1. Kindheit und Jugend
Wer war der Mann, der rund ein Drittel der knapp zweihundert militärischen Operationen der Roten Armee während des vierjährigen Kampfes gegen Hitler persönlich direkt oder indirekt leitete? Kein anderer General des Zweiten Weltkriegs – egal auf welcher Seite – hat eine vergleichbare »Ausbeute« vorzuweisen. Aus welchen Verhältnissen stammte, welche Umstände prägten Schukow? Eines ist klar: Dem Feldherrn und schwungvollen Triumphator der Moskauer Siegesparade vom Juni 1945 war ein solcher Aufstieg zur Weltberühmtheit nicht in die Wiege gelegt. Bislang ist über Schukows Kindheit und Jugend nur wenig bekannt. Er selbst hat in seinen Memoiren die ersten Abschnitte seines Lebens nur kurz zusammengefasst und dabei seine harte Jugend, die Herkunft aus ärmsten Verhältnissen betont. Dokumentarische und archivalische Belege aus dieser Zeit sind rar. Dennoch wird im Folgenden zu überprüfen sein, ob seine eigenen Schilderungen nicht etwas übertrieben, ob sie nicht im »sozialistischen« Sinne geschönt waren (regimekonform), was die geradezu programmatische, prototypisch »bolschewistische« Ärmlichkeit seiner Herkunft betrifft.
Fest steht, dass Georgi Konstantinowitsch Schukow am 1. Dezember 1896 im Dorf Strelkowka geboren wird. Sein Geburtsort liegt rund hundert Kilometer südwestlich Moskaus. Für russische Verhältnisse ist Schukow also zumindest geographisch durch die Nähe zur Metropole und heimlichen Hauptstadt (neben der offiziellen Hauptstadt Sankt Petersburg, korrekt transkribiert eigentlich Sankt Peterburg) privilegiert, im Gegensatz zu Menschen, die im russischen Fernost aufwachsen oder an den anderen Rändern des Riesenreichs. Sein Vorname wird traditionell nach dem Fest des Heiligen am Tag der Geburt beziehungsweise der wenig später vollzogenen Taufe gewählt, in diesem Fall Sankt Georg der Siegreiche (nach der Nomenklatur der Ostkirche, Георгий Победоносец) – und könnte nicht passender für jemanden sein, der auf dem Höhepunkt seines Lebens das ganze Land gleich dem Drachentöter, nach dem er benannt ist, kurz vor dem schon sicher geglaubten Untergang aus den Klauen jenes barbarischen Ungeheuers rettet, das die Nazi-Invasion, der von Berlin aus entfesselte Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion und ihre Einwohner, metaphorisch zusammengefasst darstellt. Nicht zu vergessen, dass er den »Drachen« (Hitler) dann auch noch in seinem Höhlenunterschlupf in Berlin (vulgo »Führerbunker«) zur Strecke bringt.
Auch für andere künftige Protagonisten im Sowjetreich ist 1896 ein ereignisreiches Jahr. Der 26-jährige Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, schmachtet monatelang hinter Gittern, weil er es gewagt hat, eine zarenkritische Publikation unter die Leute zu bringen. Er nutzt die Zeit hinter Sankt Petersburger Festungsmauern, um sein nächstes Werk, Über die Entwicklung des Kapitalismus in Russland, zu Papier zu bringen. Iossif Wissarionowitsch Dschugaschwili, noch keine achtzehn Jahre alt und noch nicht Stalin genannt, sondern nach einem georgischen Märchenräuber »Koba«, besucht das Priesterseminar in der georgischen Hauptstadt Tiflis, verfasst empfindsame Verse über die Liebe und besucht illegale Eisenbahner-Versammlungen. Lew Dawidowitsch Bronstein, der sich bald »Trotzki« nennen wird, ist gerade siebzehn Jahre alt geworden, Zögling der Sekundarschule im südukrainischen Nikolajew und liest erste nonkonforme Untergrundzeitschriften. Woroschilow, künftiger Verteidigungsminister der Sowjetunion, hat gerade das fünfzehnte Lebensjahr vollendet, Tuchatschewski, militärisches Genie und einer der Väter der sowjetischen strategischen Schule, das dritte. Für sowjetische Militärs ist die Zeit um 1896 insgesamt eine fruchtbare – eine ganze Reihe künftiger Mitstreiter gegen die deutschen Invasoren, die allesamt den Rang eines Marschalls der Sowjetunion erreichen werden, werden einige Monate vor oder nach Schukow geboren: Timoschenko (Februar 1895), Wassilewski (September 1895), Rokossowski (Dezember 1896) und Koniew (Dezember 1897).
Geprägt ist das Jahr 1896 von einer Katastrophe, die einen Schatten über die Zarenfamilie wirft und die rückblickend wie ein Menetekel, wie eine Ankündigung des Untergangs des kaiserlichen Russland wirkt: Gemeint ist die Massenpanik auf dem Chodynkafeld. Als Feierlichkeit anlässlich der Krönung des letzten Zaren, Nikolaus II., geplant, kommen am 18. Mai des Jahres bei einem Massenansturm auf die aus diesem Anlass ans Volk zu verteilenden Geschenke über 1.300 Menschen ums Leben. Angeblich, um Frankreich nicht zu düpieren, nimmt der frischgebackene Zar dennoch am selben Abend an einem Ball in der französischen Botschaft teil, was ihm vom Start weg den Ruf eines herzlosen, an seinem Volk denkbar desinteressierten Despoten einbringt. Von einem ähnlichen Ereignis war schon die Hochzeit des Franzosenkönigs Ludwigs XVI. mit Marie Antoinette 1770 überschattet worden (über hundert Tote), mit ähnlicher Menetekel-Wirkung, denn auch hier kamen der Autokrat und seine Gemahlin knapp zwei Jahrzehnte später durch Volkes Willen zu Tode.
Schukows Vorfahren sind nicht besonders weit zurückzuverfolgen. Der Vater wächst als elternloses, ausgesetztes Kind bei einer Witwe im Ort auf. Nach deren Tod wird er von einem Schuster aufgenommen, wo er den Beruf lernt, geht nach Moskau zu einem der bekanntesten Schuhmacher dort, dem Unternehmen Weiss, kehrt 1870, etwa 26-jährig, nach Strelkowka zurück und heiratet die Witwe Anna, adoptiert ihre beiden Kinder. Anna stirbt 1892, Schukows Vater (48 Jahre alt) heiratet nun die zwanzig Jahre jüngere Ustenia, ihrerseits kinderlose Witwe. Schukows Vater verdient den Lebensunterhalt für die kleine Familie weiterhin als Schuster in Moskau, kommt zweimal im Jahr für die Ernte länger nach Strelkowka, und zieht erst 1906 (im Alter von etwa 62 Jahren) dauerhaft wieder nach Strelkowka zurück, als Pensionär. Dort besitzt die Familie eine Isba, ein einfaches Einraum-Holzhaus mit Ofen und Stall. Da die Familie – wie die erhaltenen Unterlagen belegen – zu den Steuerzahlern in Strelkowka gehört, können sie nicht die Ärmsten der Armen gewesen sein, wie es Schukow in seinen Memoiren zu vermitteln versucht. Zum Einkommen des Vaters kommen die Einnahmen der Mutter, die mit einem Pferdewagen Lebensmittel von Malojaroslawez zum örtlichen Einzelhändler in Strelkowka transportiert. Schukow beschreibt seine Mutter als sehr kräftig, sie sei in der Lage gewesen, Achtzig-Kilo-Säcke zu schleppen. Wenn es stimmt, dann hat Schukow von ihr seine körperliche Stabilität, seine Widerstandsfähigkeit geerbt, die ihm in Kriegszeiten, aber auch später zugutekommt. Gegen die soziale Isolation durch große Armut spricht auch die Tatsache, dass sein Vater wiederholt die Gemeinde Strelkowka als Delegierter in der Regionalversammlung vertritt. Er kann offenbar lesen und schreiben, während Mutter Ustenia Analphabetin ist. 1902 wird er sogar zum Hilfspolizisten ernannt, was ihm ein weiteres kleines Zusatzeinkommen bringt. Und nicht zuletzt ist der Bruder der Mutter, Michail Artjomowitsch Pilichin, ein bekannter Kürschner in Moskau. Die Familie Schukow gehört also zwar nicht zur Bourgeoisie, ist aber doch gegenüber der einfachen Landbevölkerung deutlich bessergestellt.
Der Familienname selbst erinnert an das russische Wort für »Käfer« (Жук). Die Vokabel wird umgangssprachlich auch als Bezeichnung für einen Tunichtgut benutzt. Georgi ist das zweite Kind, seine Schwester Maria ist zwei Jahre älter. Fünf Jahre nach seiner Geburt ist seine Mutter wieder schwanger, das Kind, ein Junge, stirbt aber bald nach der Geburt. Die Familie trauert Schukow zufolge sehr um das früh verstorbene Baby. Was die religiöse Haltung Schukows betrifft, gibt es während des Zweiten Weltkriegs Gerüchte, dass Schukow eine wundertätige Ikone in seinem Dienstwagen mit sich führe. Sein Fahrer sagt aber Jahrzehnte später aus, ihm sei von einer Ikone im Fahrzeug nichts bekannt gewesen. Es gibt auch keine sonstigen Hinweise darauf, dass Schukow als Erwachsener ein gläubiger Mensch gewesen wäre.
Russland ist zum Zeitpunkt der Geburt Schukows auf dem Höhepunkt seiner imperialen Ausdehnung angekommen – zu keinem Zeitpunkt in der russischen Geschichte vorher oder nachher umfasst das Land ein derart großes Gebiet, das von den russischen Provinzen Finnland und Polen im Westen bis nach Fernost reicht (das russische Alaska ist einige Jahrzehnte zuvor an die USA verkauft worden), von der Arktis im Norden bis in die mittelasiatischen Provinzen an der afghanischen Grenze im Süden. Das »Sammeln russischer Erde«, wie die kontinuierliche Ausdehnung des russischen Machtbereichs seit dem 14. Jahrhundert genannt wurde, endet erst an den natürlichen Grenzen (Küsten) des Landes beziehungsweise an der chinesischen Grenze und Korea. Mehr als hundert Nationalitäten und Ethnien leben in diesem gigantischen, größten Reich der Erde. Die meisten Einwohner sind Russen, die Gesamtbevölkerung beträgt rund 140 Millionen, die meisten davon Bauern.
Die Provinz, in der Georgi aufwächst, Kaluga, stellt eines der frühen Industriezentren Russlands dar (und ist es bis heute geblieben, mittlerweile mit Werken der Automobilhersteller Volkswagen, Peugeot und anderen). Im Gegensatz zu den fruchtbaren Schwarzerdegebieten Südrusslands spielt hier die Landwirtschaft nur eine untergeordnete Rolle, neben der Industrie, der Forstwirtschaft und der Gewässernutzung. Außerdem gibt es damals schon eine gehörige Menge an Pendlern, die mit der einige Jahre zuvor eröffneten Bahnlinie nach Moskau zur Arbeit fahren. Der umfassende soziale Wandel auf dem Land beginnt in Russland im ausgehenden 19. Jahrhundert...