Teil I: Theoretische Hintergründe
1 Die vielen Dimensionen depressiver Erkrankungen
1.1 Die Vielfalt von Erscheinungsbildern und Einflussfaktoren bei depressiven Erkrankungen
Das klinische Zustandsbild, in dem sich eine Depression äußern kann, ist bei vielen Menschen völlig verschieden ausgestaltet. Man kann zur Überzeugung gelangen, dass jeder depressive Mensch auf seine eigene Art auf die Krankheit Depression reagiert.
Der Kliniker ist naturgemäß immer versucht, ein Symptom-Muster zu erstellen, das in jedem Fall zur Diagnose »Depression« hinführt – unabhängig von ätiologischen Einteilungen, wie in endogene, somatogene und psychogene Depressionen, die heute nicht mehr nachvollziehbar sind.
Auch die Aufteilung in »Major und Minor Depression« stellt einen Versuch dar, mit dem Phänomen Depression in irgendeiner Weise fertig zu werden. Sie führt nicht vorbei an dem Faktum, dass es, unabhängig von allen hochgestochenen diagnostischen Zuordnungen, ein depressives Kernsyndrom gibt, das in seiner Symptomatik der Major Depression weitgehend nahekommt (Philipp und Maier 1987, Steck 1988). Allerdings muss man dabei akzeptieren, dass es in verdünnter Form bei vielen anderen psychischen Störungen beobachtbar ist und somit unter zahlreichen anderen Diagnosen abgehandelt wird – angefangen von vegetativer Dystonie über verschiedene psychosomatische Störungen, larvierte Depression, endoreaktive Dysthymie bis zum Burn-out und psychoautonomen Anpassungsstörungen.
Schlafstörungen (besonders Durchschlafstörungen und Schlafverkürzung), Befindlichkeitseinbußen, wie einschießende Verstimmungen und Konzentrationsstörungen, kennzeichnen so gut wie immer auch depressive Beeinträchtigungen.
Appetitmangel, Tagesschwankungen der Befindlichkeit und Hoffnungslosigkeit lassen sich bei mehr als der Hälfte von depressiv bezeichneten Patienten erheben (Winokur et al. 1969). Man muss immer wieder nach diesen Symptomen fragen, denn der depressive Mensch trägt sie nicht auf den Lippen. Er verschweigt seine Symptomatik schamhaft, und Fragebögen, die er vorgelegt bekommt, können diesen Prozess kaum erhellen. Das ist eine der vielen Schwierigkeiten, die sich der Diagnostik einer Depression entgegenstellen. Es besteht der Eindruck, dass der Depressive sich immer mehr in sich zurückzieht, immer mehr introvertiert erscheint, wie wohl bei zyklischen Menschen ursprünglich eine extravertierte Persönlichkeitsstruktur angenommen wurde.
Der Depressive entzieht sich immer mehr, zuerst den anderen Menschen, dann sich selbst. Er wird zu einer leeren entemotionalisierten Hülse ohne den Schutz eines funktionierenen Selbstkonzepts.
Eine zweite (oder andere) Problematik besteht darin, dass uns ein kategoriales Krankheitsmodell der Depression allein nicht weiterführt (Cantor et al. 1980):
Die geschilderten Symptome unterliegen beim einzelnen Patienten so starken qualitativen und quantitativen Schwankungen, dass viel eher ein dimensionales Modell der Depression – wie wir es verstehen – dieser Störung gerecht werden kann.
Kategoriale Gesichts- und Ordnungsaspekte gehen von qualitativ unterschiedlichen Merkmalen aus. Untergeordnete Kategorien weisen alle Kriterien der ihnen übergeordneten auf.
Die dimensionale Betrachtungsweise hingegen stellt die unterschiedliche Qualität kategorialer Klassen in Zweifel und kennzeichnet jede Person durch eine Vielzahl von Eigenschaften, die verschieden dimensioniert kontinuierlich verteilt sind. Sie bezieht sich auf quantitative Unterschiede, die auch gemessen werden können (Widiger und Trull 1991). Es liegt deshalb nahe, depressiven Störungen eher mit einer dimensionalen Betrachtungsweise zu begegnen:
So hat Kendell (1976) Schweregrade (leicht und schwer), Verlaufsvarianten (akut und chronisch) und Prägnanztypen bei Depressionen unterschieden und zwei Typen herausgestellt: Der eine ist durch Schuldgefühle, Schlafstörungen, Gewichtsverlust und tiefe Verstimmung charakterisiert, der andere leidet an einer weniger schweren Form der Depression, lässt ein Fluktuieren der Beschwerden erkennen und repräsentiert ebenfalls ein typisches Symptommuster.
Unter dimensionalen Gesichtspunkten kann auch die psychopathologische Ausgestaltung der Depression eine Erweiterung erfahren. Erlebte Vitalstörungen, vegetative Symptome, Coenästhesien (Leibgefühl und Körperschemastörungen) sowie somatoforme Störungen müssen mehr beachtet und kognitive Störungen, Denken, Wahrnehmen, Gedächtnis, Urteilen und Entscheiden stärker bewertet werden. Die Nähe von Angst, Zwang, phobischen Attacken, Entfremdung und histrionischen Einschlüssen, die man bisher als komorbide Störungen eingeordnet hat, müsste aus dieser Sicht ebenfalls neu bewertet werden.
Dass Aggression eine Rolle in der Symptomatik der Depression spielt, kommt nicht nur in der Selbstmordproblematik zum Ausdruck. Auch feindselige Einstellungen, die sich hinter den Isolationstendenzen verbergen, ungerechtfertigte Beschuldigungen, grundlose Abwertungen anderer etc., sind hier anzuführen. Alles aber im Einzelverlauf »mehr oder weniger«. Es besteht der Eindruck, dass jeder Depressive seine eigene individuell gestaltete depressive Störung aufweist, die letztlich das Grundmuster der Major Depression in sich birgt.
Die epidemiologisch orientierte Depressionsforschung hat in letzter Zeit unseren Wissensstand deutlich erweitert und neue Ergebnisse bezüglich der Bedeutung von Verlaufsaspekten, Symptomkombinationen und psychosozialen Einflussfaktoren eingebracht:
Die Prävalenz depressiver Symptome (nicht der depressiven Störung!) wird mit 24 Prozent angegeben (Horwath et al. 1992). 50 Prozent der depressiven Symptome sind vor der ersten Manifestation einer Major Depression nachweisbar (Wells et al. 1992).
Der Prozentsatz der Chronizität depressiver Erkrankungen beträgt nach Keller et al. (1992) 12 Prozent.
Zusätzlich hat sich auch eine hohe Anzahl von im Krankheitsintervall persistierenden depressiven Symptomen nachweisen lassen, die ihrerseits wieder zum Rückfall führt (Wells et al. 1992). Patienten, die nicht völlig wiederhergestellt sind, bieten dann auch nicht selten das Bild einer Dysthymie (Keller et al. 1992).
Nach Wolpe (1990) können auch primäre Angststörungen als Vulnerabilitätsfaktoren für das Entstehen einer Depression angesehen werden. Das Risiko, dass Menschen mit primären Angststörungen später eine Depression entwickeln, ist sieben bis zwölf Mal erhöht.
Wittchen (2000) beschrieb psychopathologische Indikatoren, die eine Chronizität der Störung ankündigen: Früher Krankheitsbeginn, langsamer, nicht akuter Beginn der Störung, Vorliegen einer Dysthymie, zusätzliche chronische körperliche Erkrankungen und chronische Angststörungen. Versagensangst ist ebenfalls als ein Symptom der Depression zu werten. Auch die Familiengeschichte (mit Depressionen) kann die Inzidenz und den Wahrscheinlichkeitsgrad einer völligen Wiederherstellung des Patienten beeinflussen (Warner und Wickramaratne 1992).
Auch psychosozialen Faktoren kommt eine erhebliche Bedeutung für die Krankheitswahrscheinlichkeit und den Depressionsverauf zu: Wer in den letzten fünf Jahren mindestens sechs Monate arbeitslos war, hatte im Vergleich ein dreimal höheres Risiko an einer Episode einer Major Depression zu erkranken. Niedriges Einkommen und Abhängigkeit von öffentlicher finanzieller Unterstützung stellt gleichfalls ein dreimal höheres Risiko für Major Depression oder bipolare Störungen dar.
Affektive Störungen, besonders Depressionen, sind deutlich häufiger bei Personen, die vom Partner getrennt, geschieden oder verwitwet leben. Frauen sind dabei in der Überzahl (Wittchen 2000). Erschwerende Umstände sind hier in der Unschärfe der Diagnosen zu berücksichtigen. So können sich zunächst als Dysthymie eingestufte Krankheitsbilder im weiteren Verlauf als bipolare Störungen herausstellen. Das heißt, die Stabilität der Diagnosen ist nicht hoch anzusetzen (Angst 1987).
Gegenüber der langjährig gegebenen Überbetonung unipolarer depressiver Erkrankungen hat sich die Aufmerksamkeit zunehmend auf die tatsächliche Vielfalt und Variabilität emotionaler Syndromanteile gerichtet.
Einen völlig neuen Ansatz verfolgte hier Akiskal bereits 2002 mit seiner konzeptualen Integration bipolarer Störungen. In Anlehnung an Kraepelin (1913), Kretschmer (1921) sowie Jean Delay (1960) formuliert er ein bipolares Spektrum, das klinisch als Manie, Hypomanie, Zyklothymie und Hyperthymie beschrieben und im Durchschnitt bei fünf Prozent der Bevölkerung gefunden wird. Darüber hinaus lassen sich 50 Prozent der Depressiven klinisch in das bipolare Spektrum einbeziehen.
Akiskal (2002) unterscheidet im Einzelnen sechs verschiedene bipolare Manifestationen:
- Bipolar 1/2: Betrifft schwere psychotische Störungen, schizo-bipolare Patienten, bisweilen einige postpartale psychotische Patienten.
- Bipolar I: Stellt die klassische Form der manisch depressiven Erkrankung dar: Am manischen Pol oft psychotisch, typisch alternierend mit depressiven Episoden. Am manischen Pol reiche Phänomenologie, einschließlich ängstlich-depressiver und feindseliger Züge. Im Längsschnittverlauf unterschwellige Symptome – mehr depressive als submanische. Drogen- und Alkoholabhängigkeit.
- Bipolar II: Patienten stehen meist ursprünglich wegen einer Depression in...