»Ich habe es satt, hungrig zu sein«, sagt Klemens Manzl, ein Teilnehmer bei der Vorstellungsrunde an einem Besinnungswochenende zum Thema »Authentisch sein«. Die anderen Gruppenmitglieder horchen auf. Die Zeit scheint für einige Momente stillzustehen. Da bringt einer in wenigen Worten auf den Punkt, was tief in uns als Sehnsucht angelegt ist: anerkannt zu sein mit seiner bedürftigen Seite. Da will einer nicht mehr übersättigt werden mit oberflächlichen Überlebensstrategien. Ein Mann bringt sich kraftvoll mit seiner verletzlichen Seite ein. Diese Spur entdecke ich auch beim heiligen Sebastian, der vielen durch die unzähligen Gemälde bekannt ist, auf denen ein schöner Jüngling zu sehen ist, dessen Brust mit Pfeilen durchbohrt ist. Kaum ein Heiliger wurde in der Kunst so oft dargestellt wie Sebastian. Von seiner Herkunft und seinem Leben wissen wir wenig. Der Legende nach soll er in Narbonne oder in Mailand aufgewachsen sein. In Rom wird er als Hauptmann der Prätorianergarde am kaiserlichen Hof Diokletians geschätzt. Zuerst verheimlicht er seinen christlichen Glauben, um dank seiner hohen Stellung vielen christlichen Glaubensgenossen in den Gefängnissen beistehen zu können. Als seine christliche Überzeugung bekannt wird, verurteilt ihn Kaiser Diokletian zum Tode durch Bogenschießen. Durchbohrt von vielen Pfeilen wird er liegen gelassen, obwohl er noch nicht tot ist. Irene, eine fromme Witwe, pflegt ihn gesund. Diese Grenzerfahrung stärkt ihn innerlich. Nach seiner Genesung wagt er sich wieder an den kaiserlichen Hof. Er klagt den Kaiser öffentlich wegen seiner grausamen Christenverfolgungen an und wird danach um das Jahr 288 im Zirkus zu Tode gepeitscht.
Sein Martyrium wird in Rom erstmals im Jahre 354 bezeugt. Heute noch erinnern an der Via Appia die Basilika San Sebastiano fuori le mura (Sankt Sebastian vor den Mauern) und die Sebastian-Katakomben an ihn. Sein Gedenktag ist der 20. Januar. Ab dem 6. Jahrhundert wird er zum Schutzheiligen gegen die Pest, später wird er zum Patron der Sterbenden, Schützen, Soldaten, Kriegsinvaliden, Eisengießer, Steinmetze, Gärtner, Waldarbeiter und Töpfer und heute ist er auch eine Schwulen-Ikone als Patron gegen Aids.
Bilder machen Leute
Höchst spannend ist die Entwicklung, die sich in den unzähligen Darstellungen des Sebastian in der Kunstgeschichte entdecken lässt. Ab dem 5. Jahrhundert wird er als Krieger mit Schild und Schwert dargestellt, danach als betagter, in Ketten gefesselter Soldat. In der Renaissance, ab dem 15. Jahrhundert, wird Sebastian immer jünger und immer schöner und er verliert seine Kleider! Eine erotische Dimension klingt an. Das Motiv des ersten Martyriums, in dem er mit Pfeilen beschossen wird, setzt sich bis heute durch. In den wenigen Informationen zum Leben des heiligen Sebastian und in der Art und Weise, wie sich das Bild eines Mannes im Laufe der Jahrhunderte verändert und wie ein Mann in seiner Schönheit, seiner erotischen Lebenskraft und seiner Verletzlichkeit dargestellt wird, entdecke ich folgende aktuelle Männerthemen:
Geradestehen für sein Leben
Sebastian steht gerade für sein Leben, für seine Überzeugung. Er tut dies mit Entschiedenheit und Klugheit. Vorerst teilt er seine christliche Grundhaltung nicht mit, sondern er lebt sie in leidenschaftlicher Gelassenheit. Geschickt setzt er seinen Handlungsspielraum als Hauptmann ein, um Verfolgten und Entrechteten beistehen zu können. Geradestehen für seine Werte und authentisch sein bedeutet, mit Weisheit abzuwägen, wo sich auch strukturell etwas verändern lässt oder wo es anzunehmen gilt, »nur« in seinem persönlich-beruflichen Umfeld sehr viel Gutes bewirken zu können. Deshalb bleibe ich seit vielen Jahren den Tag hindurch beim Aufstehen einen Moment stehen. Ich schließe die Augen, atme tief durch und lasse mich innerlich aufrichten, damit ich geradestehen kann für meine Talente und meine Fehler. In meinem unscheinbaren Dastehen verbinde ich mich mit Menschen auf der ganzen Welt, die auch auf- und einstehen für die Menschenrechte und den Schutz der Natur. Sie stärken meine Hoffnung im Glauben an das Gute im Menschen.
Mann als Opfer
Irgendwann muss der Leidensdruck so groß geworden sein, dass Sebastian sich entscheidet, zu seiner innersten Überzeugung zu stehen. Wir wissen nicht, ob er dies freiwillig tat oder ob er verraten wurde. In den Legenden, die rund um ihn entstehen, wird berichtet, dass er auch andere Männer zum Martyrium ermutigt haben soll. Solche Texte befremden mich erst einmal: jung zu sterben, um sich einen Logenplatz im Himmel zu sichern? Zu einer gesunden Spiritualität gehört für mich ein kritisches Hinterfragen eigener Handlungsmotive, die einem zuerst gar nicht bewusst sein können. Zugleich hilft es uns nicht weiter, wenn wir zu schnell unbeliebte Worte wie »sich aufopfern« aus unserem Leben abspalten. Die Zunahme von Burn-out zeigt drastisch, dass immer mehr Männer ungesund leben und dass es ein Irrtum ist, zu meinen, vor allem Frauen würden sich aufopfern. Männer sind auch in Gefahr, gelebt zu werden, weil sie ihre Gesundheit, ihre Beziehungen auf den Leistungsaltären der Firmen opfern. Die Begegnung mit Sebastian zeigt mir, dass es heilsam ist, gut hinzuschauen, wie wir mit den täglichen Herausforderungen des Berufsalltags umgehen, um nicht resigniert und ohnmächtig in einer Opferrolle stecken zu bleiben. In einer Welt, in der alles immer schneller und machbarer werden soll, braucht es ein waches Bewusstsein für eine gute Balance. Es bedeutet, sich selber ernst zu nehmen mit seiner schöpferischen Lebenskraft und seiner Begrenztheit. Es gilt, achtsam die Signale unseres Körpers und unserer Psyche wahrzunehmen und sie so zu deuten, dass ein gesunder Lebens- und Arbeitsrhythmus entstehen kann. Das schreibt sich leicht, bleibt jedoch eine Gratwanderung, ein Leben lang. Wir können Schritt für Schritt, wenn wir einander bekräftigen, Widerstand wagen für mehr Lebensqualität. Sie kann sich entfalten, wenn wir regelmäßig Distanz schaffen zur Hektik. Sportliche Betätigungen wie Joggen, Schwimmen, Fußball, Krafttraining und meditative Übungen wie Yoga, Qigong, Tai-Chi können uns inspirieren, um sich auch den Tag hindurch Nischen des Aufatmens zu schaffen. Wir können uns selbst unterbrechen, um Sorge zu tragen für unsere Gesundheit und für ein gutes Arbeitsklima.
Männersolidarität
Die Witwe des Märtyrers Castulus entdeckt den schwer verletzten Sebastian mit Pfeilen in seiner Brust. Auch sie meint, er sei tot, und sie will ihn beerdigen. Dabei entdeckt sie, dass er noch lebt. Sie nimmt ihn auf und pflegt ihn gesund, eine berührende Tat. Nachdenklich stimmt mich die Abwesenheit anderer Männer. Wo sind sie? Wie drücken sie ihre Solidarität mit einem angesehenen Hauptmann aus? Wo sind jene Männer, denen Sebastian beigestanden ist?
Es ist mir schmerzvoll vertraut aus meiner Lebensgeschichte, dass ich mich mit meinen Verwundungen und meiner Verletztheit anderen Männern nicht zugemutet habe. Hand aufs Herz: Wann zeige ich meine eigene Bedürftigkeit und Verunsicherung einem anderen Mann, anderen Männern? Wann hole ich mir Hilfe und Unterstützung bei anderen Männern? Wer, was kann mich unterstützen, mich anderen Männern nicht erst zu zeigen, wenn ich wieder alles unter Kontrolle habe, sondern wenn ich selber nicht mehr ein noch aus weiß?
Wer oder was kann mir helfen, aus der Rolle des Einzelkämpfers hinauszuwachsen?
Männersolidarität beschränkt sich natürlich nicht nur auf das Mitteilen von Grenzerfahrungen, sondern auch das Anteil-nehmen-Lassen an Lebenslust, Erfolg und Leichtigkeit.
Mehr als meine Verwundungen
»Was immer sich an Verwundungen in meinem Leben angehäuft hat, ich will mein Leben nicht auf diese Verletzung reduzieren. Ich bin mehr als das und zu einem befreiten Leben gerufen …«, heißt einer meiner eindrücklichsten Tagebucheinträge, den ich vor zwanzig Jahren in einer verzweifelten Nachtstunde geschrieben habe. Diese lebensbejahende Grundhaltung findet sich in vielen Kunstwerken des heiligen Sebastian, die seit der Renaissance entstanden sind. Da begegnen wir einem verwundeten Mann, der jedoch durch seinen Blick und seine Körperhaltung ausdrückt, dass er innerlich nicht zerbrochen werden kann. Im Hit des Berliner Popduos Rosenstolz »Wir sind am Leben« heißt es »Ich kann deinen Herzschlag hören, keiner kann dich zerstören, du bist am Leben«. An dieser ver-rückten Hoffnung gilt es festzuhalten: zu vertrauen, dass wir am Schweren reifen und wachsen können und dass unser innerer göttlicher Kern unantastbar und unzerstörbar ist. Eine gewagte Aussage! Sie ist nie endgültig zu haben, sondern möchte lebenslänglich neu buchstabiert werden.
Leid soll weder gesucht noch verherrlicht werden, zugleich ist auch uns Männern aufgetragen, einen lebensbejahenden Umgang mit dem Leiden zu entfalten. Wir können einander unterstützen, um in den Erschütterungen des Lebens eine Wachstumschance entdecken zu können; nie ein für alle Mal, sondern im Auf und Ab, in der Spannung von Empörung und Annahme, von Widerstand und Ergebung (Dietrich Bonhoeffer): Dazu brauchen wir Weggefährten, die uns erinnern, dass wir mehr sind als unser Gedankenkarussell, als unsere Leistung und auch mehr als unsere Verwundungen, unsere Frustrationen, unser Misserfolg. Dies wird möglich, wenn wir unseren Schmerz nicht überspielen oder verdrängen, sondern auch anderen zumuten.
Zum Glück gescheitert
»Zum Glück gescheitert« heißt der Slogan eines Männertages in Winterthur, zu dem eine Männergruppe eingeladen hat. Dem starken, erfolgreichen Mann, der cool (= unterkühlt) durchs Leben geht, setzen sie ein befreiendes Männerbild entgegen, in dem auch die Dünnhäutigkeit und das Scheitern seinen Platz haben darf....