EINLEITUNG
Als Edith Wharton 1862 in den New Yorker Geldadel hineingeboren wurde, sollte das Leben einer Frau der High Society so geräuschlos verlaufen, dass sie den Zeitungen nur dreimal Anlass gab, ihren Namen zu drucken: Zur Bekanntgabe ihrer Geburt, ihrer Heirat und ihres Todes. Es scheint, als habe Edith Wharton sich lange um ein solch unsichtbares Leben bemüht, es aber mit fast vierzig Jahren nicht mehr ausgehalten. Sie wollte Geschichten schreiben, das als echten Beruf ausüben und damit erfolgreich sein – ein überaus ungewöhnliches Ziel für eine wohlhabende Erbin und Ehefrau.
Ihr besonderes Erzähltalent stand außer Frage. Schon als Vierjährige, noch bevor sie lesen konnte, begann die kleine Edith Newbold Jones, von überschäumender Fantasie und Fabulierlust getrieben, mit einem Buch in Händen schnell im Zimmer auf und ab zu gehen und dabei laut und in rasendem Tempo selbst ausgedachte Geschichten zu erzählen. Als ein Kind kam, um mit ihr zu spielen, bat sie ihre Mutter, sich um das Mädchen zu kümmern. Sie selbst habe keine Zeit, sie müsse, wie sie es nannte, »erfinden«. Nichts war ihr wichtiger. Ein solches Verhalten war für ein Mädchen recht besorgniserregend.
Natürlich wurden Töchter wie sie nicht auf öffentliche Schulen geschickt, sondern zu Hause unterrichtet, und der Stoff sollte nicht allzu anstrengend sein. Da dieses Pensum dem aufgeweckten Kind nicht genügte, durfte es Bücher aus der väterlichen Bibliothek lesen, allerdings nur »Klassiker, Philosophie, Geschichte und Poesie«. Romane waren ihr, so das strenge Verdikt der Mutter, bis zur Heirat verboten. Dass Edith sich daran hielt, ist erstaunlich, denn als kaum Elfjährige begann sie selbst einen Roman zu schreiben. Ihre Mutter missbilligte das, denn die Schriftstellerei galt, wie Wharton in ihren Memoiren schrieb, »in den Augen unserer provinziellen Gesellschaft immer noch als Mittelding aus schwarzer Magie und körperlicher Lohnarbeit«. Überhaupt galt es als sozialer Abstieg, mit eigener Hände Arbeit Geld zu verdienen, für eine Frau war das skandalös. Dass Edith als Fünfzehnjährige das deutsche Gedicht »Was die Steine erzählen« von Heinrich Karl Brugsch übersetzte, war zwar standesgemäß, dass sie die Übersetzung veröffentlichte und dafür ein Honorar von fünfzig Dollar erhielt, war es indes nicht. Folglich versteckte sie sich hinter einem männlichen Pseudonym.
Mit dreiundzwanzig Jahren, für damalige Verhältnisse recht spät, heiratete sie den wohlhabenden Teddy Wharton, der keiner Erwerbstätigkeit nachging. Die Ehe war ein Arrangement zwischen zwei New Yorker Elite-Familien, Whartons Biographen rätseln sogar, ob es eine Scheinehe gewesen sein könnte. Edith, die ihren Mann zumindest anfangs wohl aufrichtig gern hatte, wurde nach der Heirat sofort krank und depressiv. Das mag auch daran gelegen haben, dass Teddy sich im Grunde für nichts interessierte, trank, zahllose Affären hatte und mit dem Geld seiner Frau spekulierte. In den ersten Jahren reiste das Paar jedes Jahr mehrere Monate durch Italien und Frankreich, mit der Zeit aber lebte es immer häufiger und für immer länger getrennt, was Edith offenbar gut bekam, denn sie erholte sich gesundheitlich – und schrieb. Teddy litt unter einer bipolaren Störung, die damals als Krankheit noch nicht bekannt war. Auch als sein Verhalten bizarr wurde, Edith blieb ihm eine loyale und fürsorgende Ehefrau und schloss eine Scheidung aus. Vermutlich folgte sie der Erkenntnis, die sie dem Protagonisten ihres Romans Age of Innocence (Zeit der Unschuld) in den Mund legt: »Unsere Gesetze sind mit Scheidungen einverstanden, unsere gesellschaftlichen Konventionen nicht«. Erst als Teddy 50 000 Dollar ihres Vermögens verspekuliert und in Boston offen mit einer anderen Frau zusammengelebt hatte und die Ärzte zudem meinten, dass seine Krankheit unheilbar sei, schien es ihr gerechtfertigt, nach achtundzwanzig Ehejahren auch juristisch den Schlussstrich zu ziehen.
Ohne Anleitung oder Hilfe hatte sie sich seit ihrer Kindheit beigebracht, wie man Gedichte und Kurzgeschichten »erfindet«, aber erst in den neunziger Jahren veröffentlichte sie in Magazinen einige kurze Stücke, darunter auch schon Reiseessays. 1897 dann legte sie ein Buch unter eigenem Namen vor, einen Einrichtungsratgeber. Zusammen mit einem Architekten verfasst, war The Decoration of Houses kein dilettierendes Damenbuch, sondern eine seriöse Studie zu Prinzipien der Innenarchitektur. Es bewies Whartons Wille zur Professionalisierung und wurde – zu aller Überraschung – ein großer Erfolg.
1899, sie war siebenunddreißig Jahre alt, erschien der erste Band mit Kurzgeschichten, 1902 mit The Valley of Decision der erste Roman. Davon wurden binnen sechs Monaten 25 000 Exemplare verkauft, was sie zu einer bekannten Schriftstellerin machte. The House of Mirth (Haus der Freude) war 1905 mit 140 000 verkauften Exemplaren im ersten Jahr ihr Durchbruch als Bestsellerautorin. Zeit der Unschuld, ihr in jeder Hinsicht erfolgreichstes Buch, schrieb sie 1920 in nur sechs Monaten; es handelt von der Eleganz, aber auch Stickigkeit und Heuchelei jenes >Old New York<, in dem sie aufgewachsen war und das es bei Erscheinen des Buches schon nicht mehr gab. 1993 verfilmte Martin Scorsese diesen Klassiker der amerikanischen Literatur; die Opulenz und Detailtreue der Dekors und Kostüme sind bis heute legendär.
1866 waren die Jones mit ihrer Tochter für sechs Jahre nach Europa umgesiedelt. Sie lebten in Frankreich und Italien, einige Monate auch in Deutschland und Spanien. Edith lernte fließend Italienisch, Französisch und Deutsch; von einer Spanienreise, die der Vater unbedingt machen wollte, um die Alhambra zu sehen, trug die damals Fünfjährige »eine unheilbare Leidenschaft fürs Unterwegssein« davon. Das blieb eine Konstante ihres Lebens. Sie reiste viel, begleitet von Freunden, Dienstboten und ihren Hunden – und immer mit Grandezza. Schon 1904 fuhr sie, als eine der ersten unter den Reiseschriftstellern überhaupt, mit einem eigenen, chauffeurgelenkten Automobil der Marke Panhard & Levassor durch Italien und Frankreich. »Das Auto«, schrieb sie, »hat dem Reisen die Romantik wiedergegeben« – in den zwanziger Jahren besaß sie nicht weniger als vier Wagen.
Sechzig Mal überquerte sie den Atlantik (beispielsweise mit zwei Hunden, sechs Angestellten und ihrem Auto). Seit 1907 lebte sie überwiegend in Paris, wohin sie 1913, nach ihrer Scheidung, endgültig umzog. Doch der Ausbruch des Ersten Weltkriegs machte die Aussicht auf ein anregendes Leben mit Pariser Freunden wie Henry James, André Gide und Jean Cocteau zunichte. Wharton engagierte sich sofort mit großem zeitlichem und finanziellem Aufwand in verschiedenen Hilfsorganisationen, sammelte Geld, kümmerte sich um arbeitslos gewordene Näherinnen, um Flüchtlinge und Kriegswaisen. Sie reiste mehrfach an die Westfront und schrieb Artikel, die ihre amerikanischen Landsleute zum Kriegseintritt bewegen sollten.
Dieser Krieg blieb für sie zeitlebens ein Kreuzzug zur Rettung der europäischen Zivilisation, die von Deutschland bedroht wurde. Das ist auch der Hintergrund für einige feindselige Seitenhiebe auf Deutschland in dem Marokko-Buch. Es ist heute fast vergessen, dass eines der wichtigen Streitthemen zwischen Frankreich und Deutschland im Vorfeld des Ersten Weltkriegs die Kontrolle über Marokko war.
1913 fuhr Wharton ein letztes Mal durch Deutschland, 1914 wurden die Deutschen für die Franzosen endgültig zu Barbaren. Wharton teilte diese Meinung, was sie persönlich geschmerzt haben dürfte, denn sie hatte ein enges Verhältnis zu Deutschland. Mit elf Jahren bekam sie eine deutsche Gouvernante, die vierzig Jahre lang bei ihr blieb und ihre Sekretärin und enge Vertraute wurde. Die umfassend gebildete Anna Bahlmann war die Tochter deutscher Einwanderer, von ihr lernte Edith nicht nur Deutsch (und Stricken), sie vermittelte ihr auch die Liebe zu deutscher Literatur, Philosophie und Musik. Walther von der Vogelweide, Heine, Schiller und Gerhard Hauptmann waren Wharton ebenso vertraut wie Schopenhauer, Dürer und Wagner. Goethe verehrte sie so sehr, dass sie ihren Memoiren A Backward Glance das Goethezitat Kein Genuss ist vorübergehend voranstellte.
1917, mitten im Krieg, erhielt sie die äußerst ungewöhnliche Einladung zu einer Marokkoreise. Das war vermutlich auch eine Anerkennung ihres Engagements während des Krieges, für das sie die französische Regierung im Vorjahr bereits zum Ritter der Ehrenlegion ernannt hatte.
Die knapp sechs Wochen im September und Oktober waren eine äußerst willkommene Unterbrechung dieser fordernden und auch deprimierenden Arbeit. »Der kurze Zauber der Reise durch ein Land, das von fremden Reisenden praktisch unberührt und fast ohne Straßen oder Hotels war, war für mich wie ein Sonnenstrahl, der durch Gewitterwolken bricht.«
Wharton hatte lange von einer Marokkoreise geträumt, obwohl, vielleicht tatsächlich weil das Land für westliche Besucher lange nahezu...