HEILUNG DURCH HINGABE UND DEMUT:
MARTIN BUBERS
CHASSIDISCHER HINTERGRUND
Auf welchen »chassidischen Geist« Buber sich bezieht, soll nun erläutert werden. Die chassidische Bewegung war eine jüdische Lebensgemeinschaft in Osteuropa im 18. Jahrhundert. Ihre Seelsorger wurden Zaddiks genannt. Ein Zaddik »... ist ein Mensch, der die Tiefe der Verantwortung allstündlich mit dem Senkblei seines Wortes mißt. ... Und mögen es auch leibliche und halbleibliche Nöte sein, die sie [seine Gemeindemitglieder, CM] ihm zuführen, in seiner Welteinsicht besteht nichts Leibliches, das nicht verklärt, besteht kein Stoff, der nicht zum Geist erhoben werden kann. ... So ist er der Helfer im Geist, der Lehrer des Weltsinns, der Führer zu den göttlichen Funken« (Martin Buber 1963, 973).
Das Führen des Zaddiks zu den göttlichen Funken spiegelt den Heilungsprozess wider. Grundlegend dafür ist der Glaube an die heiligen Funken: Sie sind die zerbrochenen Reste der ersten nicht gelungenen Welten, die Gott vor unserer jetzigen Welt versucht hat zu bauen. Die ersten Welten konnten die göttliche Liebe nicht wirklich aufnehmen und zersplitterten. Jedoch blieben heilige Funken in den Splittern und fielen dann auf die heutige Welt. Diese Funken wiederum sind in allen Verkapselungen bzw. »... in die ›Schalungen‹, die trennenden, hindernden, dämonischen Umschließungen, die allein ›das Böse‹ sind, gefallen, aber sie fielen, um gehoben zu werden: um des Wirkens des Menschen an der Erlösung willen sind jene Welten gewesen und vergangen« (Martin Buber 1955, 306, nach Stöger 1996, 65). So gilt es einerseits diese Funken zu bergen und andererseits dabei anzuerkennen, dass die bergende Heilung eine polare Wiedervereinigung zwischen Hell und Dunkel herausfordert. Um ganz (whole, holy, heilig) zu werden, braucht der chassidische Mensch — Buber bezieht dies auch auf die heutigen Menschen — nicht perfekt zu sein. Vielmehr geht es darum, dass »der Mensch wird, der zu werden er, dieser einzelne Mensch da, erschaffen ist« (Martin Buber 1963, 947). Selbstbesinnende Verwirklichung ist damit gemeint und bedeutet, »Kontakt mit den Dingen und Wesen« aufzunehmen. Kontakt heißt im Chassidismus »den heilgen Umgang mit allem Seienden« zu üben und zu pflegen (ebd., 945). Denn überall können die Funken geborgen werden: In der Blumenvase, beim Schuheputzen,in der Currywurst ...jetzt beim Schreiben und Lesen dieses Textes.
Auch der Umgang mit Vergangenheit und Zukunft ist im Chassidismus heilig.1 Dabei ist es für den Menschen wichtig zu spüren, woher er kommt und wohin seine Zuversicht geht. Die Antworten können jedoch nicht technisch und moralisch gefunden werden, sondern nur durch/über das Bestehen des Unvorhersehbaren, d.h. durch Offenheit und Kontaktbereitschaft: »Und er kann keine Auslese nehmen, keine Scheidung; denn es ist nicht an ihm, zu bestimmen, was ihm zu begegnen hat und was nicht; und es gibt ja das Nichtheilige nicht, es gibt nur das noch nicht Geheiligte, noch nicht zur seiner Heiligkeit Erlöste, das er heiligen soll« (ebd., 842). Diesbezüglich ist auch das Wort zu heiligen, das befreit gesprochen, heilend auf die Existenz des Menschen wirkt. Je weniger der Mensch aber Kontakt zu den Dingen und Menschen hat, desto mehr versucht er, den nicht gefühlten Mangel und das dabei entstehende Vakuum mit dem Unerlösten der Welt auszugleichen und zu füllen. Dadurch verliert der Mensch seine Kontaktkraft zur Seele, die die Kontaktfläche zwischen ihm und der Welt ist und die der Leib braucht, um die Richtung im Leben zu finden.2 Wird dieser Teufelskreis durch Begegnung durchbrochen, findet also eine Entkapselung statt, beginnt Heilung und Leben von Moment zu Moment. Zur Ermöglichung und Vorbereitung solcher Befreiungsprozesse sind dem chassidischen Weg nach vier Leitplanken wichtig: INBRUNST, DIENST, INTENTION und DEMUT.
- INBRUNST bedeutet Hingabe an etwas, was wir selbst vor und im Handeln nicht bestimmen und erkennen können. Sie ist eine Kraft, die uns machen lässt, uns überkommt, ohne genau bestimmen zu können, woher sie zu uns gelangt und wohin sie geht, denn sie ist »das Gott umfangen ohne Zeit und Raum« (ebd., 26). Inbrunst ergreift uns. Portele nennt es mit Bubers Worten »die Hingabe an das Unbekannte« (Portele 1992, 129). Gleichzeitig meint Inbrunst das, was uns Menschen antreibt, eine Gestalt zu schließen.
- DIENST bedeutet Gottes Gegenwärtigkeit in allen Dingen zu erfahren und wahrzunehmen. Es geht um Wertschätzung, Achtsamkeit und Gewahrsein für alles, was ist und geschieht. Echter Dienst bezieht sich nicht wie die Inbrunst auf den einzelnen Menschen, sondern ist nur in Gemeinschaft, in wechselseitiger Verbundenheit möglich. Eine Wirkung echten Dienstes wäre z.B., um mit Wheeler zu sprechen, ein gesundes Feld, das gesunde Selbste hervorbringt bzw. die Einsicht und Anerkennung, dass Gesundheit gesellschaftlich unteilbar ist (Wheeler 2006, 333).
- INTENTION ist nicht mit Intentionalität aus der Phänomenologie zu verwechseln. Geht letztere davon aus, dass der Mensch immer ein Bewusstsein von etwas hat, also nicht unbezogen im Wahrnehmen ist, meint Chassidismus den Lebensprozess als Ziel und damit das spontane, freifließende Hervor- und Zurücktreten von Figur und Hintergrund, von Organismus und Feld. Buber beschreibt dieses Werden folgendermaßen: »Alle Menschen sind Stätten wandernder Seelen. In vielen Wesen wohnen sie und streben von Gestalt zu Gestalt nach der Vollendung« (Martin Buber 1963, 34). Vollendung bedeutet Erlösung, und erlösend ist der Moment, wenn das Finden der Funken in den Dingen und Menschen passiert. Dies gilt auch für jeden Buchstaben, für jedes Wort und jeden Satz, den ich jetzt schreibe und Sie, werte LeserInnen, im Moment wahrnehmen. Es geht um das Entkapseln unseres jeweiligen Denkhorizontes. Das damit verbundene Neue entsteht, wenn wir uns dem Nichts (-Wissen), der »Gestalt des Zwischen« hingeben.
- DEMUT ist die aktive Umsetzung der Einsicht, dass wir Menschen feldabhängige Wesen sind, ohne unsere Einzigartigkeit zu vernachlässigen. »In Wahrheit demütig aber ist, wer die andern wie sich fühlt und sich in den anderen. ... Die Demut, die hier gemeint ist, ist keine gewollte und geübte Tugend. Sie ist nichts als innerliches Sein, Fühlen und Aussagen. Nirgends ist ein Zwang an ihr, nirgends ein Sichbeugen, Sichbeherrschen, Sichbestimmen« (Martin Buber 1963, 40ff).
Demut bedingt zu erkennen, dass jedeR jedeN beeinflusst und die Beziehung zwischen dem Beobachter und dem Beobachteten die Wirklichkeit des Wahrgenommenen beeinflusst (vgl. Yontef 1999, 152). Demut ist ohne Mitgefühl und Liebe unmöglich. Erst die von diesen Qualitäten getragene Demut hilft wirklich. Helfen ist bedingt durch die Einsicht, »... dass alle Seelen eine sind, denn jede ist ein Funke aus der Urseele, und sie ist ganz in ihnen allen« (Martin Buber 1963, 45). Eine solche Überzeugung unterstützt die Entscheidung zur freiwilligen Selbstfestlegung, für den Klienten wirklich da zu sein. Laura Perls gab ihr besondere Aufmerksamkeit und nannte sie Commitment.
In dieser Zusammenschau sind vielleicht jetzt die fünf Grundaussagen über Heilungsprozesse aus dem Abschnitt »Wachstum und Begegnung: Eine dialogische Perspektive« nachvollziehbar. Sie lauten und gaben der vorliegenden Auswahl der chassidischen Geschichten die Richtung:
- Kranksein weist auf dysfunktionale Kontakte mit der Welt und mit den Menschen hin.
- Kranksein ist bedingt durch die so genannte Verkapselung des Menschen und der Dinge.
- Dem kranken Menschen fehlen existentielle Begegnungen.
- Die TherapeutInnen sind BegegnungspartnerInnen auf dem heilenden Weg.
- Das heilende Feld ist ein paradoxes.
So sind die folgenden 23 Geschichten aus Martin Bubers »Erzählungen der Chassidim« für diese fünf richtungweisenden Aussagen exemplarisch zusammengestellt (vgl. Schlaffer 2006). Die erste Perspektive »Das Zwischenhafte« zeigt, dass der Kontakt unter den Menschen erkrankt ist. Hier können unterstützende Differenzerfahrungen helfen.
Eine zweite Perspektive, ich nenne sie hier »Verkapselung«, fokussiert die Eingeschlossenheit des Kranken. Wie überhaupt Gewahrsein entwickelt werden kann, ist hierbei zentrale Fragestellung.
Mit der dritten Perspektive »Elementare Situation« kommt der unmittelbare Kontakt in den Vordergrund. Dabei geht es auch um Demut im zwischenmenschlichen Sein.
Um »Wille und Loslassen« handelt es sich bei der vierten Perspektive.
Differenz im polaren Hier-und-Jetzt bestimmen die fünfte Perspektive »Paradoxe Wahrheit«.
Bei allen Perspektiven geht es letztendlich um die Überwindung des Ich-Es zum Ich-Du, das Buber so beschreibt: »Das Grundwort kann nur mit dem ganzen Wesen gesprochen werden. Die Einsammlung und Verschmelzung zum ganzen Wesen kann nie durch mich, kann nie ohne mich geschehen. Ich werde am Du; Ich werdend spreche ich Du. Alles wirkliche Leben ist Begegnung« (Martin Buber...