Wie rational ist unsere Wirtschaft? – Eine Einleitung
In der Wirtschaft sind solche Fehlentscheidungen, wie sie in der Politik oder im Kulturbetrieb alltäglich sind, die große Ausnahme. Denn im Wirtschaftsleben geht es kontrolliert zu. –
Ist das wirklich so? Wie aber lassen sich die großen Pleiten der deutschen Nachkriegsgeschichte von Borgward bis Herstatt, von co op bis Vulkan, von Schneider bis Holzmann erklären? Wie kommt es, dass monomanische Manager, überforderte Strategen oder sorglose Banker so lange an großen Rädern drehen können, bis alles zu spät ist?
Wirtschaftsführer selber, aber auch Wirtschaftsjournalisten weben an dem Sonntagsbild: In der Wirtschaft wird kühl kalkuliert. Der Gewinn – oder Verlust – sind objektive Maßstäbe für das Handeln. Insbesondere in Großbetrieben geht es rational zu. Von ausgefeilten Managementtechniken bis zum umfassenden Controlling werden Entscheidungen und Abläufe einer ständigen Überprüfung unterzogen. Da bleibt kein Raum für Willkür und Privatstrategien. –
Wirklich nicht? Wie ist es möglich, dass über die Hälfte aller Großfusionen ökonomisch scheitert? Welche wirtschaftliche Vernunft stand hinter dem BMW-Rover-Deal? Warum gingen Deutsche und Dresdner Bank das unkalkulierbare Risiko einer Elefantenhochzeit ein, die im Fiasko endete?
Solche Pleiten lösen Gegenbilder aus mit Überzeichnungen wie «Nieten in Nadelstreifen». Selbstverständlich ist ein Großteil aller Entscheidungen auf der Führungsebene großer Unternehmungen wirtschaftlich sinnvoll – aber andere eben nicht. Und angesichts der blitzartigen Wucht, mit der die Folgen von Misswirtschaft in und durch große Unternehmen heute in der Wirtschaftslandschaft einschlagen, beruhigt es nicht wirklich, dass der entstandene Flurschaden am Ende das Ganze nicht existenziell gefährdet.
Wir werden zeigen, dass und warum Wirtschaften oft nicht an eindeutigen Maßstäben orientiert sein kann, woraus sich dann auch Fehlentscheidungen ergeben – die wenigstens im Nachhinein als solche deutlich werden. Wirtschaftstheorie wird oft so wahrgenommen, als finde das Handeln der Akteure gleichsam unabhängig von Raum und Zeit statt, in einem Modell-Universum jenseits des sonst in unserem Alltag üblichen sozialen Verhaltens.
Hier wird das Gegenteil betont. Wir werden die Geschichte wichtiger deutscher Unternehmenspleiten erzählen, ihre Entwicklung, Abläufe, Hintergründe und Folgen. Eine Pleite muss nicht immer das Ende eines Unternehmens sein. Sie kann auch einen Erneuerungsprozess einleiten oder, auf einer höheren Ebene, Indikator grundlegenden Wandels des Wirtschaftens sein. Sie ist aber immer der Höhepunkt einer Entwicklung, an der wichtige, widerstreitende Akteure mitgewirkt haben, die für Dramatik sorgen: durch ihre Entscheidungen und die Motive, die zu ihnen führten – rationale Motive ebenso wie, überraschend oft, irrationale; ökonomische ebenso wie politische oder persönlich-private. Akteure von unterschiedlichem Charakter: Charismatiker oder Apparatschiks, Verantwortungsbewusste, Vorsichtige, Zauderer, Draufgänger, Eitle oder sogar Größenwahnsinnige.
Und sie bieten eben Stoff für dramatische «Geschichten», aus denen mehr gelernt werden kann als nur, dass in ihnen «Nieten in Nadelstreifen» am Werk waren, nämlich insgesamt etwas über die «Logik des Misslingens» dort, wo die großen Räder im Wirtschaftsleben gedreht werden. Sie sind zugleich ein Spiegel der bundesrepublikanischen Nachkriegs- und dann Vereinigungsgeschichte, Ausdruck des gesellschaftlichen Wandels: das vermeidbare Scheitern großer Unternehmerpersönlichkeiten wie Carl Borgward, der letztlich ein frühes Opfer von Banken, Sanierern und Politikern wurde, das klägliche Scheitern von Kollegialvorständen an falschen Strategien oder Visionen wie bei AEG und Holzmann ebenso wie der ruhmlose Untergang im Strudel der Globalisierung einer Vielzahl von Internetunternehmen des Neuen Marktes. Einige Pleiten haben selbst die Gesellschaft verändert oder auf besondere Weise Geschichte gemacht wie der Zusammenbruch der Herstatt-Bank oder die Pleiten der Neuen Heimat und anschließend der co op, die das Ende des Genossenschaftsgedankens als Alternative des Wirtschaftens bedeuteten.
Schaut man genauer hin, so kann man sehen, dass es Arten von Managementfehlern gibt, die landesüblich und zeittypisch sind. In der Aufbruchs- und Goldgräberstimmung der neunziger Jahre gab es in Deutschland andere und zugleich häufigere Pleiten als in den frühen sechziger Jahren – als das Scheitern von Unternehmen oft in einem zu schnellen Wachstum nach der Kriegskatastrophe und mangelnden Eigenmitteln begründet war – und den siebziger bzw. achtziger Jahren, in denen sich der spätere Größen-Wahn zum ausgehenden Jahrhundert in ersten Konturen abzeichnete: das Anwachsen von Unternehmen und Gruppen zu immer gigantischeren Gebilden. Herstatt war ein erster Vorläufer der späteren Massenhysterie am Neuen Markt.
«Deutsche» Pleiten meint also: Die hier geschilderten Vorgänge haben die deutsche Wirtschaftsidentität berührt – durch ihre Besonderheiten, ihre Folgen oder ihre schiere Größe viele Menschen in unterschiedlicher Weise betroffen. Sie haben auch dazu beigetragen, diese Identität, den Bürgerstolz auf Wirtschaftswunder, Deutsche Mark und «deutsche Wertarbeit» zugunsten internationalerer Vorstellungen abzubauen. Identitätsformeln der fünfziger, sechziger und siebziger Jahre wie «Made in Germany» oder eben die «gute Deutsche Mark» büßen ihre Zauberkraft ein.
«Deutsche» Pleiten heißt auch, wenn auch nicht immer: Sie ereigneten sich, weil Faktoren eine Rolle spielten, die gerade den «Standort Deutschland» präg(t)en, zum Beispiel die Macht des (Universal-)Bankensystems oder die (Subventions-)Politik, etwa durch die Treuhand-Wirtschaft. In einigen Fällen heißt es, dass sie Ergebnis der Besonderheiten deutscher Geschichte sind. Und schließlich bedeutet «deutsche» Pleiten auch, dass eine Reihe von ihnen von Skandalen umwittert waren, die die Republik bewegten, wie der Fall Jürgen Schneider.
Uns geht es nicht um eine Art «Pleiten-Lexikon»; vielmehr haben wir eine Reihe gleichsam exemplarischer Fälle herausgesucht, die in etwa eine chronologische Abfolge bilden: Ihre Zahl ist klein genug, um tatsächlich ihre Geschichte nachzuzeichnen, und die ausgewählten Zusammenbrüche verdeutlichen dennoch in besonderer Weise das Umfeld, in das «deutsche» Pleiten eingebettet sind:
das Irrationale/die Irrationalen in der Wirtschaft
der Einfluss der Banken
die Verfilzung der Unternehmen zur «Deutschland AG»
wechselnde Moden und Theorien (zum Beispiel von John Maynard Keynes zu Milton Friedman, vom Mischkonzern zum Kerngeschäft), aber auch
verschlafene Entwicklungen (wie bei der AEG) und nicht zuletzt
der Einfluss der Politik.
Im 19. Jahrhundert wurden Entscheidungen durch Eigentümer-Unternehmer auf patriarchalische Art aus dem Bauch heraus getroffen. Persönliche Eitelkeiten und hemmungsloses Gewinnstreben überlagerten nüchternes Kalkül. Ist es damit vorbei? Wird Management-Trainern und Autoren von Management-Büchern geglaubt, gibt es heute die Dominanz der wissenschaftlichen Betriebsführung. Da regiere das Controlling, die wissenschaftlich veredelte Nachfolge der Buchführung. –
Wie kommt es da zu den Klagen, in den Büros der großen Unternehmen werde die Arbeit bis hinauf zu den höchsten Rängen durch Mobbing behindert? Wie erklären sich bei all diesen Kontrollen jahrelange Betrügereien wie bei Opel und Ford oder Fälschungen wie bei VW? Korruption und Schmiergeld gehören bei Unternehmen so sehr zum Alltagshandeln, dass die Aufwendungen hierfür von der Steuer absetzbar waren; inzwischen ist dies wenigstens auf Auslandsgeschäfte beschränkt.
Das blinde Nachvollziehen von Moden in der Art der Unternehmensführung ist als Grund für Fehlentscheidungen im Topmanagement nicht zu unterschätzen. Und je größer die Unternehmung, umso wahrscheinlicher wird, dass sich Privatstrategien einzelner Manager zulasten des Firmenwohls durchsetzen. Auch auf Vorstandsebenen verselbständigen sich Machtspiele von Managern gegenüber dem Firmenzweck, wird öfters weniger gewirtschaftet als Krieg geführt, Bürgerkrieg. In den USA (nur dort) gibt es einen florierenden Literaturzweig, der diese menschlich-emotionale Seite von Unternehmensführung und betriebsinternen Abläufen zum Thema hat, die «Business Novel».
Dieses Buch sollte indessen nicht vornehmlich als Schelte solcher Zustände verstanden werden oder als Tadel von persönlichem Fehlverhalten – auch wenn es immer wieder Thema ist. Wir wollen vielmehr ein Verständnis davon vermitteln, dass Wirtschaften kulturell eingebettet ist und nicht etwa abgelöst von der eigenen Gesellschaft nur objektiven Regeln folgt.[1] Das bedeutet: Auch im Wirtschaftsleben läuft ohne «Checks and Balances» vieles aus dem Ruder. Wie in der Politik gilt auch hier: Das Führungspersonal verwendet viel Einfallsreichtum darauf, sich den Kontrollen zu entziehen. Fehlentscheidungen und individuelles Fehlverhalten sollen hier als Teil des Systems «Wirtschaft in Deutschland» und als Folge von Zeitumständen geschildert, begriffen und analysiert werden.
In der Zeit, als der Eiserne Vorhang Europa und darüber hinaus einen Großteil der Welt teilte, schien im Prinzip ausreichend, zum Verständnis von Abläufen in der Wirtschaft ihre Teile grob als «kapitalistische» und «kommunistische» Zonen zu charakterisieren. Heute richtet sich...