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Masse und Aktion. Vergleichende Betrachtung zweier Massenphänomene. Revolutionäre Volksmasse und Shitstorm

AutorSebastian Zeitz
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl81 Seiten
ISBN9783668288478
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis34,99 EUR
Masterarbeit aus dem Jahr 2016 im Fachbereich Soziologie - Sonstiges, Note: 1.7, Universität Koblenz-Landau (Kulturwissenschaft), Sprache: Deutsch, Abstract: Was ist eine Masse? Warum geht von der Masse eine solche Faszination aus, der sich Einzelne nur schwerfällig entziehen können? Wie bildet sich eine Masse und welchen 'Gesetzmäßigkeiten' folgt diese scheinbar chaotische Menschenansammlung? Massen spielen spätestens seit dem 19. Jahrhundert als gesellschaftlicher und damit politisch relevanter Faktor in unserer Geschichte eine bedeutende Rolle. Sie können sowohl die Macht eines Herrschers festigen als auch innerhalb kurzer Zeit bestehende Herrschaftsverhältnisse gewaltsam verändern. Proteste, Revolten und Revolution, dies sind die Formen des politischen Kampfes in denen Massen planlos, brutal und oftmals unkontrollierbar auftreten. Sie sind eine politische Macht, mit der gerechnet werden muss, ohne dass sie selbst vorausberechnet werden kann. Sie sind der Inbegriff roher und gefährlicher Leidenschaften, die scheinbar in jedem Menschen schlummern und im kollektiven Verbund ausgelebt werden. Die Arbeit stellt inhaltlich einen Versuch dar, die Methoden und Erkenntnisse einer klassischen Massensoziologie und -psychologie auf neuartige Formation anzuwenden. So erfolgt im Anschluss eine vergleichende Betrachtung zweier stellvertretender Formationen. Eine Gegenüberstellung spezifischer Merkmale der historischen Masse und die der digitalen Masse Shitstorm soll helfen, feststellbare Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu verdeutlichen. Im weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit werden die Befunde dann ausgewertet und präsentiert.

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Leseprobe

5 Historische Masse: Französische Revolution


 

Die Französische Revolution gehört mitunter zu den folgenreichsten Ereignissen der neuzeitlichen Geschichte. Dieses Ereignis schließt einerseits die Abschaffung des feudalabsolutistischen Ständesystems und anderseits die Verbreitung und die Umsetzung grundlegender neuer Werte und Ideen der Aufklärung mit ein. Vor allem aber gewinnt hier die Masse erstmals an politisch sozialer Bedeutung. Die vorrevolutionäre Staatsstruktur war – vereinfacht formuliert – in drei Stände unterteilt: den Klerus, den Adel sowie den Dritten Stand. Das ständische System galt den Menschen der Frühen Neuzeit als feste, von Gott gegebene Ordnung, in der jeder seinen unveränderlichen Platz hatte. Die Mobilisierung der revolutionären Volksmasse wurde hier im Wesentlichen von drei Faktoren begünstigt: dem Beginn der Industriellen Revolution, der Aufklärung sowie schließlich nationalen Krisen.

 

Die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts gilt gemeinhin als der Anbeginn der Industriellen Revolution. Hier wurden die Voraussetzungen für eine freie Ausbreitung des Handels, der Kapitalbildung und von technischen Erneuerungen geschaffen. Meilensteine waren z.B. die Erfindung der Dampfmaschine sowie des mechanischen Webstuhls. Es fand eine tiefgreifende und dauerhafte Umgestaltung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse sowie der Arbeitsbedingungen wie der Lebensumstände im Allgemeinen statt. Der Übergang von einer Agrar- zur einer Industriegesellschaft hatte begonnen. Die Industrielle Revolution führte einerseits zu einer stark beschleunigten Entwicklung von Technik und Produktivität. Anderseits bewirkte sie eine starke Bevölkerungszunahme welche wiederum mit einer qualitativ neuartigen Zuspitzung sozialer Missstände einherging. Der Merkantilismus ließ das Großbürgertum reicher und wirtschaftlich mächtiger werden als die Opposition verarmender Bauern und Kleinbürger. Die Aufklärung hingegen zeigte Alternativen zum bestehenden Absolutismus und schürte das Bewusstsein, alles verändern zu können, d.h. nicht nur den Staat, sondern auch den Menschen. Die Aufklärung lieferte ferner die theoretischen Grundlagen für Reformen von Staats- und Gesellschaftsordnung.[146] So wichen in der Neuzeit das mittelalterliche Bescheidenheitsideal und die Verantwortlichkeit des Herrschers gegenüber dem göttlichen Heilsplan einem rationaleren, innerweltlich begründeten Staats-verständnis.[147] Die Folge war eine wachsende Kritik am Ancien Règime, das immer mehr in Frage gestellt wurde.

 

Das noch absolutistische Frankreich war zudem von ökonomischen, soziokulturellen Krisen geprägt. Nach einer Missernte folgte 1788 der kälteste Winter seit Jahren was zu einer Hungersnot führte und den Brotpreis vervielfachte. Auch ein von der Obrigkeit verhängtes Strafmaß trug ihr Eigenes dazu: Wer bspw. Brot hortete musste, mit einer Bestrafung rechnen. Frankreich war Staatsbankrott, obgleich sich Historiker über die genauen Ursachen hierfür streiten: Auf der einen Seite wird die finanzielle Unterstützung des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges, auf der anderen Seite die wachsenden Kosten der Hofhaltung als Ursache angesehen. Gleichwohl lebte der Adel in Dekadenz und scheute sich nicht, dies auch in der Öffentlichkeit zu zeigen. Die aufwändigen und kostspieligen Frisuren einer Marie Antoinette dürfen als ein Symbol hierfür gelten. Gerüchte über den überzogenen Luxus und die Verschwendungssucht des Hofes schienen einmal mehr bestätigt. Die Steuerlast wurde vornehmlich auf den Dritten Stand abgewälzt, was zur Folge hatte, dass die sozialen Privilegien von Klerus und Adel vermehrt als ungerecht empfunden wurden. Dies schürte den Argwohn des Volkes zusätzlich.

 

Angesichts geltender Zensurbestimmungen äußerte die Öffentlichkeit ihre Meinung in geheimen Schmähschriften, Gedichten und Gerüchten. Als ein bedeutendes Beispiel verbotener Literatur ist wohl Les amours de Charlot et Toinette / Essai historique sur la vie de Marie-Antoinette, ein obszönes Pamphlet gegen die Königin.[148] Mehr noch als von Pamphleten und Flugschriften wurde die Französische Revolution zudem von einer sich explosionsartig entfaltenden Presse getragen.[149] Die Verbreitung von Informationen über Missstände und neue Ereignisse erreichte nicht nur die Menschen in den Städten, die Nachricht der Revolution verbreitete sich ins ganze Land. So konnte die gesamte Bevölkerung mit in den Prozess der Auflehnung und Umwälzung miteinbezogen werden. So wurden unter andrem auch in Lyon, Marseille, Nantes, Bordeaux und Caen Aktionen vollzogen.[150]

 

Heute selbstverständlich, entpuppte sich die Mediennutzung im Zeichen der Revolution als völlig neuartige Form einer öffentlichen Stimme. Schlagartig entwickelten sich Zeitungen von einer elitären Angelegenheit hin zu einem Massenmedium. Traten politischen Nachrichtenblätter in Frankreich zuvor noch in geringer Zahl auf, so vermehrte sich die Zahl der Wochen- und Tageszeitungen um ein Vielfaches. Was folgte, war die wachsende Macht des in Rage versetzten Pöbels. Die Volksmasse wurde zunehmenden politisiert. Die Akzeptanz von Gewalt schuf ein Muster mit katastrophalen Folgen für die Revolution. Wer nicht mitmachte, konnte selbst zum Ziel einer der Säuberung werden. So wurden Menschen öffentlich denunziert, die noch die mit dem Absolutismus verbundenen persönlichen Anreden wie Monsieur und Madame verwendeten. Wer sich der zunehmend sich durchsetzenden Anredeform ‘Bürger‘ verweigerte, zog den Zorn der revolutionären Volksmasse auf sich. Nachbarn zeigten Nachbarn an und unzählige Menschen fanden ihr Ende durch die Guillotine.

 

Die Krisen, die in der Inkubationsphase der Französischen Revolution zum offenen Ausbruch kamen, waren struktureller Natur und sind in unterschiedlichen Entwicklungen schemenhaft zu erkennen. Die Regierung zeigte sich unfähig, Reformen durchzuführen, und das System aus eigenen Kräften zu stabilisieren. Die Entwicklung macht deutlich, dass die Revolution aus mehrschichtigen, aber auch innerständischen Spannungen heraus entstand, die sich zunächst in einem gemeinsamen Angriff auf die absolutistische Monarchie entlud. Revolutionäre Massenbewegungen trugen hier maßgeblich dazu bei, dass der Kampf um politische Teilhabe aller Franzosen letztendlich Erfolg hatte.

 

Die verschiedenen Ursachen vor der Revolution und unterschiedliche Ereignisse während der Revolution lassen deutlich werden, weshalb dieser Prozess im Speziellen aber auch andere Revolution im Allgemeinen, als ergiebige Quelle der Massenforschung diente. Die Ursachen und Prozesse innerhalb der Masse auf die im vorangegangen Kapitel eingegangen worden sind, lassen sich hier rückblickend zuordnen. In einem weiteren Schritt soll nun versucht werden, eine Massenbildung anhand des Beispiels der Französischen Revolution chronologisch darzustellen.

 

Das Strukturprinzip des Zentralismus ist als Abbild des zentralistischen Frankreichs in dessen Verkehrsinfrastruktur wiederzuerkennen. Im ganzen Land sind die Straßen auf die Hauptstadt Paris ausgerichtet, was sie somit im Vergleich zu anderen Regionen als die Metropole identifizieren lässt. Neben Paris existierten selbstredend auch andere Städte mit ähnlicher Größenordnung. Die Existenz einer oder mehrerer Metropolen erfüllt sogleich die erste Voraussetzung einer Massenbildung. An diesen Orten versammelt sich eine große Anzahl von Menschen, infolgedessen ein stetiges Wachstum der Bevölkerung zum Zustand der Überfüllung führt. Der Zivilisationsprozess und seine Begleiterscheinungen – technischer Fortschritt durch Erfindungen, geistige Innovation durch die Aufklärung – ändern den soziokulturellen Kontext der Menschen und tragen so einen maßgeblichen Teil der Verantwortung des einsetzenden Vergesellschaftungsprozess. Das vorherrschende Ständesystem, welches im Wesentlichen einer gemeinschaftlichen Verbundenheit gleichgesetzt wurde, wird zunehmend in Frage gestellt und beginnt sukzessive zu erodieren.

 

Die zunehmende Technisierung des Alltags hatte zweierlei Folgen: einerseits führte eine vermehrte Nutzung von Maschinen zur Entstehung von großen kapitalistischen Produktionsstätten in Form von Fabriken und brachte zwei neue soziale Kategorien hervor: das Großbürgertum und das Proletariat. Zum anderen ermöglichte der technische Fortschritt auch die vermehrte Nutzung von Druckmaschinen. Mit der Verbreitung von Zeitungen wurde nicht nur eine wachsende Anzahl von Menschen erreicht. Im Zeichen der Revolution entstand neu, was heute selbstverständlich scheint: Schlagartig entwickelten sich Zeitungen von einer elitären Angelegenheit zu einem Massenmedium. Eine breite Öffentlichkeit wurde nun über internationale, nationale und regionale Ereignisse informiert. Die soziale Reichweite der neuen Presse war enorm, zumal jedes einzelne Zeitungsexemplar zu jener Zeit von ca. zehn Erwachsenen rezipiert wurde.[151] Zeitungen beinhalteten die Ideen der Aufklärung und informierten über bestehende Missstände. Dies hatte zu Folge, dass sich Ideen rasch in die entlegensten Orte verbreiteten. Im ganzen Land werden die Menschen so in den Bann der Revolution gezogen. Sie erkennen sich in Berichten über Notleiden, Unterdrückung und sozialer Ungerechtigkeit bisweilen wieder. In diesem Wir-Erlebnis wird ihnen bewusst,...

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