Ulrich Weinzierl
ABER VERLIEBT IN SIE
WAR ICH SCHON …
Alfred Polgar und Marlene Dietrich
Wien, 20. September 1927. Ein denkwürdiges Datum, zumindest für den Kritiker und Feuilletonisten Alfred Polgar: Marlene Dietrich tritt erstmals in seiner Heimatstadt auf. Und zwar in dem mittlerweile weithin vergessenen Kriminalstück »Broadway« von George Dunning und Philip Abbott. An der Seite von Harald Paulsen und Peter Lorre verkörpert Fräulein Dietrich – 26 Jahre alt und noch nichts für die Unsterblichkeit getan! – das Tanzgirl Ruby. Die Aufführung in den Kammerspielen wird ein Publikumserfolg, im März des folgenden Jahres kommt eine Neuproduktion in Berlin heraus, wieder mit Marlene Dietrich als Ruby.
Der Wiener Auftritt Rubys, so Polgar, hinterließ bei Kennern tiefen Eindruck. Eben nicht nur bei ihm allein. Sogleich habe sich eine Dietrich-Verehrergemeinde gebildet. Adolf Josef Storfer, der Direktor des Internationalen Psychoanalytischen Verlags, sei Präsident des frühen Fan-Clubs gewesen, als dessen Mitglied sich Polgar stolz bekannte. Storfer, der in der Folge ebenso gelehrte wie anregende Bücher zu etymologischen Fragen publizierte (»Wörter und ihre Schicksale«, »Im Dickicht der Sprache«), starb 1944 im australischen Exil, nachdem er zuvor in Shanghai die Emigrantenzeitschrift Die gelbe Post herausgegeben hatte.1 Von dem ominösen Marlene-Verein sind naturgemäß keine Statuten erhalten, es handelte sich eher um eine Scherzgründung aus dem Café Herrenhof, zu dessen Stammgästen Polgar und Storfer gehörten. In seinem Nachruf bescheinigte er dem Freund, er sei »Sigmund Freuds getreuester Evangelist« gewesen: »[…] ein Original, vielleicht das wertvollste unter den vielen Originalen und Käuzen, die, zwischen den Kriegen, dem geistigen Wien, soweit es unter dem Breitegrad der Cafés ›Central‹ und ›Herrenhof‹ lag, eine Art von phosphoreszierendem Glanz gaben.«2
Marlene Dietrich (5. von rechts) in »Broadway«,
Wiener Kammerspiele, 1927
(© Imagno/Österreichisches Theatermuseum)
Wien war für die Dietrich auch abgesehen von ihren akklamierten Tanzgirl-Schritten damals wichtig, sie ist dort sehr präsent gewesen. Im Sommer wurde in Wien Gustav Ucickys Stummfilmstreifen »Café Elektric« gedreht, den man dann in Deutschland unter dem Schauertitel »Wenn ein Weib den Weg verliert« zeigte. Marlenes Partner war niemand anderer als Willi Forst, der Harald Paulsen in »Broadway« nach zwei Wochen ersetzt hatte.3 Alsbald entspann sich mit ihm eine Affäre. Forst, der künftige Star des Wiener Films, sollte (kein Einzelschicksal!) sein Leben lang sentimental an der auf Dauer vergeblich Geliebten hängen. Uraufführung von »Café Elektric«: 25. November 1927. Drei Tage danach fand im Theater in der Josefstadt die Premiere von Carl Sternheims Lustspiel »Die Schule von Uznach oder Neue Sachlichkeit« statt, mit Marlene Dietrich als Thylla Vandenbergh. Carl Vollmoeller, der Verfasser des Spektakelwelterfolgs »Das Mirakel« und 1929 an der Entstehung des Drehbuchs zum »Blauen Engel« wesentlich beteiligt (von einem posthumen Anhänger wird die »Entdeckung« der Dietrich energisch für Vollmoeller reklamiert)4, stürzte sich nach der Vorstellung gemeinsam mit dem Autor und Felix Salten ins Wiener Nachtleben. Salten verdankte Marlene die erste Erwähnung in der Neuen Freien Presse: »schöne, triebhafte Weibsjugend, die gedankenlos plappert.«5 Der »Rehsodomit« (Karl Kraus) Salten war ohne Zweifel Experte, schätzen wir in ihm doch nicht nur den Schöpfer von »Bambi«, sondern auch des Porno-Klassikers »Josefine Mutzenbacher«.
Besetzungsliste »Broadway«
(© Deutsche Kinemathek – Marlene Dietrich Collection Berlin)
Ob Polgar die Dietrich schon in Wien persönlich kennengelernt hat oder erst in Berlin, das ab Mitte der zwanziger Jahre verstärkt zu seinem Arbeits- und Lebensmittelpunkt wurde, wissen wir nicht. Dort jedenfalls bereitete sich der unaufhaltsame Aufstieg Marlene Dietrichs vor allem im Revuebezirk vor: mit Marcellus Schiffers und Mischa Spolianskys Bühnen-Hit »Es liegt in der Luft«. Sie wurde zum Geheimtipp nicht bloß der Künstlerszene des Berliner Westens. Man musste einfach ihre alsbald legendären Beine gesehen, ihre unverwechselbar kesse Stimme gehört haben, mit der sie Anzügliches, eindeutig Zweideutiges, auch Lesbisches zum Besten gab, als wär’s das Normalste überhaupt.
Während Marlene Dietrich noch auf dem Weg zum Ruhm war, der 1930 mit dem »Blauen Engel« und der überaus prompten Übersiedlung nach Hollywood unter den Fittichen ihres Geliebten und Leibregisseurs Josef von Sternberg buchstäblich über sie hereinbrach, sind diese Jahre bereits die besten in der literarischen Karriere Alfred Polgars gewesen. Allseits als »Meister der kleinen Form« gepriesen, war er erstmals freier Schriftsteller im umfassenden Wortsinn, also relativ frei von materiellen Sorgen. Der Rowohlt Verlag veröffentlichte neben Kurzprosa-Bänden eine vierbändige Auswahl seiner Theaterkritiken – »Ja und Nein«. Er war geachtet, wurde von gar manchem bewundert und geliebt, in Berlin gehörte er zur sogenannten Prominenz des Kulturbetriebs.
Marlene Dietrich, »Der blaue Engel«, 1930
(© Deutsches Filminstitut-DIF, Frankfurt; mit freundlicher Genehmigung der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung, Wiesbaden)
In der noblen Bar des Eden Hotels am Zoologischen Garten saß Marlene mit Fritzi Massary, Max Pallenberg, Fritz Kortner und Polgar des Öfteren an einer Art Stammtisch.6 In einer Dietrich-Monographie des Journalisten Manfred Georg, der ab 1939 in New York als Herausgeber der Exilzeitschrift Aufbau zu hohem Ansehen gelangen sollte, heißt es bereits 1931: »[…] hinter allen Masken trifft man jeden Menschen am raschesten und sichersten, wenn man nach den Büchern fragt, die er liebt. Die Dietrich liebt: Hamsun, Rilke, von Dostojewski Prosa wie ›Die Sanfte‹, Mechtilde Lichnowsky, Polgar vor allem und dann einen Mann, dessen Gedichtbücher sie paketweise nach Hollywood schaffen ließ, mit dem sie Hollywood sozusagen verseuchte: Erich Kästner.«7 In ihrer nachgelassenen Bibliothek findet sich aus dieser Zeit Polgars »Auswahlband« von anno 1930. Die ebenfalls 1930 erschienene Kurzprosasammlung »Bei dieser Gelegenheit« übermittelte ihr Polgar mit der Widmung: »für Marlene Dietrich, mit allerschönstem Dank dafür, daß sie auf der Welt ist.«8 Artigst revanchierte sie sich beim Autor und dessen Gattin mit Blumen, was wiederum einen Dankbrief an die »Liebste, verehrteste Marlene Dietrich« zur Folge hatte: »Sie sind so bezaubernd nett zu mir! Und wenn Sie mich auch gewaltig überschätzen, so macht mir doch die Freude, die Ihnen meine Bücher machen, große Freude. Aber verliebt in Sie – das will ich nur historisch festhalten – war ich schon, noch ehe alle Welt dies war; und noch ehe Sie von meinem litterarischen (sic!) Vorhandensein auch nur das Geringste wußten.«9
Alfred Polgar, der mit allen professionellen Wassern gewaschene Theaterrezensent, hat die Produkte der Kinematographie keineswegs immer enthusiastisch begrüßt. Während er Meisterwerke wie jene von Chaplin oder »Panzerkreuzer Potemkin« hymnisch feierte (»Mir wird der Atem und der Platz zu knapp, von allen wundervollen Einzelheiten dieses Films zu berichten, der, beispiellos an Intensität und Gefühls-Dichte der Bilder, seiner Sachlichkeit Phantastisches nicht anhängt, sondern es mühelos aus ihr entbindet.«10), hatte er die Flut von billigen Machwerken unmittelbar nach 1918, darunter angebliche Aufklärungsfilme über Geschlechtskrankheiten mit besonderer Berücksichtigung der Syphilis, gnadenlos ironisiert: »Ich sage Ihnen, gehen Sie ins Kino, wenn Sie wissen wollen, was Paralyse ist!«11 1921 schwang er sich gar zu einer Fast-Pauschalverdammung auf: »Von hundert Filmen sind neunundneunzig so erbärmlich dumm, roh, läppisch, ein so ekliger Brei aus Saccharin, Pomade, Kanthariden und elendem Deutsch, daß Sonne und Jupiterlicht sich schämen sollten, solchen Greuel an den Tag gebracht zu haben. Die Menschen schämen sich nicht.«12 Der große, der streitbare Ernst Lubitsch ließ sich dadurch, gleichsam als Pflichtverteidiger des gesamten Genres, zu einer Erwiderung im Berliner Tageblatt provozieren: Obwohl oder weil er ihn als einen der »feinnervigsten Theaterkritiker deutscher Sprache« schätze, verwahrte er sich gegen die »Kanonade von Verwünschungen«: »Damit steigen Sie nur in einen Topf, in dem Sie wahrlich nicht die beste Gesellschaft finden werden.«13
Vor allem aus finanziellen Gründen suchte Polgar später Beschäftigungsmöglichkeiten im Filmgeschäft. Hatte er noch für Wilhelm (William) Dieterles »Ich lebe für Dich« (1929) lediglich die Zwischentitel geschrieben und Dialoge ausgefeilt, stammen die Drehbücher zu Fritz Kortners »Der brave Sünder« (mit Max Pallenberg und Heinz Rühmann) nach Polgars Dramatisierung des Romans »Die Defraudanten« von Walentin Katajew und zu Alexander Kordas »Zum goldenen Anker« (1931, nach Marcel Pagnol) zu beträchtlichen Teilen von ihm. Sein letzter offizieller Beitrag zum deutschen Film war seine Dialogmitarbeit an Robert Siodmaks Stefan-Zweig-Verfilmung »Brennendes Geheimnis«. An der Uraufführung am 20. März 1933 in Berlin konnte Polgar nicht mehr teilnehmen. Kurz nach dem Reichstagsbrand, Anfang März, war er – gewarnt von seinem Freund Berthold Viertel – vor dem NS-Terror nach...