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E-Book

Marguerite Porete

Textauswahl und Kommentar von Gerhard Wehr

AutorMarguerite Porete
Verlagmarixverlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783843804363
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
'Ihr Leben löst die Wahrheit ihres Buches ohne Worte ein.' Franz-Josef Schweitzer Marguerite Porete hatte in einer ebenso überzeugenden wie herausfordernden Weise das Wort ergriffen und Widerhall unter dem Kirchenvolk ihrer Region gefunden. Ihr oblag es, einen Stufenweg der Seele zu Gott zu zeigen. Sie legte in temperamentvollen, bisweilen enthusiastischen Dialogen dar, wie sich die erleuchtete Seele von den Unzulänglichkeiten der menschlichen Vernunft wie auch der herkömmlichen Tugenden zu verabschieden habe, um sich in hingebungsvoller Liebe mit der Gottesliebe zu verbinden, einer Verbindung, die eine ungeahnte Freiheit des Geistes (spiritus libertatis) eröffnet. Sich selbst versteht diese ihres Adels bewusste Seele als eine Herrin über die Tugenden und als eine geradezu ebenbürtige Tochter der Gottheit. Marguerite Porete hat mit ihrer tief im menschlichen Geist verankerten Liebe zu Gott das christliche Denken nachhaltig beeinflusst. Wie viele andere - gerade weibliche - vordenkende Mystiker musste auch sie für das Eintreten für ihre Glaubensweise auf dem Scheiterhaufen mit dem Leben bezahlen. Die den Beginen angehörende französischsprachige theologische Schriftstellerin war für eine Frau ihrer Zeit äußerst gebildet und vertrat ihre Ansichten zu öffentlich, und das ohne ihre Lehre als einer Gottesoffenbarung entsprungen zu bezeichnen, was im frühen Mittelalter meist der einzige Weg war, als theologisch in der Öffentlichkeit agierende Frau nicht in Konflikt mit der mittelalterlichen Inquisition zu kommen. Enthusiasmus rief Marguerite Porete unter den Gläubigen mit ihrer Lehre hervor, in der der Spiegel die etappenweise Befreiung der menschlichen Seele aus der weltlichen Abhängigkeit hin zu Gottes allmächtiger Liebe versinnbildlicht.

Marguerite Porete kam vermutlich im Jahr 1250 in der nordostfranzösischen Stadt Valenciennes zur Welt. Aufgrund ihrer hohen Bildung darf man vermuten, dass sie dem Patriziat der Stadt entstammt. Sie schloss sich der Beginenbewegung an und hatte ein zwiespältiges Verhältnis zur Kirche. Ihr in einfacher Volkssprache geschriebenes Werk Der Spiegel der einfachen Seelen versetzte die kirchliche Inquisition in Aufruhr und führte zu ihrer öffentlichen Verbrennung im Jahr 1310 in Paris. Heute gilt sie als eine der wichtigsten Mystikerinnen und theologischen Schriftstellerinnen Frankreichs. Der Herausgeber Dr. theol. h.c. Gerhard Wehr, geb. 1931 in Schweinfurt/Main. Nach langjähriger Tätigkeit auf verschiedenen Feldern der Diakonie und der Erwachsenenbildung, zuletzt als Lehrbeauftragter an der Fachakademie für Sozialpädagogik in Rummelsberg/Nürnberg, arbeitet er als freier Schriftsteller in Schwarzenbruck bei Nürnberg. Ein Großteil seiner Werke zur neueren Religions- und Geistesgeschichte ist in mehreren europäischen und asiatischen Sprachen verbreitet. Der Übersetzer Dr. Bruno Kern, geboren 1958, studierte Theologie und Philosophie in Wien, Fribourg, München und Bonn; er lebt zurzeit in Mainz und arbeitet als selbstständiger Lektor und Übersetzer

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Leseprobe

AUS DEM Spiegel der
einfachen Seelen
39


Im Original findet sich am Eingang ein an die künftigen, offensichtlich kritisch eingestellten, inquisitorisch gesinnten Leser gerichtetes Gedicht in gereimter Form, mit folgendem Wortlaut:

Ihr künftigen Leser dieses Buches,

wenn ihr es recht verstehen wollt,

dann achtet darauf, was ihr darüber sagt,

denn es ist schwer zu begreifen.

Ihr müsst euch von der Demut leiten lassen,

denn sie ist die Hüterin des Schatzes der Wissenschaft

und die Mutter aller anderen Tugenden.

Ihr Theologen und anderen Gelehrten [clercs],

bei all eurem Scharfsinn

wird sich euch das Verständnis nicht erschließen,

wenn ihr dabei nicht demütig seid

und zulasst, dass Liebe und Glaube gleichermaßen

die Vernunft überwinden:

Denn sie beide sind Herrinnen im Haus.

Die Vernunft selbst bezeugt dies,

und zwar im dreizehnten Kapitel dieses Buches,

und sie empfindet deshalb keine Scham:

Denn die Liebe und der Glaube erfüllen sie mit Leben,

sie entledigt sich ihrer niemals,

denn sie sind ihre Herrinnen.

Deshalb ziemt es sich, dass sie sich demütig unterwirft.

Seht zu, dass eure Wissenschaften,

deren Grundlage die Vernunft ist, demütig werden,

und vertraut euch denen völlig an,

die durch die Liebe gegeben und vom Glauben erhellt

sind.

Dann werdet ihr dieses Buch verstehen,

das der Seele aus der Liebe heraus Leben verleiht.

DIE VON GOTT BERÜHRTE SEELE40 (KAPITEL 1)


Prolog:

Die von Gott berührte und im ersten Gnadenstand von Sünde frei gewordene Seele ist durch die Gnade Gottes in den siebenten Stand aufgestiegen. Das ist jener Zustand, in dem die Seele im Land des Lebens ihre höchste Vollkommenheit erlangt hat und in göttlicher Weise genießt.

Hier spricht die Liebe:

Ihr Tätigen und ihr Kontemplativen, ja vielleicht sogar ihr, die ihr durch die wahre Liebe zunichte geworden seid, vernehmt jetzt von vielerlei wundersamen Wunderwirkungen der reinen, der erhabenen, der hohen Liebe einer frei gewordenen Seele, und hört, wie der Heilige Geist auf ihr sein Segel gesetzt hat, wie auf sein Schiff!

In diesem Prolog intoniert Porete das Thema ihres ganzen Buches. Angesprochen sind Menschen unterschiedlicher Verfassung, sowohl solche, die mitten im tätigen Leben (vita activa) stehen, als auch Menschen der vita contemplativa. Offen gelassen ist, ob auch bereits durch die wahre Liebe Vernichtigte, zu ihrem wahren Selbst und Ziel ihres Lebens Gekommene, unter ihnen sein mögen. Darunter sind, wie eingangs ausgeführt, Menschen zu verstehen, die in Erkenntnis ihrer irdischen Nichtigkeit bereits den Status der ersehnten Freiheit erlangt haben, soweit dies in diesem Leben schon möglich sein sollte. Denn dies entspricht dem siebenten Stand des Stufenwegs, den Porete in ihrem Buch zeigen will. Namentlich im 61. Kapitel werden sieben Stadien einzeln aufgeführt. Ein Weg ist zwar dazu da, beschritten zu werden. Doch wie noch zu sehen sein wird, verzichtet die Autorin darauf, von ihrer Leser- oder Zuhörerschaft Anstrengungen in der Art frommer Leistungen zu verlangen. Von einem solchen religiös motivierten Leistungsdenken in der Tugenderfüllung und im Gehorsam hat sie sich verabschiedet. Das Ringen um sogenannte Werkgerechtigkeit kann ihre Sache nicht sein. Ja, sie lässt durchblicken, dass jeglicher Leistungsdruck gleich welcher Art ein Leben in liebender Hingabe erschwert, wenn nicht verfälscht. Vielmehr macht sie bereits hier deutlich, dass der Aufstieg ins Land der Freiheit nur durch göttliche Gnade und dank der Kraft des Heiligen Geistes bewirkt werden könne. Von daher richtet sie ihre Bitte an ihr Publikum, indem sie sagt, worauf sich die zur Pilgrimschaft Bereiten einzustellen haben, um nicht manchen naheliegenden Missverständnissen zu unterliegen. Um ein Beispiel zu geben, geht sie auf ein Motiv aus dem sogenannten Alexanderroman ein, der sich in freier Weise auf Alexander den Großen bezieht oder beziehen soll.

Um der Liebe willen bitte ich euch, sagt die Liebe: Hört aufmerksam zu, mit Wissensdurst und scharfem Verstand, sehr gewissenhaft und von eurem Inneren her! Denn sonst werden es alle, die jetzt zuhören, wenn sie es schon nicht in die Tat umsetzen, missverstehen.

Hört euch jetzt ganz demütig eine kleine Gleichniserzählung von der weltlichen Liebe an und übertragt diese dann auf die Gottesliebe:

Es lebte einst ein Edelfräulein, eine Königstochter. Sie war großherzig, von edler Gesinnung und edelmütig. Sie lebte jedoch in einem fremden Land. Da trug es sich nun zu, dass dieses Fräulein über die große Vornehmheit und den großen Adel des Königs Alexander hörte. Und sogleich liebte sie ihn aus ganzem Herzen, weil er so berühmt war und alle andern überragte. Aber das Fräulein lebte von diesem mächtigen Herren, dem ihre ganze Liebe galt, so weit entfernt, dass sie ihn weder sehen noch mit ihm zusammen sein konnte. Sie war darüber innerlich untröstlich. Denn keine andere Liebe außer dieser einen konnte sie erfüllen. Und als ihr bewusst wurde, dass diese ferne Liehe zwar innerlich ganz nah, aber den äußeren Umständen nach so weit weg war, da dachte sie bei sich darüber nach, wie sie ihren Kummer stillen könnte, indem sie sich nämlich die äußere Erscheinung ihres Freundes, durch den sie so oft in ihrem Herzen verletzt war, in Form eines Bildnisses vorstellte. So ließ sie sich also ein Bild malen, das die Züge des geliebten Königs so treu wie möglich wiedergab – der Vorstellung ihrer liebenden Zuneigung entsprechend, von der sie durchdrungen war. Und mithilfe dieses Bildnisses sowie auch anderer Hilfsmittel hatte sie in ihrer Vorstellung den König selbst vor Augen.

Die Seele:

Genau so ist es, spricht die Seele, welche dieses Buch niederschreiben ließ. Ich kann euch das bestätigen. Ich habe von einem sehr mächtigen König gehört, den überaus große edle Vornehmheit auszeichnete, ein wahrhaft edler Alexander war er. Doch er war so weit weg von mir und ich war so weit weg von ihm, dass ich mir keinen Rat wusste. Und um mich an ihn zu erinnern, gab er mir dieses Buch. Es ist sozusagen der Ausdruck seiner Liebe. Doch wenn ich auch sein Bild habe, so bin ich dennoch in der Fremde und weit weg vom prächtigen Haus, in dem die gar edlen Freunde dieses Herrn wohnen. Sie sind alle ohne Falsch, geläutert und frei geworden durch die Gaben dieses Königs, mit dem sie zusammen wohnen.41

Die Autorin:

Wir wollen euch deshalb sagen, inwiefern unser Herr keineswegs von der Liebe entbunden ist, wie aber die Liebe durch ihn selbst für uns frei wurde, damit die Kleinen dies durch euch erfahren können. Der Liebe nämlich ist alles erlaubt42, ohne dass sie jemandem Schaden zufügt. Wie das zugeht, das wollen wir euch im Lauf dieses Buches sagen.

DAS VORHABEN DER LIEBE UND WARUM SIE DIESES BUCH SCHREIBEN LIESS (KAPITEL 2)


Die Liebe:

Ihr Kinder der heiligen Kirche alle, spricht die Liebe. Ihr seid es, für die ich dieses Buch geschrieben habe, damit ihr zu einer höheren Wertschätzung des vollkommenen Lebens und des Zustands des Friedens gelangt. Ihn erreicht der Mensch [creature] 43 durch die Tugend der vollkommenen Liebe. Sie wird uns durch die Dreieinigkeit insgesamt geschenkt. Von dieser Gabe werdet ihr in diesem Buch noch hören, wenn das Verständnis der Liebe die Fragen der Vernunft beantwortet.

HIER SPRICHT DIE LIEBE ÜBER DIE GEBOTE DER HEILIGEN KIRCHE (KAPITEL 3)


Die Liebe:

Lasst uns hier, so spricht die Liebe, mit den Geboten der heiligen Kirche beginnen, damit jeder in diesem Buch mit Gottes Hilfe seine Nahrung finde. Gott nämlich hat uns das Gebot gegeben, dass wir ihn lieben sollen aus unserem ganzen Herzen, unserer ganzen Seele und mit all unserer Kraft, und dass wir uns selbst in angemessener Weise lieben sollen, sowie unsere Nächsten wie uns selbst [Mk 12,30 f; Lk 10,27].

Zunächst: Wir sollen ihn, spricht die Liebe, aus unserem ganzen Herzen lieben. Das heißt, dass wir mit unseren Gedanken stets wirklich bei ihm sein sollen. Und wir sollen ihn aus unserer ganzen Seele lieben. Das bedeutet, dass wir nichts als die Wahrheit sagen, selbst wenn es um den Tod geht. Und mit all unserer Kraft sollen wir ihn lieben. Das will sagen, dass wir all unsere Werke nur für ihn vollbringen. Und uns selbst sollen wir lieben in angemessener Weise:

Das heißt, wenn wir uns daran halten, dann suchen wir...

Blick ins Buch

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