2. Eine kriegszentrierte Sozialtheorie.
Intellektuelle, Apparate, Selbstpraktiken
»Rationalität« und »Lebensführung«
Beginnen wir mit einem schwarzen Fleck. Max Weber war, wie viele Zeitgenossen berichtet haben, ein begabter Redner und ebenso ein Autor, der es verstand, prägnant und zügig zu schreiben. Gleichwohl veröffentlichte er in den Jahren 1898 bis 1902 nur insgesamt 36 Seiten. In dieser Zeit unternahm Weber das, was er selbst eine »Höllenfahrt« nannte: Der junge Professor der Nationalökonomie geriet in eine schwere depressiv-nervöse Krise, die ihn schließlich vollständig arbeitsunfähig machte. Wir wissen nur wenig über die klinischen und psychologischen Details dieses Zusammenbruchs. Um so mehr müssen wir die Krise als eine Zäsur akzeptieren, die Webers Leben in ein (frühreifes) »Vorher« und ein (reifes) »Nachher« einteilt.11 Dazwischen lag nicht zuletzt die prägende Erfahrung einer dreimonatigen Amerikareise, die der begeisterte Max Weber im Jahre 1904 zusammen mit seiner Frau Marianne und den Kollegen Sombart, Tönnies und Troeltsch unternahm.12
Im Jahre 1894 hatte Weber Berlin verlassen, wo er für kurze Zeit eine außerordentliche Professur an der juristischen Fakultät bekleidete, und wurde Ordinarius für Nationalökonomie an der Universität Freiburg. Dieser Wechsel markiert zugleich eine Verschiebung seines intellektuellen Interesses vom Juristischen hin zum Ökonomischen. Im Januar 1897 tritt er schließlich die Nachfolge von Karl Knies als Professor der Nationalökonomie und Finanzwissenschaft in Heidelberg an. Er gerät dabei in einen gewissen Widerspruch zu den patriarchalen Kommunikationsformen des universitären Milieus. Marianne Weber, eine engagierte Repräsentantin der bildungsbürgerlichen Frauenbewegung der Jahrhundertwende, gründet bereits im ersten Semester die Heidelberger Sektion des Vereins »Frauenstudium – Frauenbildung« und erregt damit beträchtliches Aufsehen. Max, der seine Frau nach anfänglichem Zögern unterstützt, bemüht sich um eine Auflockerung der altehrwürdigen Geselligkeitsregeln in den Heidelberger Akademikerzirkeln sowie um eine Öffnung der Universität für Frauen.
Wesentlich heftiger als der Zwist, in den Weber mit den alten Autoritäten des Universitätsmilieus gerät, ist das symbolträchtige Zerwürfnis mit seinem Vater, einem Anhänger und Reichstagsabgeordneten jener Nationalliberalen, die sich unter Bismarck politisch und weltanschaulich eingerichtet hatten. Der endgültige Bruch mit dem Vater, der sich im Sommer 1897 ereignet und für den sich teils politisch-kulturelle, teils psychologische Erklärungsmuster anbieten, führt darüber hinaus zu einem grundsätzlichen ethischen Konflikt, dessen Heftigkeit vielleicht verantwortlich ist für Webers Erkrankung. Die Historikerin Ingrid Gilcher-Holtey beschreibt Webers Situation in Heidelberg wie folgt: »Er verficht entschieden die Gleichheit der Frau, unterstellt die Erotik der Rationalität der Sittlichkeit und zerbricht doch zugleich an der Sehnsucht nach einer verantwortungslosen Erotik.«13
Diese Alternative, sich entweder dem Leben zu überlassen oder aber das Leben am Leitfaden ethischer Werte zu »führen«, stellt sich für Weber nicht nur biographisch, sondern bildet zugleich einen Zugang zu seinem Werk. Weber versteht Wissenschaft als eine Praxisform, die auf einer spezifischen Wertsetzung beruht. Der Kampf um die Werturteilsfreiheit ist ein Kampf um die Eigenständigkeit dieser besonderen Praxisform. Die ersten Texte, die Weber schreibt, nachdem er die Endstation seiner »Höllenfahrt« hinter sich gebracht hat, sind nicht zufällig methodologischer Natur (Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie, 1903/06 etc.). Wolfgang Schluchter scheint sogar einen Zusammenhang anzunehmen zwischen der langsamen Genesung Webers im Frühjahr 1902 und seiner Lektüre von Heinrich Rickerts Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung (1902).14
Wie dem auch sei, festzuhalten ist die Einsicht, daß Weber eine Begriffsbildungslehre entwickelt, in der sich zugleich andere Motive seines Denkens ankündigen. Auffallend ist, daß sich der lebensgeschichtliche Grundkonflikt von Ethik und Ästhetik auch in der Wissenschaftslehre zeigt. So heißt es im »Objektivitäts«-Aufsatz von 1904:
»Jeder nur anschaulichen Schilderung haftet die Eigenart der Bedeutung künstlerischer Darstellung an: ›Ein jeder sieht, was er im Herzen trägt‹, – gültige Urteile setzen überall die logische Bearbeitung des Anschaulichen, das heißt die Verwendung von Begriffen voraus, und es ist zwar möglich und oft ästhetisch reizvoll, diese in petto zu behalten, aber es gefährdet stets die Sicherheit der Orientierung des Lesers, oft die des Schriftstellers selbst, über Inhalt und Tragweite seiner Urteile.« (WL: 209)
Weber spricht in diesem Zusammenhang auch von einer »wissenschaftlichen Pflicht, die Wahrheit der Tatsachen zu sehen« (WL: 155). Er ist damit kurz davor, »Objektivität« als eine Haltung gegenüber der Welt zu kennzeichnen, die wir subjektiv einzunehmen gelernt haben und die nicht ihrerseits noch einmal »objektiv« begründet werden kann. Wenn er gegen den »optimistischen Glauben an die theoretische und praktische Rationalisierbarkeit des Wirklichen« (WL: 185) polemisiert, so scheint er auf zweierlei aufmerksam machen zu wollen: Einerseits stößt der wissenschaftliche Rationalismus auf einen unauflöslich irrationalen »Rest« in der Welt, andererseits – und das ist gravierender – beruht er auf einem solchen Rest: Die Entbindung von sozial oder religiös auferlegten Denk- und Sprachgewohnheiten ist selbst in einer »letzten« Bindung verankert, nämlich in der Bindung an den Wahrheits-Wert. Weber behandelt in diesem Sinn die wissenschaftliche Tätigkeit als eine asketische Übung. Ist es daher verwunderlich, daß er nach seiner Krise parallel zu den wissenschaftstheoretischen Arbeiten das Thema der protestantischen Ethik aufgreift? Es gibt einen zugleich werkgeschichtlichen und theoretischen Zusammenhang zwischen Webers Interesse an einer strengen begriffslogischen Methodologie der Sozialwissenschaften und seinem religionssoziologischen Interesse am Puritanismus und der »methodischen Lebensführung«. Weber ist an der Entwicklung einer rationalen Methode interessiert, und zugleich bilden »Methoden« einen bevorzugten Gegenstand seiner Schriften: Methoden der intellektuell-praktischen »Lebensführung«.
Damit ist die Frage der thematischen Einheit eines Werkes angeschnitten, das uns nur in fragmentarischer Form vorliegt. Diese Frage ist mit Nachdruck von Wilhelm Hennis aufgeworfen worden, der sich gegen die in soziologischen Lehrbüchern vorherrschende Auffassung wendet, das zentrale Thema des Weberschen Werkes sei die Entwicklung der westlichen »Rationalität«. Hennis hat einen Versuch unternommen, diese »völlig undiskutierte Annahme« einer Kritik zu unterziehen und ist zu dem Ergebnis gekommen, das religionssoziologische Thema der »Lebensführung« als das zentrale Hintergrundmotiv auszuzeichnen, das Weber kontinuierlich beschäftigt habe.15 Der polemische Charakter dieser Lesart rührt daher, daß das Thema der Lebensführung, dessen enorme Bedeutung von niemandem bestritten wird, gegen Webers politische Soziologie und selbst gegen seine Handlungstheorie ausgespielt wird.
»Denn – um nur eins zu erwähnen – hinter der ›Handlung‹ steht: der Mensch.« (WL: 530) Sätze wie dieser scheinen Hennis darin recht zu geben, unterhalb des sozialen Handelns und seiner »Rationalisierungen« eine anthropologische Basis anzunehmen, um deren Ergründung es Weber gegangen sei. Daran ist richtig, daß Weber hinter und außerhalb des beobachtbaren Verhaltens der Individuen und Kollektive eine geistige Ursache am Werk sieht, nämlich den »Sinn« und jeweils bestimmte »letzte Werte«, die den verschiedenen Motiven der Akteure zugrunde liegen. »Hinter« dem Verhalten eines Subjekts steht der Sinn, den es in sein Verhalten »hineinlegt« (WG: 4, 13ff.); »hinter« diesem letzten Sinn wiederum steht ein »Dämon«, der, wie sich Weber in Wissenschaft als Beruf metaphorisch ausdrückt, »seines Lebens Fäden hält« (WL: 613). Weber scheint hier die Quelle von sozialen Handlungen zu mystifizieren, indem er an die Stelle eines autonomen handelnden Subjekts einen schwer greifbaren »Dämon« setzt. Und doch verfehlt eine solche Interpretation den Kern der »Fragestellung« Max Webers.
Weber unterscheidet sich nämlich von vielen seiner Zeitgenossen gerade durch seinen Widerstand gegen »den Glauben an die spezifische Irrationalität des menschlichen Handelns oder der menschlichen ›Persönlichkeit‹« (WL: 64). Er polemisiert z.B....