Heimat 1889–1903
Am 26. September 1959 wurde Martin Heidegger Ehrenbürger seiner Heimatstadt Meßkirch. Es war an seinem 70. Geburtstag. Das war ein guter Anlass, sich wieder einmal an das Heimatliche zu erinnern, in dem er sich noch immer verwurzelt fühlte. Er dankte seinen Mitbürgern und dachte sich zurück in das Gewesene, das heißt in jenes, was versammelt noch währt und uns bestimmt (GA 16, 559). Es war eine besinnliche Rede, in der das so lang zurückliegende Leben des Kindes und jungen Mannes in Meßkirch nicht als vergangen zur Sprache kam, sondern als gewesen, noch immer lebendig und bestimmend also, auch wenn es nur in der Erinnerung präsent war.
Es war ein gebrochener Tonfall, mit dem Heidegger von seinen heimatlichen Wurzeln sprach. Denn er dankte und dachte im Bewusstsein der Heimatlosigkeit, die für ihn zum Wesen des modernen Menschen gehörte. Die Heimatlosigkeit wird ein Weltschicksal, hatte er schon im Herbst 1946 in seinem Brief über den «Humanismus» an den französischen Freund Jean Beaufret geschrieben und dabei vor allem Karl Marx zugestimmt, der von Hegel her und aus der Heimat vertrieben die Entfremdung des Menschen (GA 9, 339) erfahren und wie kein anderer in ihrer geschichtlichen Tiefendimension erkannt hatte. In zahlreichen Reden und Aufsätzen hat Heidegger vor allem in den fünfziger Jahren die Spannung zwischen Heimat und Heimatlosigkeit dramatisiert, zwischen den unscheinbaren Kräften des Heimischen und der Gewalt des Unheimischen, zwischen Bodenständigkeit und Entwurzelung. Noch seine allerletzte handschriftliche Notiz galt diesem Widerstreit. Wenige Tage vor seinem Tod am 26. Mai 1976 hat er ein Grußwort an den neuen Ehrenbürger der gemeinsamen Heimatstadt Meßkirch gesandt, seinen befreundeten Landsmann und Kollegen Bernhard Welte: Es bedarf der Besinnung, ob und wie im Zeitalter der technisierten gleichförmigen Weltzivilisation noch Heimat sein kann. (GA 13, 243)
Es war kein «naiver» Begriff der Heimat, den Heidegger entfaltete. Denn Heidegger fühlte sich bedrängt durch das Bewusstsein, dass Heimat als solche unwiederbringlich verloren zu gehen drohte. Die Vergegenwärtigung des Heimatlichen entsprach jenem «sentimentalischen Interesse»[3], das Friedrich Schiller gegen naive Illusionen als ein Zeichen des Verlustes reflektiert hatte. Der Mensch der Neuzeit kann nicht mehr, wie die Griechen, natürlich und heimatlich empfinden. Er kann nur noch an das Natürliche und das Heimatliche denken wie an ein verlorenes Gut. Sein Gefühl für Natur und Heimat «gleicht der Empfindung des Kranken für die Gesundheit»[4]. Doch nicht von Schiller, sondern von Novalis ließ sich Heidegger das entscheidende Stichwort geben. Denkwürdig schien ihm eine fragmentarische Notiz dieses romantischen Philosophen zu sein, der die Grundstimmung des Philosophierens als Heimweh identifiziert hatte: «Die Philosophie ist eigentlich Heimweh, ein Trieb überall zu Hause zu sein.» Heidegger wusste, dass dieses «Heimweh» in der Moderne zu einem fast schon unverständlichen Wort geworden war, selbst im alltäglichen Leben. Aber er hielt es dennoch für eine treffende Chiffre, um eine grundlegende philosophische Stimmung zu bezeichnen. Denn auch für ihn war Philosophieren Ausdruck dieses Heimweh-Triebes. Wer philosophiert, zielt auf das In-der-Welt-Sein, um in diesem Ganzen wohnen zu können, aus dem er immer schon vertrieben worden ist: Ein solcher Trieb kann Philosophie nur sein, wenn wir, die philosophieren, überall nicht zu Hause sind. (GA 29/30, 7)
Auch die Heimat bedrängte Heidegger nur als gewesen und fern. Je mehr ihm bewusst wurde, dass wir die Erwartung an das Heimatliche der Heimat nicht mehr weiterhegen (GA 16, 711) dürfen, desto sentimentalischer wurde sein Heimweh. Vor allem dem alemannischen Dichter Johann Peter Hebel fühlte er sich verwandt, dessen heimatliche Naturempfindung und natürliche Muttersprache Heidegger bewunderte, weil er in seinen «Alemannischen Gedichten» (1803) und seinem «Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes» (1811) das Unscheinbare zum Scheinen gebracht hatte aus der Sehnsucht nach der verlorenen Heimat. Das Wesen der Heimat gelangt erst in der Fremde zum Leuchten. (GA 13, 123f.)
Als Heidegger am 27. September 1959 sein Wort des Dankes an die lieben Mitbürger und Gäste in Meßkirch richtete, zitierte er auch Friedrich Nietzsches «Der Philosoph ist eine seltene Pflanze». (GA 16, 560) Er braucht seinen eigenen Boden, in dem er wurzelt, um ins Freie und Weite wachsen zu können. Das gleiche Bild fand Heidegger auch bei Hebel; und mehrmals hat er es im Andenken an seine eigene Herkunft zitiert, die ihm so viel auf seinen langen Wegen des Denkens mitgegeben hatte: «Wir sind Pflanzen, die – wir mögen’s uns gerne gestehen oder nicht – mit den Wurzeln aus der Erde steigen müssen, um im Äther blühen und Früchte tragen zu können.» (GA 13, 150; GA 16, 521) Als Erde galt Heidegger alles, was uns sinnlich nährt und trägt, vor allem jene Tiefe des heimatlichen Bodens, auf dem der Mensch stehen kann in seiner Beständigkeit. Über ihm erstreckt sich der ätherische Himmel, den Heidegger als offenen Bereich des Geistes (GA 16, 521) verstand, in dessen nicht-sinnliche Höhe der Mensch hinaufsteigen können muss, wenn sein Werk gelingen soll.
Am 26. September 1889 wurde Martin Heidegger in Meßkirch geboren. Siebzig Jahre später hat er in seiner Ehrenbürger-Dankesrede selbst darauf hingewiesen, dass dieser heimatliche Boden, die Erde und der Himmel über ihm nichts Auffallendes haben, nichts Ungewöhnliches, nichts Hervorragendes (GA 16, 560). Meßkirch ist nur ein kleines Landstädtchen, gelegen in einer kargen und rauen Landschaft zwischen Bodensee, oberer Donau und Schwäbischer Alb. Hoch ragt nur das mächtige Schloss, flankiert durch die im spätgotischen Stil erbaute St.-Martins-Kirche, an der Heideggers Vater, neben der Arbeit als Küfermeister, seinen Kirchendienst leistete. Nichts Ungewöhnliches also, aber doch Heimat, in der der junge Martin die spendenden und heilenden und bewahrenden Kräfte des Heimischen (GA 16, 576) erleben konnte.
Es war eine «sorglose Jugendzeit»[5], die Martin und sein fünf Jahre jüngerer Bruder Fritz (1894–1980) vor allem dem einfach umgrenzten Lebenskreis (GA 16, 594) ihres Elternhauses verdankten, das weder arm noch reich war. Als «kleinbürgerlich wohlhabend» in materieller Hinsicht hat es der Bruder charakterisiert, wobei in der Familie das Zeitwort «sparen» groß geschrieben wurde.
Der Vater, Friedrich Heidegger (1851–1924), war «ein großer Schweiger»[6], der jahraus, jahrein fleißig als Küfer in seinem Ein-Mann-Betrieb arbeitete, zehn Stunden am Tag und sechs Tage in der Woche. In der Werkstatt dieses wortkargen Mannes, wo er das Kiefern- und Eichenholz für die Kübel, Zuber und Fässer zurichtete, bastelten auch seine beiden Söhne gern. Die Härte und der Geruch des Eichenholzes werden Martin Heidegger sein Leben lang sinnlich gegenwärtig bleiben. Aus der Eichenrinde schnitzten die Kinder ihre Schiffe, die sie dann im Bach oder im Schulbrunnen schwimmen ließen.
Oft folgten sie ihrem Vater auch auf dem Feldweg ins Gehölz, wo er das Material für seine Arbeit holte. Dann sahen und hörten sie, wie mitten im Wald eine Eiche unter dem Schlag der Holzaxt fiel und sonnige Waldblößen (GA 13, 88) den Wald hell werden ließen. Der dunkle, dicht verwachsene Wald, der altertümlich «Dickung» genannt wurde und in dem man sich so leicht verirren konnte, lichtete sich in die Offenheit der «Lichtung», wo im Licht der Sonne und unter dem Blau des Himmels alle Dinge am reinsten sichtbar werden konnten. Etwas lichten bedeutet: etwas leicht, etwas frei und offen machen, z.B. den Wald an einer Stelle frei machen von Bäumen. Das so entstehende Freie ist die Lichtung[7], wird Heidegger noch 1964 erläutern, um die Aufgabe des Denkens zu bestimmen. In den Lichtungen kann das Licht des Denkens einfallen, um mit dem Dunklen streiten und spielen zu können. Denn auch das Dunkle braucht die Lichtung. Wie könnten wir sonst in das Dunkle geraten und es durchirren?[8]
So also hatte Martin Heidegger in den heimatlichen Wäldern das Lichten jener Lichtung (GA 4, 56) kennengelernt, das er später in den Mittelpunkt seiner Philosophie der ursprünglichen Natur («physis») und der Wahrheit stellen wird. Das griechische «physis» wird ihm als Aufgehen in das freie Offene verstehbar sein, als ein Hervorgehen und Sichöffnen, bei dem sich die Dinge in ihrem Aussehen («eidos», «idea») zeigen können; und als Wahrheit wird er das Unverborgene («aletheia») zu denken versuchen, in dem die heimatliche Erfahrung der Waldlichtungen nachwirkt.
Ebenfalls in den Wäldern um Meßkirch wurden Martin Heidegger die Holzwege vertraut, die meist verwachsen jäh im Unbegangenen aufhören (GA 5, Motto). Vor allem die Holzmacher und Waldhüter wussten sie zu nutzen. Doch auch der Philosoph wird sich viele Jahre später noch an diese früh erfahrenen Holzwege...