist, notwendige Ursache und könnte nicht entfallen, ohne daß die Wirkungen anders ausfielen. Allenfalls diejenigen spezifischen Ursachen, für die funktional äquivalente Alternativen entdeckt werden können, sind ersetzbar. Unter diesen Umständen wird man kaum behaupten wollen, daß Macht die einzige unersetzbare (und deshalb wesentliche) Ursache eines Verhaltens sei. Wenn aus der 17Gesamtheit der Ursachen eine einzelne als »Macht« ausgewählt und ihr besondere Bedeutung beigemessen wird, müssen demnach Selektionsgesichtspunkte vorausgesetzt werden, über die die Machttheorie Rechenschaft ablegen sollte.

Wir wissen, daß diese Selektion, das Zuschreiben der Ursächlichkeit an bestimmte Ursachen, ein sinn- und strukturbildender sozialer Prozeß ist, und zwar schon im Bereich der Natur, vor allem aber im Bereich des menschlichen Handelns.[22] Macht wird dort gesehen, wo sie erwartet werden kann. Aber auch über diesen Sonderfall hinaus ist die Ordnung des menschlichen Erlebens durch die Kausalkategorie nur in einer sozial und kulturell stabilisierten, auf vereinfachte, konsensfähige Formen reduzierten Welt möglich, deren Konstitution nur durch Einfluß von Menschen auf Menschen, durch Kommunikation, zustande kommt. In den Begriffen der Machttheorie ist Macht als soziale Wirklichkeit schon vorausgesetzt. Die Auffassung der Macht als Ursache kann nie an den Ursprung der Macht gelangen.

2. Die Kausaltheorie der Macht nimmt an, daß Macht wirkt, daß es also im Verhalten des Übermächtigten einen Unterschied ausmacht, ob Macht ausgeübt wird oder nicht. Fehlte der Machteinsatz, liefe das Handeln anders ab, als der Machthaber es wünscht. 18Damit wird es zu einer Voraussetzung für das Machtkalkül, daß der Machthaber weiß, wie sein Gegner handeln bzw. nicht handeln würde, wenn er unbeeinflußt bliebe, daß dessen Handeln bzw. Nichthandeln also schon feststeht, schon entschieden ist. Machtausübung betrifft nach dieser Konzeption immer nur die Änderung eines an sich feststehenden Verlaufs. Das läuft auf die Prämisse einer objektiv feststehenden Zukunft (also auf einen objektivistischen Zeitbegriff) und auf die Annahme vollständiger Informierbarkeit hinaus – beides Unterstellungen, die besonders auch für die klassischen Wirtschaftswissenschaften typisch sind.

In realen Situationen steht das Handeln anderer Menschen keineswegs immer im voraus fest, und selbst wenn es schon entschieden ist, weiß der Machthaber sehr oft nicht mit hinreichender Sicherheit, wie sein Gegenüber unbeeinflußt handeln würde.[23] Das gilt besonders dann, wenn es sich, wie die klassische Machttheorie annimmt, um einen Gegner handelt, der natürliche Gründe hat, seine wahren Absichten zu verschleiern. Es gibt faktisch in weitem Umfange auch Einfluß auf Unentschiedene, der nicht von einem schon feststehenden Kurs wegzerren soll, sondern nur vorsorglich geübt wird. Diese Unentschiedenheitslage bedeutet aber, daß weder in der Machteinsatzplanung noch 19in der nachträglichen Würdigung festgestellt werden kann, ob die Machtausübung eine Wirkung hatte oder nicht. Will man diesen Tatbestand in der Machttheorie berücksichtigen, führt das zu Schwierigkeiten in der Kausalkonzeption.[24] Man muß dann auch in den Fällen von Macht sprechen, in denen ihr Einsatz nur etwas zur Folge hat, was ohnehin geschehen würde, also ohne spezifisch zurechenbare Wirkung bleibt.

Damit verwandt ist ein anderes Argument, das zum Beispiel gegen die der klassischen Auffassung verpflichtete Machttheorie Robert Dahls[25] vorgetragen worden ist.[26] Macht schütze bestehende Zustände nicht dadurch, daß sie sie bewirke, sondern dadurch, daß sie unbestimmt bleibende Eventualitäten abweichenden Verhaltens ausschließe und dadurch eine Stabilisierung des Status quo durch andere Ursachen 20(zum Beispiel Einverseelung von Normen) ermögliche. Auch dieser Gedanke läßt sich in der klassischen Machttheorie nicht unterbringen, die zwar ein Unterlassen bestimmter, an sich beabsichtigter Handlungen als Wirkung der Macht erklären könnte, nicht aber die Reduktion der unbestimmt bleibenden Fülle aller abweichenden Handlungsmöglichkeiten auf eine bestimmte Ordnung.

3. Die klassische Machttheorie hatte weder die Unendlichkeitsproblematik der Kausalität noch die Unbestimmtheitsproblematik der Zeit und der Negativität aufgerollt und deshalb auch das Selektionsproblem nicht gesehen[27] oder, anders formuliert: Sie hatte Selektion nur in engen Grenzen als rational lösbares Problem gesehen und im übrigen der »Natur« der Welt und des Menschen überlassen. Sie ging, dem alteuropäischen Menschenbild entsprechend, davon aus, daß eine natura humana gegeben sei mit bestimmten, im wesentlichen festliegenden Bedürfnissen, die der Mensch durch zweckgerichtetes Handeln zu befriedigen suche. Diese Bedürfnisse waren hierarchisch strukturiert gedacht, 21und entsprechend strukturiert war das Handeln – an der Spitze das Bedürfnis der Verwirklichung jener Fähigkeit, die den Menschen vom Tier unterscheidet und erst eigentlich zum Menschen macht: der Vernunft. Macht war erforderlich zur Befriedigung solcher Bedürfnisse durch ein Handeln, das als teleologische Wesensverwirklichung, später kausalmechanisch als Bewirken geschätzter Wirkungen ausgelegt wurde. Vom Handeln her konzipiert, stand die Machttheorie schon begrifflich immer unter der Kontrolle der Ethik und konnte allenfalls versuchen, sich von der gemeinmenschlichen Ethik freizumachen durch das Postulat einer besonderen Moral der Macht ratione status. Die Form der Ethik als Handlungskontrolle war damit nicht...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Cover1
Informationen zum Autor / zum Buch2
Impressum4
Inhalt5
Einleitung7
I. Klassische Prämissen der Machttheorie13
II. Systemtheoretischer Machtbegriff40
III. Generalisierung von Einfluß55
IV. Entscheidung76
V. Reflexivität88
VI. Differenzierung102
VII. Systemtheoretische Prämissen der Machttheorie115
VIII. Zur Theorie des politischen Systems133
Editorische Notiz153

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