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Durch Mauern gehen

Autobiografie

AutorMarina Abramovi?
VerlagLuchterhand Literaturverlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl480 Seiten
ISBN9783641177591
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis22,99 EUR
Die Autobiografie - zum 70. Geburtstag am 30. November 2016
Sie hat die Grenzen der Kunst gesprengt: sich gepeitscht, mit einer Glasscherbe ein Pentagramm in den Bauch geritzt, ein Messer in die Finger gerammt. Sie ist 2500 Kilometer auf der Chinesischen Mauer gegangen, zwölf Jahre in einem umgebauten Citroën-Bus durch die Welt gefahren und hat ein Jahr bei den Aborigines in Australien gelebt. Spätestens seit »The Artist is Present« - ihrer berühmten Performance 2010 im New Yorker Museum of Modern Art - gilt Marina Abramovi? in der ganzen Welt als Kultfigur. Robert Redford schwärmt für sie genauso wie Lady Gaga. Vom »Time Magazine« wurde sie zu den 100 wichtigsten Menschen des Jahres 2014 gewählt.

In ihren Memoiren blickt Abramovi? zurück auf sieben Lebensjahrzehnte als charismatische Künstlerin und Grenzgängerin. Von ihrer strengen Kindheit im kommunistischen Jugoslawien, wo sie bei ihren der politischen Elite nahestehenden Eltern im Schatten Titos aufwuchs - bis hin zu ihren jüngsten Aktionen, bei denen sie die Seele von Millionen von Menschen mit der Kraft ihres Schweigens berührte.

Marina Abramovi? , 1946 in Belgrad geboren, ist eine der schillerndsten Künstlerpersönlichkeiten unserer Zeit. Ihre Werke sind in weltberühmten Museen zu sehen, in der Tate Modern, im Guggenheim Museum, im Centre Pompidou und im Hamburger Bahnhof in Berlin. Zu Beginn ihrer Karriere machte sie mit radikalen Performances auf sich aufmerksam. 1997 wurde sie auf der Biennale 1997 mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet. Ihre jüngsten Arbeiten waren sensationelle Erfolge: 850.000 Menschen besuchten 2010 allein ihre Performance 'The Artist is Present' im New Yorker MoMA. Drei Monate lang saß die Künstlerin auf einem Stuhl, schaute ihrem Gegenüber in die Augen und schwieg. Marina Abramovi? ist u. a. Gastprofessorin an der Hochschule der Künste in Berlin. Sie lebt in New York.

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Leseprobe

2

Mein Vater hatte oft versucht, mir das Schwimmen beizubringen – in einem Schwimmbad, im flachen Wasser eines Sees –, aber es war ihm nicht gelungen. Ich hatte einfach zu viel Angst vor dem Wasser, vor allem, wenn ich mit dem Kopf untertauchen sollte. Eines Sommers, als wir an der Küste waren, fuhr er mit mir mit dem Ruderboot weit aufs Meer hinaus und warf mich wie einen Hund ins Wasser.

Ich geriet in Panik. Das Letzte, was ich sah, bevor ich unterging, war mein Vater, der von mir wegruderte. Er hatte mir den Rücken zugekehrt und drehte sich nicht einmal nach mir um. Und dann war ich unter Wasser und sank immer tiefer und tiefer. Ich ruderte mit den Armen, Salzwasser lief mir in den Mund.

Wie ich so am Untergehen war, musste ich die ganze Zeit daran denken, dass mein Vater einfach davonruderte und sich nicht einmal nach mir umgedreht hatte. Und das machte mich wütend – mehr als wütend –, ich war außer mir vor Zorn. Ich bemühte mich, kein Wasser zu schlucken, und irgendwie brachten mich meine rudernden Arme und meine strampelnden Beine zurück an die Oberfläche, wo es mir gelang, das Ruderboot zu erreichen.

Vojo musste mich gehört haben, denn er streckte den Arm aus – ohne sich zu mir umzudrehen – und zog mich ins Boot.

So brachten die Partisanen ihren Kindern das Schwimmen bei.

Ich wurde an der Kunstakademie aufgenommen und widmete mich weiterhin der Malerei. Während dieser Zeit baten mich meine Verwandten, Bilder für sie zu malen, die sie mir dann abkauften. Sie bestellten alle möglichen Arten von Stillleben, eine Vase mit Tulpen, Sonnenblumen, ein Fisch neben einer Zitrone oder ein offenes Fenster mit wehendem Vorhang und Vollmond. Ich malte, was sie wollten, und signierte die Bilder mit MARINA in der unteren Ecke, ganz groß und in Blau.

Beim Malen in meinem Atelier, Belgrad, 1968

© Marina Abramović

Irgendwann begann meine Mutter, die Bilder von den Verwandten zurückzukaufen und in unserer Wohnung aufzuhängen. Sie war ganz stolz auf meine Werke, aber mir waren sie peinlich. Heute meldet sich hin und wieder jemand bei einer der vielen Galerien rund um die Welt, mit denen ich zusammenarbeite, und sagt, er besitze einen echten Abramović. Ich würde mittlerweile am liebsten im Erdboden versinken, wenn ich diese Bilder sehe, weil ich sie wegen des Geldes und ohne wirkliche Inspiration gemalt hatte. Sie sind absichtlich kitschig gemacht und in fünfzehn Minuten auf die Leinwand geklatscht worden. Nach dem Tod meiner Mutter habe ich alle Bilder, die sie von mir hatte – es waren ungefähr zehn –, in Kisten verpackt. Ich muss mir noch überlegen, was ich mit ihnen mache. Vielleicht verbrenne ich sie. Oder zeige sie der Welt in all ihrer kitschigen Pracht.

An der Akademie malte ich – natürlich – gemäß den dortigen Gepflogenheiten: Akte und Stillleben und Porträts und Landschaften. Aber ich entwickelte auch neue Ideen. So faszinierten mich zum Beispiel Verkehrsunfälle, und ich ließ mich davon zu Bildern inspirieren. Ich begann, aus Zeitungen Fotos von Auto- und Lastwagenwracks auszuschneiden und zu sammeln. Außerdem nutzte ich die guten Kontakte meines Vaters zur Polizei und ging regelmäßig zum Revier, um mich zu erkundigen, ob sich irgendwelche schweren Unfälle ereignet hatten. Dann fuhr ich zur Unfallstelle, fotografierte und machte Skizzen. Es fiel mir jedoch schwer, die Gewalt und Unmittelbarkeit dieser Katastrophen auf die Leinwand zu bannen.

1965 jedoch, damals war ich neunzehn, malte ich ein Bild, das eine Art Durchbruch darstellte. Es war ein kleines Bild mit dem Titel Drei Geheimnisse. Das sehr einfache Gemälde zeigt drei Stücke Stoff – ein rotes, ein grünes, ein weißes –, die drei Objekte verhüllen. Das Bild bedeutete mir viel, denn anstatt ein leicht verdauliches Motiv anzubieten, machte es den Betrachter zum Mitwirkenden. Er musste zwangsläufig seine Fantasie benutzen. Das Bild barg etwas Ungewisses, ein Geheimnis. Und für mich öffnete es eine Tür zum plakar meines Unterbewusstseins.

Dann kam das Jahr 1968.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte sich Titos Jugoslawien immer mehr von der Sowjetunion losgesagt und erklärte sich zum unabhängigen kommunistischen Staat, der die Bewegung der blockfreien Staaten mitbegründete. Auf unseren heldenhaften Sieg über die Nazis waren wir ebenso stolz wie auf unsere Unabhängigkeit.

In Wirklichkeit war Tito gar nicht so unabhängig: Er war sehr geschickt darin, die Sowjets und die Chinesen gegen den Westen auszuspielen und sich von beiden Seiten hofieren zu lassen. Er behauptete, seine Doktrin der »Selbstverwaltung«, die den Arbeitern die Entscheidung überließ, was mit dem Ergebnis ihrer Arbeit geschehen sollte, entspräche Marx’ Lehren viel eher als der Kommunismus Stalin’scher Prägung. Tito hatte in Jugoslawien jedoch einen Persönlichkeitskult um sich geschaffen, und seine Ein-Parteien-Regierung war durch und durch korrupt, hochrangige Parteimitglieder genossen Reichtum und Privilegien, während die Arbeiterklasse ein Leben in grauem Trübsinn führte.

1968 war ein schreckliches Jahr, die ganze Welt war in Aufruhr. In den Vereinigten Staaten wurden Martin Luther King jr. und Bobby Kennedy ermordet, selbst auf Andy Warhol wurde geschossen, und er überlebte nur knapp. In den USA, in Frankreich, der Tschechoslowakei und in Jugoslawien waren die Studenten mit ihrem Ruf nach mehr Freiheit an vorderster Front des politischen Aufruhrs.

In Belgrad machte sich in jenem Jahr große Enttäuschung über die Kommunistische Partei breit – wir merkten plötzlich, dass alles nur Augenwischerei gewesen war. Wir hatten weder Freiheit noch Demokratie. Mir wurde allmählich klar, dass ich überhaupt keine Kommunistin sein wollte.

Damals stand ich meinem Vater noch sehr nah, und ich erfuhr etwas Überraschendes: Zwar hatte Tito meinen Vater nach dem Krieg in seine Leibgarde aufgenommen, ihn jedoch 1948 degradiert. In den Nachkriegsjahren war die Stimmung in Jugoslawien extrem antisowjetisch, und unter Vojos Freunden waren einfach zu viele gewesen, die mit der Sowjetunion sympathisierten. In jener Zeit wanderten viele Menschen ins Gefängnis, mein Vater selbst ist diesem Schicksal nur knapp entgangen. Er fühlte sich von Tito persönlich verraten, hatte jedoch immer geglaubt, dass sich irgendwann eine wahrere Version des Kommunismus herausbilden würde. Zwanzig Jahre später hatte er diese Hoffnung aufgegeben.

Mein Vater kniet neben Tito beim alljährlichen Partisanentreffen, Belgrad, 1965.

© Marina Abramović

Über all das hatte er nie mit mir gesprochen. (Plötzlich begriff ich die Symbolik, die darin lag, dass er mein Pionierhalstuch als Stirnband benutzt hatte.) Jetzt war er restlos desillusioniert. Aus allen Fotos, auf denen er zusammen mit Tito abgebildet war, schnitt er Tito heraus. Besonders aufgebracht war mein Vater darüber, dass alle Parteimitglieder, die für den Vorsitz in Frage gekommen wären, über die Jahre verstoßen worden waren, so dass nun, als Tito alt wurde – er war bereits Mitte siebzig –, niemand mehr da war, der seine Nachfolge hätte antreten können.

Im Juni 1968 unterstützten alle, die ich in Belgrad kannte, die Studentenproteste. Studenten marschierten durch die Stadt und besetzten die Universitätsgebäude. Überall im Universitätsviertel hingen Plakate mit Parolen wie NIEDER MIT DER ROTEN BOURGEOISIE oder ZEIG EINEM BÜROKRATEN, DASS ER UNFÄHIG IST, UND ER WIRD DIR ZEIGEN, WOZU ER FÄHIG IST! Die ganze Stadt war voll mit Polizei, die schließlich das Universitätsviertel abriegelte. Als Studentenvorsitzende der Kunstakademie gehörte ich der Gruppe an, die unser Gebäude besetzt hatte. Wir schliefen dort; wir hielten laute und leidenschaftliche Versammlungen ab, die bis spät in die Nacht dauerten. Ich war buchstäblich bereit, für die Sache zu sterben, und glaubte, alle anderen würden ebenso empfinden.

Mein Vater tat etwas, das mich zutiefst beeindruckte. Mit Krawatte und in einem eleganten Trenchcoat, das volle Haar sorgfältig pomadisiert, stellte er sich mitten auf den Marx-und-Engels-Platz und hielt eine leidenschaftliche Rede, in der er seinen Austritt aus der Kommunistischen Partei erklärte und Jugoslawiens Rote Bourgeoisie und alles, wofür sie stand, anprangerte. Anschließend warf er seinen Parteiausweis in die Menge der Zuhörer – eine heldenhafte Geste. Er bekam tosenden Applaus. Ich war unglaublich stolz auf ihn.

Meine Mutter jedoch missbilligte alle Formen des Protests sowohl bei mir als auch bei meinem Vater.

Mein Vater hält eine Rede bei den Studentenprotesten, Marx-und-Engels-Platz, Belgrad, 1968.

© Marina Abramović

Am nächsten Tag brachte ein Soldat meinem Vater seinen Parteiausweis zurück. Vojo würde ihn brauchen, sagte er, wenn er weiterhin seine Pension beziehen wolle.

Wir Studenten stellten eine Zwölf-Punkte-Petition zusammen und drohten damit, auf die Barrikaden zu gehen, wenn die Regierung nicht alle zwölf Punkte akzeptierte. Wir verlangten Pressefreiheit und Redefreiheit, Vollbeschäftigung, einen höheren Mindestlohn und eine demokratische Reform des Bundes der Kommunisten. »In unserer Gesellschaft müssen Privilegien abgeschafft werden«, verkündeten wir und verlangten: »Kulturelle Beziehungen müssen derart gestaltet werden, dass eine Kommerzialisierung unmöglich gemacht wird und sämtliche kulturellen und künstlerischen Einrichtungen allen offen stehen.«

Mit der letzten Forderung wollten wir die Einrichtung eines studentischen Kulturzentrums durchsetzen. Wir hatten...

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