1 Grundkonstruktion
1.1 Allgemein
Tiere besitzen einen eigenen Grundbauplan, der sich wie ein roter Faden durch alle Säugetiere und durch den Menschen hindurchzieht, da all diese Organismen denselben Lebensursprung haben. Auf diese Weise wirken sich die Grundkonstruktionen der Wirbelsäule (WS) und der Gliedmaßen auf die Bewegungen des Tieres aus.
Für den Therapeuten ist es sehr nützlich, diesen Grundbauplan von der Entstehung aus zu verstehen, um Ursachen von Störungen leichter zu erkennen sowie gezielter und erfolgreicher behandeln zu können.
1.2 Entstehung der Wirbelsäule
Im Urmeer lebten Milliarden von Bakterien. Sie produzierten als Abfallprodukt Sauerstoff. Es drohte eine globale Katastrophe, denn Sauerstoff war lebensgefährlich für die ersten Lebewesen auf dieser Erde. Einige Bakterien entwickelten sich weiter und konnten schließlich dieses erstickende Abfallprodukt zu ihrem Lebensgrundstoff umwandeln. Sie überlebten. Es zeigte sich jedoch, dass diejenigen Bakterien am besten überlebten, die sich in einem Kollektiv, einem Zellverbund, zusammengeschlossen hatten. In diesem Zellverbund bekam jedes Bakterium seine eigene Aufgabe, auf die es sich später spezialisierte. Einige der Bakterien, Zellen, waren für die Nahrungsaufnahme verantwortlich, die nächsten für die Verdauung, wieder andere für die Fortbewegung und andere (die heutigen Hautzellen) für den Schutz des Zellverbundes. Dieses neue, im Wasser strudelnde Individuum besaß zum Überleben einige Vorteile gegenüber seinen einzelligen Vorfahren. Der Organismus war geboren. Dieser Organismus hatte nun ein Aufnahmerohr für die Verdauung, einen Verdauungskanal, er konnte sich fortbewegen und er hatte eine Hülle. Nun fehlte noch eine wichtige Ausstattung: Unser Lebewesen musste sensibel werden. Es sollte fühlen können, ob es nicht vielleicht gegen einen Felsen stößt, es sollte sehen können, um zur optimalen Nahrungssuche wenigstens hell und dunkel unterscheiden zu können. Vielleicht sollte es auch spüren können, wohin es gerade strudelt, ob nach oben oder unten, und ob es kalt oder warm wird. Es sollte sich dorthin bewegen können, wo es gerade die meiste Nahrung finden kann oder die Lebensbedingungen gerade optimal sind. Außerdem wäre es günstiger, wenn es seine Muskelzellen gezielt einsetzen könnte, dann wären genauere Bewegungen möglich.
Das Nervensystem wurde erfunden. Steuerungszentralen und Leitungsbahnen entstanden, die all die Sinnesreize aufnehmen konnten, die in der Zentrale verarbeitet wurden, um schließlich gezielte Kommandos an das Bewegungssystem weiterzugeben, damit sinnvolle Bewegungen entstehen konnten.
Das Nervensystem ist also eine äußerst wichtige Einrichtung für das Lebewesen. Geschickterweise siedelt man es in der Mitte des Organismus schlauchförmig an, damit von dort auf kürzestem Weg Informationen von der Außenwelt eintreffen und schnell Kommandos an die Muskeln weitergegeben werden können.
Erst durch das Nervensystem wurden komplexere Bewegungen möglich. Es konnte besser nach Nahrung gesucht und sich den aktuellen Umweltbedingungen angepasst werden (warm/ kalt), außerdem wurde Sozialverhalten überhaupt erst möglich (z.B. Schwarmverhalten bei Fischen), und schließlich konnte sogar eines Tages der erste Landgang unternommen werden.
Eine solche geniale Einrichtung musste geschützt werden. Ohne das Nervensystem ist der komplexe Organismus nicht überlebensfähig. Das Nervensystem muss seinen Platz möglichst nah an allen Teilen des Körpers behalten, und es braucht eine zentrale Steuerung. Es muss jede Bewegung des Organismus mitmachen können, ohne gezerrt oder geknickt zu werden, gleichzeitig muss es unbedingt vor Verletzungen geschützt werden.
Die beste Lösung dafür ist ein Knochenpanzer, der in einzelne Glieder aufgeteilt ist (? Abb. 1.1). Die Glieder sind dabei sehr eng miteinander verwoben, können sich aber gegeneinander bewegen, wenn auch nur in sehr geringem Ausmaß.
Wenn sich jedoch jedes der Kettenglieder ein wenig in eine Richtung bewegt, ergeben alle zusammen ein beträchtliches Bewegungsausmaß, damit der Organismus zufriedenstellende Bewegungen durchführen kann. Die Bewegungsmöglichkeit innerhalb der Kettenglieder und das gesamte Bewegungsausmaß müssen sich schließlich an die Lebensbedingungen des Organismus anpassen – ob es z.B. ein Fisch ist, der durch Schlängelbewegungen vorwärtskommt, ob es eine Echse ist, die sich vom Boden abstemmen und den Hals recken muss, um an die Blätter zu gelangen, ob es ein Raubtier ist, welches sich drehen und wenden muss, um ein Opfer erlegen zu können, oder ob es ein Tier ist, welches mit hoher Geschwindigkeit trittsicher über die Steppen galoppieren können muss.
Für diese Anforderungen an die Beweglichkeit eines lebenden, sich fortbewegenden Organismus steht uns als Grundbausäule und zum Schutz für die „Steuerungszentrale Rückenmark“ das folgende Grundmodell aus der Natur zur Verfügung: der Wirbel (Vertebra), das Kettenglied des beweglichen Rohres, welches das Nervensystem (hier das Rückenmark) schützen soll. Der Wirbel besteht aus dem Wirbelkörper (Corpus vertebrae) und dem Wirbelbogen (Arcus vertebrae), der das Rückenmark schützend umschließt.
Abb. 1.1 Die Wirbelsäule des Pferdes.
Fest zwischen den Wirbelkörpern verankert, jeweils vorn und hinten, liegen die Bandscheiben (Disci intervertebrales), die kleine Schaukelbewegungen zulassen. Die Bandscheiben dämpfen die Schubkräfte ab, die von vorn und hinten auf die Wirbelsäule einwirken. Von Wirbelkörper zu Wirbelkörper und von Wirbelbogen zu Wirbelbogen ziehen jeweils kurze, stabile Bandsysteme (Ligamenta), um ein Abknicken zu verhindern, ein wichtiger Schutz für das Rückenmark (? Abb. 1.2) ? [67].
Abb. 1.2 Die Bänder der Pferdewirbelsäule.
oben: schematische Darstellung
unten: Wirbelsäule eines Rindes (ähnlich der des Pferdes)
Es benötigt aber noch Muskeln, um diese ganze Säule, diesen Stab, bewegen zu können und noch mehr Festigkeit zu verleihen, je nachdem, welche Bewegung gerade angesagt ist. Und diese Muskeln benötigen günstige Verankerungsplätze. Die Natur hat zu diesem Zweck an den Wirbelbogen jeweils drei große Fortsätze angebracht. Es gibt rechts und links jeweils die Querfortsätze (Processi transversi) und nach dorsal den Dornfortsatz (Processus spinosus).
Hier können Muskeln optimal ansetzen und kleine Bewegungen steuern oder die Muskeln machen sich steif und verhindern eine Bewegung, je nachdem, welche Signale sie aus dem Rückenmark erhalten. Die Wirbelfortsätze sind je nach Wirbelsäulenabschnitt völlig verschieden ausgeprägt, je nachdem, welche Bewegungsaufgabe dieser Wirbelsäulenabschnitt hat. So weisen Halswirbel (C) fast keine Fortsätze auf, die vorderen Brustwirbel (T) stechen durch ihre enorm langen Dornfortsätze hervor, die Lendenwirbel (L) beeindrucken durch ihre langen Querfortsätze (hier heißen sie: Processi costari – Rippenfortsätze).
1.3 Facettengelenke
Wenn die Muskeln auf einer Seite ziehen, dann müssten theoretisch dort die beiden Wirbel vollständig zur Seite klappen. Es ist also noch eine Führung der Bewegung notwendig. Dafür hat die Natur kleine Gelenke an den Wirbelbögen eingerichtet, genauer gesagt an den sogenannten Gelenkfortsätzen (Processi articulares). Diese kleinen Gelenke sind diejenigen, die die Bewegungen so führen, wie es für diesen Wirbelsäulenabschnitt gerade am zweckmäßigsten ist. Die Wirbel gleiten bei Muskelzug nun vielmehr „zueinander“.
Erst mit den Flexions- und Extensionsbewegungen (Beugen und Strecken) höher entwickelter Landbewohner (Galopp), die leistungsfähige Gliedmaßen besaßen, musste die Gelenkführung wieder geändert werden. Es entwickelten sich die vertikal gestellten Gelenkflächen der Lendenwirbelsäule (LWS) ? [7].
Die Bewegungsmöglichkeit zwischen den Wirbeln wird also von der Lage der Gelenkfacetten in der Saggitalebene bestimmt und ist in den einzelnen Abschnitten der Wirbelsäule unterschiedlich ? [65]:
In der Halswirbelsäule (HWS) liegen die Gelenkfacetten 45° schräg im Raum. Dies ist eine besonders bewegliche Variante, die viel Lateroflexion, aber auch Beugung und Streckung zulässt. Rotation ist eher weniger möglich.
In der Brustwirbelsäule (BWS) liegen die Gelenkflächen der Wirbelbogengelenke flach auf, hier ist besonders die Rotation gut möglich.
In der Lendenwirbelsäule (LWS) sind die Facettengelenke grubenförmig von vorn nach hinten ausgerichtet. Hier sind fast nur noch Beugung und Streckung möglich.
Die Facettengelenke des Kreuzbeins (Sakrum) bis zum zweiten Halswirbel (Axis) liegen von hinten anfangend dachziegelartig übereinander. Das heißt, der kraniale Wirbel liegt mit seinem Facettengelenk auf der Gelenkfläche des kaudalen Wirbels auf.
1.4 Rumpfkonstruktion
Galoppiert ein Pferd quer einen steinigen Abhang hinunter, muss es seine vier Gliedmaßen sehr überlegt aufsetzen, um nicht auszurutschen oder das Gleichgewicht zu verlieren. Unser heutiges Pferd kann auf unebenem Gelände vorzüglich in erstaunlich hoher Geschwindigkeit laufen. Damit sich solch ein Lebewesen so leichtfüßig fortbewegen kann, benötigt es einen ruhenden Pol im Zentrum seines Gleichgewichtes, den Schwerpunkt.
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