Zum Einstieg
»Alles kann nicht alles sein.«
(Ingeborg Bachmann)
Wer möchte die Möglichkeiten missen, die die moderne Medizin uns heute bereitstellt? Wir haben ihnen viel zu verdanken, von Anbeginn unseres Lebens bis zum Ende. Ja, dass viele von uns überhaupt am Leben sind, dass sie nicht an einer Krankheit oder einem Unfall sterben mussten, schulden wir zu einem großen Teil den Erfolgen der Medizin. Die Medizin hilft uns, unser Leben sorgenfreier zu leben, sie fängt uns auf, wenn uns eine Krankheit ereilt, die noch vor hundert Jahren ein sicheres Todesurteil bedeutet hätte. Insofern ist es eine große Errungenschaft, dass wir über eine moderne, gut funktionierende Medizin verfügen. Und dennoch: In dem großen und unbestreitbaren Erfolg liegt bereits der Keim einer Fehlentwicklung weiter Teile der modernen Medizin.
Was meine ich damit? Mit Fehlentwicklung meine ich die Beobachtung, dass die Medizin im Taumel ihres Erfolges insgeheim verspricht, alles im Griff zu haben. Sie suggeriert zunehmend, dass man sich heute, im Zeitalter einer hocheffektiven modernen Medizin, mit nichts mehr abzufinden brauche: Dank modernster Techniken kann die Medizin Krankheiten besiegen, sie kann Leben verlängern, den Körper verschönern, ehedem unheilbar Kranke für immer heilen – aber kann sie deswegen wirklich alles? In der von vielen Medizinbereichen angestimmten Euphorie des Machenkönnens wird zunehmend vergessen, dass es trotz aller Technik zum Menschen gehört, dass er nicht alles selbst bestimmen kann und die wesentlichen Dinge nicht in seiner Hand hat. Dieses »Vergessen« zieht es auch nach sich, dass es uns immer weniger gelingt, einen Umgang mit dieser Endlichkeit unseres Könnens zu erlernen – und es ist nicht zuletzt diese Kluft zwischen den maß-losen Verheißungen der Technik und der Unfähigkeit zu einem konstruktiven Umgang mit Grenzen, die zu den großen moralischen Engpässen wie zu einem wachsenden Unbehagen an »der Medizin« beiträgt, das unsere Gesellschaft immer stärker beherrscht.
In meinem Buch möchte ich mich jedoch weniger in die Phalanx der »Medizinkritiker« einreihen, die diesen gesellschaftlichen Unmut durch Skandalmeldungen bedienen, als vielmehr die Dinge wieder in den Blick rücken, die der Mensch trotz aller technischen Möglichkeiten eben nicht in seiner Hand hat und auch nie wirklich in seiner Hand haben kann.
Ich möchte über die Grenzen des Machbaren sprechen, aber nicht klagend darüber, dass der Mensch nicht alles selbst gestalten kann, sondern in dem Tenor, dass es vielleicht sogar gut ist, dass sich die wesentlichen Dinge dem technischen Zugriff entziehen.
Sensibilität für die Grenze
Die zunehmend bedrückender werdende Schieflage der modernen Medizin verlangt es, den heutigen Zugang zur Welt vom Grundlegenden her zu reflektieren und zu hinterfragen. Diese Hinterfragung ist umso notwendiger, als die Medizin dazu neigt, sich im Umgang mit dem Menschen allein auf naturwissenschaftliche Fakten zu konzentrieren. Ist der Mensch im Bewusstsein weiter Teile der Medizin geradezu ausschließlich das, was sich naturwissenschaftlich beschreiben lässt, so zieht dies fast zwangsläufig die Einstellung nach sich, dass dieses naturwissenschaftlich Beschreibbare ja auch verändert, manipuliert und umgestaltet werden könne. Die moderne Medizin konzentriert sich auf die Veränderung der äußeren Parameter und verlernt dabei immer mehr zu unterscheiden zwischen dem, was zu ändern ist, und dem, worauf man nur mit Annahme des Gegebenen reagieren kann. Sie entwickelt ganze Arsenale zur Bekämpfung – aber sie leitet nicht an zu einem akzeptierenden Umgang mit dem, was ist.
Je mehr wir uns auf das Machen konzentrieren, desto mehr verlieren wir den Blick für das, was vor uns liegt, den Blick darauf, wie wichtig das Begrenzte für uns ist, für unsere Orientierung, für unsere Lebensgestaltung. Der Mensch kann nur innerhalb des ihm Vorgegebenen (etwas) machen; es steht ihm nicht absolut frei, dieses zu wählen. Und zugleich sind wir selbst weniger das Resultat des eigenen Machens als ein »Ereignis« auf dem Boden unverfügbarer Vorgaben. Diese Grundeinsicht ist gerade der modernen Medizin vollkommen fremd geworden. Das Vorgegebene, das nicht Machbare, das einfachhin Seiende – das sind Vorstellungen, die in einer auf Funktionalität, Planbarkeit, Kontrollierbarkeit und Effizienz ausgerichteten Medizin keinen Platz haben. Wie problematisch die Verbannung dieser Grundeinsichten sein kann, möchte ich in diesem Buch, das ausdrücklich ein »ethisches« Buch sein soll, aufzeigen.
Ethik – als Anleitung zum guten Leben
Wenn wir heute das Wort »Ethik« hören, denken wir sofort an erhobene Zeigefinger, an Verbote, an Einschränkungen. Und wenn man ein Buch zur Hand nimmt, das auch noch den Titel »Medizin ohne Maß?« trägt, so könnte man glauben, es handele sich um einen erhobenen Zeigefinger, der Grenzen markiert, uns Entsagungen auferlegt und einen Verlust an Optionen. Doch das ist ein falsches Verständnis von Ethik. Seit der Antike dient ethisches Denken in erster Linie dazu, dem Menschen dabei zu helfen, ein erfülltes Leben zu führen. Ethisches Denken also als Anleitung zu einem guten Leben. Und genau so versteht sich dieses Buch.
Es geht in den folgenden Kapiteln nicht um Verurteilungen, um Verbote, um Beschneidungen, sondern gerade im Gegenteil: Es geht um die Frage, wie unser Leben »voller« werden kann. Wie können wir ein erfülltes Leben führen?
Die Medien vermitteln uns oft sehr klare Botschaften, sehr eindeutige Lösungen, aber die Probleme, die gerade in Bezug auf die moderne Medizin aufgeworfen werden, sind nicht auf flache Botschaften herunterzubrechen. Nehmen wir doch die Grenze. Es ist einfach, zu sagen, der Mensch brauche doch keine Grenzen heutzutage, weil er mündig sei und sich daher alles selbst aussuchen dürfe. Ja, das klingt gut: Jeder darf ganz alleine aussuchen! Das drückt in der Tat ein Lebensgefühl unserer Zeit aus, und es war der Soziologe und Philosoph Zygmunt Baumann, der dieses Credo in einer prägnanten Form wie folgt zu Papier brachte:
»Postmoderne ist die erregende Freiheit, jedes beliebige Ziel zu verfolgen und die verwirrende Unsicherheit darüber, welche Ziele es wert sind, verfolgt zu werden.«
Schon daran sehen wir, dass wir uns allein durch die Abschaffung aller Grenzen nicht automatisch dem Glück nähern, weil das Glück nicht primär mit dem Machenkönnen, mit den Mitteln unserer Herrschaft über die Welt zu tun hat, sondern damit, etwas über das Wohin und Wozu zu wissen. Wohin wollen wir, wozu leben wir, was ist wichtig im Leben, worauf kommt es überhaupt an? Das sind die zentralen Fragen, die letzten Endes etwas über das Glück des Menschen aussagen. Wenn wir diese Zielrichtung aus den Augen verlieren und einfach nur alles tun, was möglich ist, dann unterwerfen wir uns einer Diktatur der Machbarkeit und verlieren vor lauter Möglichkeiten das Gespür für das Eigentliche, nämlich für die Frage danach, wer wir eigentlich sind und sein wollen. Wenn wir alles könnten und alles wollten, was wir könnten, dann wären wir niemand. Eine Identität entwickeln können wir nur im Angesicht dessen, was wir nicht können. Identität ergibt und formt sich gerade über die Grenze – die Grenze des Machbaren, aber auch die Grenze des Wünschbaren.
Die Grenze als Voraussetzung für Fülle
In unserer Zeit können wir es schier nicht aushalten, wenn es eine Grenze gibt. Wir möchten am liebsten alle Grenzen abschaffen, alles können, alles selbst entscheiden, alles so haben, wie wir uns das vorstellen. Aber das ist ein falsches Verständnis von Freiheit und zugleich ein falsches Verständnis von einem guten Leben. So wie die Ufergrenzen den Fluss erst möglich machen, so sind auch für den Menschen die Grenzen notwendig dafür, dass er sich als Mensch begreifen kann. Grenzen sind also nicht als Beschränkung und Einengung zu verstehen, sondern als die Voraussetzung für Fülle.
Was aber nun eine wertvolle und identitätsstiftende Grenze ist oder wo die Begrenzung ein Hindernis darstellt, das man überwinden sollte – dies abzuwägen ist die Herausforderung unserer Zeit. Und nicht nur unserer Zeit: Sich in einer...