Wir alle bewegen uns in unserer Welt mit Gehirnen und Körpern, die mehr Ähnlichkeiten als Unterschiede aufweisen. Die meisten Menschen wollen für sich und ihre Familien wirklich ihr Bestes geben. Doch trotz dieser wohlwollenden Absichten hindert uns oft etwas daran. Die Ursachen dafür können wir leichter erkennen, wenn wir uns zunächst einmal klarmachen, auf welcher Basis die Techniken und Verfahren beruhen, denen wir uns im weiteren Verlauf dieses Buches zuwenden. Genetische Faktoren spielen hier sicherlich auch eine Rolle. Doch unsere Sicht der Welt und unser Austausch mit anderen Menschen beruhen überwiegend auf unseren individuellen Lebenserfahrungen. Diese sind in Erinnerungsnetzwerken abgespeichert, welche die Grundlage für unsere Wahrnehmungen, Einstellungen und unser Verhalten bilden. Und diese Netzwerke verknüpfen ähnliche Ereignisse miteinander.
Wenn mich zum Beispiel jemand bittet, verschiedene Früchte zu nennen, fällt mir das nicht schwer. In meinem Geist sind sie in ein und demselben Erinnerungsnetzwerk miteinander verbunden: Äpfel, Orangen, Pfirsiche, Himbeeren … Wenn ich einen Apfel sehe, kann ich ihn unschwer als Frucht erkennen, weil ich bereits vorher Äpfel gesehen habe. Damit ich meine Erlebnisse in jedem beliebigen Augenblick sinnvoll einordnen kann, verknüpfen sie sich in meinem Erinnerungsnetzwerk mit früheren Erfahrungen. Hat ein Kind jedoch noch nie einen Apfel gesehen, kann es möglicherweise damit nichts anfangen. Das hier ist rot und rund: Ist es ein Ball?
Alles, was wir in der Außenwelt wahrnehmen, gelangt durch unsere Sinne (sehen, riechen, tasten, hören, schmecken) ins Arbeitsgedächtnis. Dieses stellt automatisch Verbindungen zu einem großen Spektrum an Erinnerungsnetzwerken im Gehirn her, damit wir das Wahrgenommene verstehen.
Dieser Prozess läuft bei uns allen ständig ab. Selbst die Worte auf dieser Seite müssen sich mit Ihren Erinnerungsnetzwerken verbinden, damit Sie verstehen können, was Sie hier lesen. Jeder Mensch, den Sie sehen oder mit dem Sie sich austauschen, alle Erfahrungen, die Sie heute machen, sowie Ihre Wahrnehmungen davon verbinden sich mit Ihren Erinnerungsnetzwerken, um für Sie einen Sinn zu ergeben. Diese Erinnerungsnetzwerke enthalten sämtliche bereits gespeicherten Erfahrungen, und diese werden zur Basis für Ihr jetziges Fühlen, Denken und Verhalten. Das bedeutet, dass die Art und Weise, wie Sie auf Menschen reagieren und wie diese wiederum auf Sie reagieren, ebenso sehr auf früheren Erfahrungen beruht wie auf dem, was Sie oder Ihr Gegenüber im Augenblick tun oder sagen.
Warum die Zeit nicht alle Wunden heilt
Wenn wir uns schneiden, heilt die Wunde meistens von selbst, falls keine Komplikationen auftreten. Behandeln wir diese, heilt der Körper weiter. Aus diesem Grund sind wir bereit, uns für eine Operation aufschneiden zu lassen. Wir gehen davon aus, dass die Schnittwunden wieder heilen.
Das Gehirn ist Teil des Körpers. Zusätzlich zu den Millionen von Erinnerungsnetzwerken, die ich gerade beschrieben habe, ist unser Gehirn mit einem Mechanismus – einem Informationsverarbeitungssystem – für Heilung ausgestattet. Dieser Mechanismus sorgt dafür, dass jede Art von emotionaler Störung auf die Ebene mentaler Gesundheit befördert oder, wie ich es nenne, einer adaptiven oder situationsangemessenen Lösung zugeführt wird. So bezeichne ich eine Lösung, welche die nützlichen Informationen enthält, die uns ermöglichen, besser zu überleben. Das Informationsverarbeitungssystem hat die Aufgabe, nützliche Verbindungen herzustellen und den Rest loszulassen.
Das funktioniert folgendermaßen: Stellen Sie sich vor, Sie hätten Streit mit einem Kollegen. Sie sind aufgebracht, wütend oder ängstlich und erleben sämtliche körperlichen Reaktionen, die mit diesen Emotionen verbunden sind. Vielleicht kommen Ihnen auch negative Gedanken über die Person und sich selbst, oder Sie stellen sich lebhaft vor, wie Sie sich rächen werden. Doch lassen Sie uns hoffen, dass Sie dieser Versuchung widerstehen, denn das könnte Sie nicht zuletzt Ihren Job kosten. Also gehen Sie aus dem Zimmer. Sie denken über das Erlebte nach. Sie sprechen darüber. Nachts träumen Sie vielleicht davon. Und am nächsten Tag fühlen Sie sich nicht mehr ganz so schlecht. Sie haben das Erlebnis grundsätzlich »verdaut« und wissen jetzt, wie Sie sich am besten verhalten. So verfährt das Informationsverarbeitungssystem des Gehirns mit einer störenden Erfahrung und macht Lernen möglich. Vieles davon passiert in der Phase des REM-Schlafs mit den für diese Schlafphase typischen schnellen Augenbewegungen. Wissenschaftler gehen davon aus, dass das Gehirn in dieser Schlafphase Wünsche, überlebenswichtige Informationen und das am Tag Gelernte verarbeitet, also im Wesentlichen alles, was für uns wichtig ist. Grundlegend gilt, dass unser Gehirn entsprechend verdrahtet ist.
Bei einer ungestörten Informationsverarbeitung verbindet sich die Erinnerung an den Streit mit den nützlicheren Informationen, die bereits in Ihrem Gehirn abgespeichert sind. Dazu können frühere Erfahrungen mit diesem Mitarbeiter oder anderen Kollegen gehören. Vielleicht können Sie sich inzwischen sagen: »Ach, so ist Michael nun einmal. Ich habe das mit ihm ja neulich auch gut klären können.« Wenn diese anderen Erinnerungen sich mit dem jüngsten Streit verbinden, verändert sich Ihr Erleben desselben. Sie lernen, was an diesem Streit nützlich für Sie ist, und alles, wofür das nicht gilt, lässt Ihr Gehirn los. Weil die negativen Gefühle und Selbstgespräche Ihnen nicht mehr weiterhelfen, sind sie verschwunden. Doch alles, was Sie aus dieser Situation lernen müssen, bleibt erhalten, und Ihr Gehirn speichert die Erinnerung an dieses jüngste Ereignis so ab, dass es Ihnen zukünftig gute Dienste erweisen kann.
Ein Ergebnis dieser Verarbeitung ist, dass Sie besser wissen, was Sie zu tun haben. Sie können mit Ihrem Kollegen jetzt ruhiger sprechen als am Vortag, weil Sie nicht mehr so aufgebracht sind. So verfährt das adaptive Informationsverarbeitungssystem des Gehirns mit störenden Erlebnissen und macht Lernen möglich. Und genau das ist seine Aufgabe.
Leider können störende Ereignisse wie ein schweres Trauma oder andere aufwühlende Erlebnisse das System überwältigen. In diesem Fall hindert der situationsbedingte, heftige emotionale und körperliche Aufruhr das Informationsverarbeitungssystem daran, die inneren Verbindungen herzustellen, die für eine Lösung erforderlich sind. Stattdessen wird die Situation genauso im Gehirn abgespeichert, wie Sie sie erlebt haben. Sämtliche Bilder, Emotionen, körperlichen Empfindungen und Gedanken werden im Gedächtnis in ihrer ursprünglichen, unverarbeiteten Form kodiert. Dann kommt beim Anblick des Kollegen, mit dem Sie sich gestritten haben, jedes Mal wieder der Ärger oder die Angst hoch, sodass Sie nicht ruhig mit ihm reden können. Vielleicht versuchen Sie, Ihre Gefühle in den Griff zu bekommen, um sich selbst vor weiteren Schwierigkeiten zu bewahren, doch sobald Ihr Kollege auftaucht, sind Sie wieder auf hundertachtzig.
Wenn Reaktionen wie diese in Ihrem Leben hartnäckig wiederkehren, dann oft deswegen, weil sie sich mit unverarbeiteten Erinnerungen aus der Vergangenheit verbinden. Diese unbewussten Verbindungen stellen sich automatisch her. So kann Ihre spontane Abneigung gegen eine Person, die Sie gerade kennenlernen, auf Erinnerungen an einen Menschen beruhen, dem sie ähnlich sieht und der Sie einmal verletzt hat. Nehmen wir zum Beispiel eine Frau, die vergewaltigt wurde. Jahre später liegt sie im Bett mit einem Mann, den sie als liebevollen Partner kennt. Doch bei ganz bestimmten Berührungen kommen automatisch bestimmte Emotionen und Körperempfindungen von damals hoch. Das Entsetzen und die Ohnmacht, die sie bei der Vergewaltigung erlebte, überfluten sie. War das Informationsverarbeitungssystem nach dem Übergriff gestört, verbinden sich Berührungen, die denen des Vergewaltigers gleichen, mit dem entsprechenden Erinnerungsnetzwerk und »triggern« die Emotionen und körperlichen Empfindungen, die mit der unverarbeitet abgespeicherten Erinnerung verbunden waren.
Das gestörte Informationsverarbeitungssystem hat die Erinnerung isoliert abgespeichert, das heißt nicht in die generellen Erinnerungsnetzwerke integriert. Es kann sich nicht verändern, weil es nicht imstande ist, sich mit einem Wissen zu verbinden, das nützlicher und der jetzigen Situation angemessener ist. Deswegen heilt die Zeit nicht alle Wunden, und deswegen kommen bei Ihnen immer noch der alte Ärger, Groll, Schmerz, Traurigkeit oder andere Emotionen hoch, die zu Ereignissen gehören, die vor vielen Jahren stattfanden. Diese sind wie festgefroren in der Zeit, sodass die unverarbeiteten Erinnerungen zur Grundlage für emotionale und manchmal auch körperliche Probleme werden. Selbst wenn Sie in Ihrem Leben kein schweres Trauma erlebt haben, die Forschung hat gezeigt, dass auch andere Lebenserfahrungen Störungen verursachen können. Und weil sich die Erinnerungsverbindungen automatisch und unbewusst herstellen, haben Sie wahrscheinlich überhaupt keine Ahnung, was Sie in Ihrem Leben tatsächlich steuert.
Der Aktionsplan
Im weiteren Verlauf dieses Buches erfahren Sie, worauf die negativen Reaktionen zurückgehen, die Sie oder ein geliebter Mensch in vielen Situationen zeigen, sodass diese für Sie erklärbar werden. Außerdem eignen Sie sich bestimmte Übungen und Techniken an, um die unverarbeiteten Erinnerungen ausfindig zu machen, die solche Reaktionen verursachen, und die störenden Emotionen, Gedanken und Empfindungen, sobald sie hochkommen,...