Eine Jugend in Czernowitz,
Bukowina, 1920–1940
«Landschaft die mich / erfand» – so läßt die 1901 in Czernowitz geborene Lyrikerin Rose Ausländer ihr Gedicht «Bukowina II» beginnen.[17] Und so, wie sie sich von der Kulturlandschaft Bukowina regelrecht «erfunden» sah, so erlebten es auch alle anderen jüdischen Dichter deutscher Sprache, die in dieser Gegend, dem bis 1918 östlichsten Zipfel der Donaumonarchie, geboren wurden und in ihr aufwuchsen. Nach dem Stammvater der Czernowitzer Literatur Karl Emil Franzos (1848–1904), der freilich erst als Gymnasiast von Galizien nach Czernowitz kam, waren es aus dieser Generation Isaac Schreyer, Paul Celans Mentor und väterlicher Freund Alfred Margul-Sperber, Moses Rosenkranz, Klara Blum und Alfred Kittner, aus der nachfolgenden Generation Celans seine zeitweiligen Mitschüler Alfred Gong und Immanuel Weißglas sowie die jüngeren Manfred Winkler, Else Keren und Celans Großcousine Selma Meerbaum-Eisinger, um hier nur einige zu nennen. Hinzu kommen nichtjüdische Autoren wie die Lyriker Georg Drozdowski und Elisabeth Axmann sowie Gregor von Rezzori, der Autor der «Maghrebinischen Geschichten». Sie alle sangen, mit ihren Dichterkollegen der anderen Nationalitäten, «viersprachig verbrüderte / Lieder / in entzweiter Zeit»[18] – in deutsch, rumänisch, ukrainisch und jiddisch.
Als Paul Celan zu Jahresende 1947 in Wien auftauchte, kam er – so erinnert sich Milo Dor – «buchstäblich aus dem Nichts»[19]. Doch so schien es nur, weil die Kulturlandschaft Bukowina 1945 untergegangen war. Paul Celan hat sich wieder und wieder an den Ort seiner eigenen Herkunft (III, 202), an sein verdammt geliebtes Czernowitz[20] erinnert und als karpatisch Fixierten[21] bekannt. So beginnt ein 1964 geschriebenes Gedicht aus dem Band Atemwende: Schwarz, / wie die Erinnerungswunde, wühlen die Augen nach dir / in dem von Herzzähnen hell- / gebissenen Kronland, / das unser Bett bleibt: // durch diesen Schacht mußt du kommen – / du / kommst. (II, 57) Das Land der Kindheit, einst Kronland der Habsburger, ist von Herzzähnen hell- / gebissen. Die Heimat hat, mit ihren Menschen zerstört und verloren, nur eine schwarze Erinnerungswunde hinterlassen – und bleibt doch auf Lebenszeit das Bett, in dem der Dichter die Sehnsuchtsträume einer erfüllten Kindheit und Jugend aus einem goldenen Zeitalter der Kultur träumt und wiedererinnert.
Eine Kultur existiert in Raum und Zeit, und so wie sie lebt in diesen Dimensionen, so ist sie auch in ihnen sterblich. Eine für eineinhalb Jahrhunderte überaus lebendige, deutsch-jüdisch geprägte Kultur war die des Buchenlandes und ihrer Hauptstadt Czernowitz. Und so kraftvoll diese Kultur für kurze Zeit blühte, so reich sie drei bis vier Generationen von Künstlern und Intellektuellen inspirierte, so abrupt und nahezu vollständig ist sie in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts ausgelöscht worden und der Geschichtslosigkeit anheimgefallen, wie Paul Celan in seiner Bremer Rede formulierte (III, 202). Das geschah in zwei Etappen. Die erste war die Deportation und nachfolgende Ermordung von sieben Achtel der nahezu 100000 Juden aus der nördlichen Bukowina (wie das «Buchenland» ukrainisch und auch rumänisch hieß) in den Jahren 1941 bis 1944. Die zweite war die willkürliche Teilung der seit 1918 rumänischen Provinz zu Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Südbukowina wurde bei Rumänien belassen, die Nordbukowina mit der alten Hauptstadt Czernowitz von der Sowjetunion annektiert und der Ukrainischen Sowjetrepublik zugeschlagen. Begleitet war dieses politische Diktat von einem umfassenden Bevölkerungsaustausch. Die meisten Juden waren vernichtet, die nichtjüdischen Deutschen von den Nazis ausgesiedelt worden; an ihrer statt kamen Zehntausende Ukrainer ins Land, denen die gewachsene altösterreichisch-vielsprachige und zugleich jüdische Kulturtradition nichts bedeutete und auch, entsprechend dem stalinistischen Geschichtsbild, nichts bedeuten sollte. «Die Bukowina» als Kulturlandschaft wurde zum Phantom und Czernowitz, einst, in seiner goldenen Ära bis zum Ersten Weltkrieg, «Klein-Wien» genannt, zur Geisterstadt, wohl noch vorhanden und von Kriegseinwirkungen weitgehend verschont, aber auf Landkarten kaum noch auffindbar (der neue Name lautete Tschernowzy) und für Reisende nur unter Mühen erreichbar. Heute muß man sich weitläufig belesen, will man die eminent prägende Wirkung dieses vielsprachigen Kulturraums verstehen, der für die ganze erste Lebenshälfte der Erfahrungsraum von Paul Celan war; und nicht nur für ihn und zahllose «Buko-Wiener» Dichter: Wilhelm Reich, der abtrünnige Freud-Schüler, wuchs auf einem Landgut bei Czernowitz auf; Manès Sperber kam aus dem nahen Zablotów am Pruth, und auch der Biochemiker Erwin Chargaff ist ein Czernowitzer.
Historische Daten zur Bukowina
13. Jahrhundert erste jüdische Besiedlung
Ende des 14. Jh. erste urkundliche Erwähnung
1514 unter türkischer Oberhoheit
1775 zur Habsburger k.u.k. Monarchie
1849 Kronland
1867 gesetzliche Gleichstellung der Juden
1875 Eröffnung der Universität Czernowitz
1918 zum Königreich Rumänien. Amtssprache Rumänisch
20. Juli 1940 Einzug der Roten Armee
5. Juli 1941 Einzug rumänischer Truppen, am Tag darauf der Einsatzgruppe D (SS und SD)
11. Oktober 1941 Errichtung des Ghettos in Czernowitz. Deportationen
April 1944 Czernowitz und die Nordbukowina wieder sowjetisch besetzt
1945 das Gebiet wird endgültig Bestandteil der Ukrainischen Sowjetrepublik, während die Südbukowina bei Rumänien bleibt
1990 aus der Ukrainischen Sowjetrepublik wird der selbständige Staat Ukraine
Sowohl Deutsche als auch Juden hatte es schon über Jahrhunderte in der Bukowina gegeben, noch als das Gebiet, als Teil des Fürstentums Moldau, zum gegenüber Juden durchaus toleranten Osmanischen Reich gehörte. Aber erst Joseph II. siedelte nach der 1775 vollzogenen Einverleibung der Bukowina in die Doppelmonarchie gezielt Deutsche an und forcierte gleichzeitig, aufgeklärt wie er war, die Ansiedlung jüdischer Familien auf dem Lande sowie die «bürgerliche Verbesserung der Juden» (C.W. Dohm) in den Städten. Gerade die Czernowitzer Juden lehnten sich ihrerseits eindeutig an die deutsche Kultur als ‹Leitkultur› an, ein Vorgang, der sich durch ihre rechtliche Gleichstellung im Jahre 1867 verstetigte. Die Juden stellten nach den Rumänen und Ruthenen (d.i. Ukrainern), die ungefähr je ein Drittel der Bevölkerung ausmachten, mit ca. 15 Prozent die drittgrößte Volksgruppe (in Czernowitz sogar über 40 Prozent) – und waren damit fast doppelt so zahlreich wie die sogenannten Volksdeutschen. Das brachte die deutschsprechenden Juden in der Bukowina in die Rolle des Wien nahestehenden eigentlichen ‹Staatsvolkes› – eine in der Donaumonarchie einmalige Situation. Deutschsprechende Juden waren nicht nur der Motor der kapitalistischen Entwicklung, als Fabrikbesitzer, wohlhabende Kaufleute und Gewerbetreibende, sie waren auch der Träger der staatlichen Verwaltung, des Gerichts- und Schulwesens, ab 1875 auch Professoren und Studenten der neugegründeten deutschsprachigen Universität; und sie dominierten die freien Berufe, stellten die meisten Ärzte und Anwälte. Dennoch konnte von Antisemitismus in der Bukowina bis in die 1870er Jahre hinein kaum die Rede sein. Erst dann erreichten immer stärkere Wellen antijüdischen Ressentiments, ausgehend von den einheimischen Rumänen und Ruthenen wie von dem immer aggressiveren Wiener Antisemitismus, das Buchenland. Sie kulminierten im Ersten Weltkrieg in von russischen Truppen inszenierten blutigen Pogromen und Synagogenbränden.
Seit der Jahrhundertwende muß man von zwei deutschen Kulturen in der Bukowina sprechen: einer ländlichen, rückwärtsgewandten, heimattümelnden Kultur (und Literatur) der Volksdeutschen und der zunehmend urbanen, an Wien orientierten, mehr intellektuellen Kultur der Czernowitzer deutschsprechenden Juden. So nannten jetzt auch böswillige deutsch-völkische Stimmen Czernowitz gern «Klein-Jerusalem am Pruth». Dennoch hatte Alfred Margul-Sperber recht, als er 1936 betonte, daß die «Bukowiner jüdischen Dichter […] dem Boden und dem Landschaftlichen viel stärker verhaftet» blieben, «als dies bei jüdischen Dichtern anderswo der Fall zu sein pflegt». So sei in den Gedichten noch eine unverwechselbare «innere Melodik» – ihr «Brunnenton» – zu finden.[22] Auch Celans frühe Lyrik hat, verfremdet, diesen Ton. Und noch im Band Sprachgitter findet sich, in Klammern gesetzt und so entrückt, die Aufforderung, sich an das heimatliche...