ZUM EWIGEN GEDÄCHTNIS
Einleitung von Bruno Kern
KARL KRAUS UND DIE PHYSIOGNOMIE DES KRIEGS
„Ich habe alles reiflich erwogen.“ Mit diesem Satz beginnt die Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien – jener Text, den Karl Kraus zu Beginn des Krieges als das einzige Gedicht bezeichnet hat, das „diese große Zeit“ bislang hervorgebracht habe.1 Vorausgegangen waren ihm das Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und dessen Frau und ein Ultimatum an Serbien, das von vornherein unannehmbare Bedingungen formulierte. Das Ergebnis war jene „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“, die man sich weder in ihren bis dahin ungekannten Ausmaßen noch in ihren weitreichenden Folgen hatte vorstellen können. Der historische Streit über die Ursachen des Krieges dauert fort. Während für den Zweiten Weltkrieg die Schuldfrage eindeutig zu beantworten sei, seien die Völker in den Ersten Weltkrieg „hineingeschlittert“2 – so lautet eine immer wieder zitierte These, die allerdings gerade nichts befriedigend beantwortet, sondern beunruhigende grundsätzliche Fragen erst aufwirft: Wie ist es um eine Menschheit bestellt, die in eine derartige Katastrophe nahezu unabsichtlich gerät? Ist der aufklärerische Anspruch des Menschen, die Geschichte „mit Willen und Bewusstsein“ zu gestalten, eine naive Illusion? Wer sind die eigentlichen Akteure der Geschichte, oder welchen unkontrollierbaren Mechanismen sind wir ausgeliefert? Der Erste Weltkrieg mutet wie der blutige Beweis jener Geschichtsauffassung an, die Friedrich Engels folgendermaßen auf den Punkt brachte: „[Die Geschichte macht sich so], dass das Endresultat stets aus dem Konflikt vieler Einzelwillen hervorgeht […]; es sind also unzählige einander durchkreuzende Kräfte, eine unendliche Gruppe von Kräfteparallelogrammen, daraus eine Resultante – das geschichtliche Ergebnis – hervorgeht, die selbst wieder als Produkt einer, als Ganzes, bewusstlos und willenlos wirkenden Kraft angesehen werden kann. Denn was jeder Einzelne will, wird von jedem anderen verhindert, und was herauskommt, ist etwas, das keiner gewollt hat.“3 Dass er jedenfalls den Krieg nicht gewollt habe, bekannte Wilhelm II. im holländischen Exil, und Karl Kraus’ großes Weltkriegsdrama Die letzten Tage der Menschheit endet just mit dem äußerst vieldeutigen, der „Stimme Gottes“ zugewiesenen Satz: „Ich habe es nicht gewollt.“
Gerade angesichts des Befundes, dass das bis dahin blutigste Ereignis, das über die Menschen hereinbrach und das doch nur, weil keine Naturkatastrophe, als menschengemachtes zu qualifizieren ist, liegt die Vermutung nahe, dass der Krieg letztlich die logische Konsequenz und der vollendete Ausdruck einer Ökonomie war, die sich eben durch ihren „Fetischcharakter“ auszeichnet: Das aus den Händen und Köpfen der Menschen hervorgehende Produkt gewinnt selbst über diese Menschen unkontrollierbare Gewalt. Ohne das Werk Karl Marx’ und dessen Fetischismusanalyse zu kennen, formuliert Kraus im selben Sinne: „Die Völker, die noch den Fetisch anbeten, werden nie so tief sinken, in der Ware eine Seele zu vermuten.“4
Die große „Gründerzeitdepression“ ab 1873, die erste tiefe Krise des Kapitalismus, scheint unbezweifelbar die ökonomische Basis für die Zuspitzung von Nationalismus, Rassismus und Militarismus zu bilden. Karl Kraus selbst hat diesen Zusammenhang zwischen den blinden Mechanismen der kapitalistischen Ökonomie und dem Krieg immer wieder zur Sprache gebracht. Mehrmals sprach er von der Notwendigkeit, „Absatzfelder in Schlachtfelder“ zu verwandeln, damit daraus wieder Absatzfelder entstehen5, und sowohl in seinem Aphorismenband Nachts als auch in den Letzten Tagen der Menschheit stößt man auf jene unnachahmliche Formulierung: „Es gibt eine Idee, die einst den wahren Weltkrieg in Bewegung setzen wird: Dass Gott den Menschen nicht als Konsumenten und Produzenten erschaffen hat. Dass das Lebensmittel nicht Lebenszweck sei. Dass der Magen dem Kopf nicht über den Kopf wachse. Dass das Leben nicht in der Ausschließlichkeit der Erwerbsinteressen begründet sei. Dass der Mensch in die Zeit gesetzt sei, um Zeit zu haben und nicht mit den Beinen irgendwo eher anzulangen als mit dem Herzen.“ So lässt sich eine Kontinuität aufweisen zwischen der Konkurrenz wirtschaftlicher Akteure, der Konkurrenz der europäischen Kolonialmächte um Einflusssphären weltweit und dem Konkurrenzkampf mit militärischen Mitteln; zwischen der Unterwerfung des Individuums unter die Maschine und der unerbittlichen technischen Kriegsmaschinerie; zwischen der Disziplinierung der Arbeiter in den Fabriken zu stumpfsinniger Tätigkeit und dem disziplinierten Menschenmaterial an den Fronten … Für Karl Kraus jedenfalls war das Bestreben des deutschen Reiches, sich neben den anderen imperialistischen Mächten England und Frankreich seinen „Platz an der Sonne“ zu erobern, ein klar auszumachender Kriegsgrund. In seiner satirischen Pointierung hört sich das so an: „Der Anspruch auf einen Platz an der Sonne ist bekannt. Weniger bekannt ist, dass sie untergeht, sobald er errungen ist.“ Oder: „Ich begreife, dass einer Baumwolle für sein Leben opfert. Aber umgekehrt?“ Und schließlich: „‚Es handelt sich in diesem Krieg‘ – Jawohl, es handelt sich in diesem Krieg!“6
Den Zusammenhang von die Sinne abtötender Disziplinierung der Arbeitskraft im Dienst des Profits und der gefügigen Soldatenmasse im Dienst der Kriegsmaschinerie artikuliert Kraus im Lied des Kommerzienrates Ottomar Wilhelm Wahnschaffe in den Letzten Tagen der Menschheit:
Im Frieden schon war ich ein Knecht,
Drum bin ich es im Krieg erst recht.
Hab stets geschuftet, stets geschafft,
vom Krieg alleine krieg’ ich Kraft.
Weil ich schon vor dem Krieg gefront,
hat sich die Front ja auch gelohnt.
Leicht lebt es sich als Arbeitsvieh
im Dienst der schweren Industrie.
Heil Krupp und Krieg! Ich bin ein Deutscher!7
In welch scharfem Kontrast steht „Wahnschaffes Lied“ zur selbstverleugnenden, sozialdarwinistischen und den Schweiß eines unerträglich platten Patriotismus ausdünstenden Kriegslyrik der „Arbeiterdichter“ jener Tage!8
Das qualitativ Neue des Ersten Weltkrieges bestand ohne Zweifel darin, dass er der erste industrielle Krieg war, der allen früher beschworenen Tugenden von Mut, Tapferkeit etc. und den Vorstellungen von Kämpfen „Mann gegen Mann“ Hohn sprach. Ein Kulturschock für viele – nicht zuletzt für Karl Kraus, der vor Ausbruch des Krieges durchaus den genannten militärischen Tugenden verbunden war. Ausgerechnet der unsägliche Ernst Jünger, der in seinem Machwerk In Stahlgewittern das Massenabschlachten in zynischer Weise ästhetisierte und an dessen Leichengeruch sich gerade heute wieder scharenweise Philologen und Verleger laben, beschreibt diese neue Qualität des Krieges eindringlich und äußerst präzise:
Bei diesem Zusammenprall werden nicht mehr wie zur Zeit der blanken Waffe die Fähigkeiten des Einzelnen, sondern die der großen Organismen gegeneinander abgewogen. Produktion, Stand der Technik, Chemie, Schulwesen und Eisenbahnnetze: Das sind die Kräfte, die unsichtbar hinter den Rauchwolken der Materialschlacht sich gegenüberstehen […] Dieser Zwang, der das Leben des Individuums einem unwiderstehlichen Willen unterwarf, trat hier in furchtbarer Deutlichkeit hervor. Der Kampf spielte in riesenhaften Ausmaßen, vor denen das Einzelschicksal verschwand. Die Weite und tödliche Einsamkeit des Gefildes, Fernwirkung stählerner Maschinen und die Verlegung jeder Bewegung in die Nacht zogen eine starre Titanenmaske über das Geschehen […] Die Entscheidung lief auf ein Rechenexempel hinaus: Wer eine bestimmte Anzahl von Quadratmetern mit der größten Geschossmenge überschütten konnte, hielt den Sieg in der Faust. Eine brutale Bewegung von Massen war die Schlacht, ein blutiger Ringkampf der Produktion und des Materials. Daher kam auch den Kämpfern, diesem unterirdischen Bedienungspersonal mörderischer Maschinen, oft wochenlang nicht zu Bewusstsein, dass hier Mensch gegen Mensch stand […] Es war im Grunde wohl dasselbe Gefühl von Sinnlosigkeit, das aus den kahlen Häuserblöcken von Fabrikstädten zuweilen in traurige Hirne sprang …9
Gegen diese Mobilmachung der Maschine gegen den Menschen und das „Verschwinden des Einzelschicksals“ wird Karl Kraus übrigens immer wieder das Antlitz der einzelnen, geschundenen, missbrauchten Kreatur geltend machen: das Antlitz der serbischen Bauern, die gezwungen werden, ihr eigenes Grab auszuheben, das Antlitz des Flüchtlingskindes, das um Brot fleht, das angsterfüllte Stuttgarter Kind bei einem...