Da ist immer wieder das Gefühl von Paradies. Von Glück mit Geschwistern, den Eltern und von Geborgenheit.
Ich bin als drittes Kind meiner Eltern auf die Welt gekommen und war das erste Mädchen. Meine Mutter erzählte mir, dass mein Vater fassungslos war über dieses Mädchen, so zart, so zerbrechlich. Auf einem Foto sitze ich auf seinem Schoß, wir sind eine selbstverständliche Einheit. Dieses Bild hat sich mir tief eingeprägt. Es zeigt mir das Ideal eines Vaters mit seinem Kind: absolute Geborgenheit in absoluter Freiheit.
Wir haben in der Untersteiermark in Slowenien gelebt, das nach dem Ersten Weltkrieg zu Jugoslawien gehörte. Ich habe ein bisschen Slowenisch gesprochen, ich weiß noch, dass Kruh Brot heißt und bitte prosim.
Ich erinnere mich an ein Schwimmbad im Wald auf einer Lichtung: Alles war aus Holz. Wir Kinder sind mit Anlauf hineingesprungen und mein Vater steht im Wasser und hält die Arme auf. Da ist nicht eine Spur von Angst – ich laufe und spring in seine Arme. Ein friedliches Dasein, obwohl der Zweite Weltkrieg tobte.
Im Frühjahr 1945 wurde mein Vater nachts mit einem Lastauto abgeholt. Meine Mutter und meine beiden älteren Brüder wurden zwei Tage später geholt. Zufällig fanden sie sich alle in der gleichen Zelle wieder. Sie wurden in ein Lager gebracht. Kurz vor Kriegsende sollten alle Frauen in ein anderes Lager umgesiedelt werden. Meine Mutter war hochschwanger. Ein Soldat wies sie an, so schnell wie möglich zu verschwinden. An diesem Tag hat sie den Vater zum letzten Mal gesehen.
Unser Zuhause wurde von Brandbomben zerstört. Wir flüchteten zu Verwandten in der Steiermark. Es begann die Zeit der großen Not. Immer haben wir darauf gewartet, dass mein Vater wiederkommt. Meine Mutter wäre verrückt geworden, oder einfach gestorben, wäre sie nicht überzeugt gewesen, dass er gefunden wird. Weihnachten kann nicht vorbeigehen, ohne dass er kommt. Die Geburtstage können nicht vorbeigehen, ohne dass er kommt.
Ich hatte eine innige Verbindung zu meiner Mutter. Ich spürte ihre Not, ihre Verlassenheit und ihre Angst, dass der Vater nicht wiederkommt. Ich konnte nicht helfen. Ich erinnere mich an die täglichen Abendgebete. Wir fünf Kinder knieten vor einem kleinen Altar, die Knie taten weh, wir setzten uns auf die Hinterbeine, so hockten wir da. Unsere Mutter hat alle Lieder und Gebete abgewandelt in ein Flehen um die Wiederkehr des Vaters. Dass er kommt, dass er beschützt ist, dass er nicht Not leidet, dass er weiß, die Familie ist beieinander. Ich war mir sicher, die Gebete werden ihn zurückbringen, es heißt doch: Um was ihr mich bitten werdet, das wird euch gegeben werden.1
Meine Mutter hatte eine unglaubliche Kraft, mit der Not und dem Schmerz zurechtzukommen. Sie war oft weg, immer auf der Suche nach meinem Vater. Sie hatte immer wieder Adressen von Informanten, die etwas wissen hätten können oder vorgaben, etwas zu wissen. Sie hat ihn überall gesucht. Es war für sie nicht vorstellbar, ohne ihn zu leben.
Ich hab sie einmal gefragt, da muss ich so zehn, zwölf Jahre alt gewesen sein: Wenn die Russen – die die Inkarnation des Bösen waren – wenn die Russen sie vor die Wahl gestellt hätten, entweder mit dem Mann nach Sibirien und die Kinder bleiben diesseits der Linie, oder mit den fünf Kindern hierbleiben und dafür den Mann allein gehen lassen? Keinen Augenblick zögerte sie:
Selbstverständlich wäre ich mit ihm gegangen.
Und wir Kinder?
Kinder haben das Leben vor sich, da gibt es Verwandte, die werden sich kümmern. Kinder gehen auf das Leben zu. Aber zwei Menschen, die zusammengehören, die kann man nicht trennen. Die können nicht weiterleben ohne den anderen.
So klar war das für sie. Und mich hat es nicht überrascht. Und schon gar nicht gekränkt oder verletzt.
Der älteste Bruder war inzwischen in der Stella Matutina, einem Jesuiten-Internat in Feldkirch. Wenn er in den Ferien nach Hause kam, sind wir Geschwister alle in der Stille der Nacht mit einem ratternden Leiterwagen zu Fuß von Aurach, wo wir untergekommen waren, nach Kitzbühel zum Bahnhof gegangen, um ihn abzuholen. Immer begleitet von der Freude: Jetzt ist er wieder da und wir sind beieinander.
1948 zogen wir nach Vorarlberg – es war nach Herberstein in der Steiermark, Goldegg im Pongau und Aurach in Tirol unsere vierte Station auf der Flucht –, weil auch der nächste Bruder in die Stella Matutina kam und die Familie nicht so weit entfernt voneinander leben wollte. Mein Schulweg war weit, morgens vom Häuschen in Maria Grün außerhalb von Feldkirch zu Fuß durch den Wald, dann durch die Stadt Feldkirch und wieder eine Anhöhe hinauf, da war meine Schule. Zu Mittag wieder nach Hause, am Nachmittag wieder in die Schule.
Wenn die Mitschülerinnen herausfanden, dass wir aus einer adeligen Familie2 sind, wurden Fragen gestellt wie:
Trägst du ein Krönchen zu Hause?
Die Frage war mir fremd. Ich fühlte den Abstand zu den anderen. Gleichzeitig hatte ich wirklich gute Freundinnen.
Nuna, unsere Kinderschwester von zu Hause, ist mit uns aus Slowenien geflohen. Sie hat meiner Mutter viel Arbeit abgenommen und war zu einem Familienmitglied geworden. Sie war sehr streng. Wenn ich schlimm war, hat sie mich in den Keller geschickt. Dort hatte ich panische Angst, vor allem vor einem Fuchs, der mich verfolgt. Warum ausgerechnet vor einem Fuchs, weiß ich nicht mehr. Anfangs lebten wir in großer Not. Nuna hat alles mit uns geteilt. Aber sie hatte auch etwas Bösartiges. Meinen kleinen Bruder hat sie furchtbar gequält. Er ging einwärts. Sie gab ihm immer wieder Stockhiebe auf die Beine.
Zeitweise haben wir in nur zwei Zimmern gelebt. Meine Mutter mit der kleinen Schwester, die gerade geboren war, in der Küche und wir vier Geschwister mit der Nuna in einem anderen Zimmer. Aber solange die Mutter da war, war alles in Ordnung. Sie hat uns das Gefühl einer innigen und unverbrüchlichen Zusammengehörigkeit vermittelt.
Meine Mutter hat mit der Unterstützung von Verwandten ein kleines Haus in Maria Grün gebaut, das stand ganz allein auf der Kuppe eines Hügels. Ein Haus mit einem kürzeren und einem längeren Dach und einem Garten mit Blumen. Es war sehr einfach. Unten im Schlafzimmer schlief meine Mutter in einem Doppelbett. Für mich war klar: Das ist für den Vater, wenn er wiederkommt. Oben schliefen wir Geschwister mit Nuna. Ich erinnere mich an einen immer wiederkehrenden Traum: Die Russen kommen mitten in der Nacht und holen uns alle ab. Zuerst holen sie die Mutter, die wird in den vorderen Teil eines Lastwagens gesperrt. Im Anhänger sind wir Kinder. Wir fahren unendlich lang durch die Nacht. Irgendwann bleibt der Lastwagen stehen, der Anhänger wird abgekoppelt und die Mutter wird von uns getrennt – und ich wache in Panik auf. Das blieb für mich – auch im späteren Leben – immer wieder Thema: Trennung. Trennung vom geliebten Menschen, Trennung von mir selbst, Trennung, die dem Leben den Boden entzieht.
1952 kam ich zu den Benediktinerinnen ins Internat nach Kloster Wald bei Sigmaringen. Nicht ganz drei Jahre war ich dort. Ich hatte kein Heimweh, aber wenn meine Mutter mich besuchen kam und es hieß, deine Mutter wartet unten auf dich, bin ich die breiten Klostertreppen hinuntergeflogen. Einmal meinte sie, sie kann es gar nicht verstehen, warum ich sie so sehr liebe, da sie doch so oft weg ist und so viel falsch macht.
Meine Mutter bedeutete mir alles. Ich dankte oft abends im Bett dem Himmel, dass es sie gab. Sie war eine ungewöhnliche Frau, sanft und gleichzeitig zäh, tiefgläubig und gleichzeitig offen. Sie war schön und doch gezeichnet von ihrem Kummer. In der Nacht hörte ich sie oft schluchzen. Ein haltloses Schluchzen. Noch heute spüre ich die Hilflosigkeit, die ich damals empfand. Zehn Jahre lang hat sie auf unseren Vater gewartet. Er wurde nicht mehr gefunden. 1955 musste sie ihn für tot erklären.
Später gab es unterschiedliche Geschichten, wie mein Vater umgekommen sein soll. Wurde er zu Tode gefoltert oder aus dem Hinterhalt erschossen? Meine Mutter unternahm alles, um der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Es ist ihr nicht gelungen.
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Ich war gerade 22 Jahre alt, hatte die Jahre nach der Matura in Frankreich und England verbracht – in Paris lernte ich Französisch an der Sorbonne, in England war ich zuerst Au-pair, dann ein Jahr im Hartwell House in Buckinghamshire in einer Finishing School. Hartwell House war nicht wie andere Schulen dieser Art, in der junge Frauen auf das Leben in der Gesellschaft vorbereitet wurden. Aufgrund der außergewöhnlichen Leitung von Miss Neville-Rolfe begann ich mich hier erstmals für politische Zusammenhänge zu interessieren.
Nach meiner Rückkehr nach Wien lebte ich bei meiner Großmutter.3 Sie war eine beeindruckende Persönlichkeit, eine Grande Dame, und führte in einer herrschaftlichen Wohnung einen politischen...