TEIL II – KREATIVITÄT TRAINIEREN
Über Kreativität
Wieso jeder grenzenlos kreativ sein kann. / Neue Wege begehen – auch (oder gerade), wenn man sie (noch) nicht sieht. / Verjage deine bösen Schultermännchen.
• Hole dein Handy (Countdown-Funktion).
• Schreibe genau zwei Minuten lang möglichst viele Synonyme und Umschreibungen auf, mit denen man Menschen (also jede Art von Personen) in irgendeiner Form bezeichnen kann.
• Denke nicht lange nach, lege einfach los.
Kreatives Denken
→ Kreativität ist die Fähigkeit unseres Gehirns, Gedanken zu erzeugen, die wir vor dem winzigen Augenblick dieses Denkens noch nicht hatten.
Das heißt, es werden uns plötzlich Dinge bewusst, die uns kurz vorher als »nicht vorhanden« erschienen. Das kann alles Vorstellbare sein: Ideen, Assoziationen, visuelle Vorstellungen, Problemlösungen, Vorgehensweisen, Techniken, Wörter, Melodien, Produkte, Zusammenhänge usw.
→ Kreativität ist in erster Linie also ein Denkprozess – und zwar ein ganz simpler:
Denke über etwas nach (bewusst oder »im Hintergrund«, also: unbewusst) und lasse dir dadurch und/oder dazu etwas anderes einfallen.
Das war’s.
Ich glaube fest daran, dass jeder von uns die Fähigkeit besitzt, unbegrenzt kreativ zu sein!
Na, bitte! Du kannst das Buch zur Seite legen. Lass den Dingen einfach ihren Lauf.
Oder warte noch. Die Frage ist: Wieso gelingt das Ausdenken von anderen/neuen Dingen nicht allen immer in der Intensität und dem Ausmaß, wie sie es sich vielleicht wünschen?
Stell dir (d)eine Band im Proberaum vor. Ihr wollt einen neuen Song entwickeln. Du schlägst eine Harmoniefolge vor. Der Gitarrist sagt: »Die gibt’s schon.« Du schlägst einen Groove vor. Der Schlagzeuger sagt: »Langweilig.« Du singst tapfer deine neuste Zeile:
»Neulich saß ich im Café«, der Bassist grinst süffisant: »Prima, ’ne Starbucks-Werbung.«
Welche Energie müsstest du aufbringen, den Löwen noch weitere Vorschläge zum Zerreißen zu kredenzen?
Du setzt dich: »Dann macht ihr doch ’nen besseren Vorschlag.« Der Gitarrist spielt eine andere Harmoniefolge vor, woraufhin du spitz und treffend fragst: »Ach, und die gab’s noch nicht, oder was?« Der Gitarrist fängt an, seine Gitarre zu putzen. Der Schlagzeuger packt schon mal die Sticks ein. Das war’s mit dem Entwickeln des neuen Songs.
Achtung: Das, was so oder so ähnlich täglich in den Proberäumen (sich vermutlich bald auflösender Bands) passiert, geschieht genau in dieser Art auch in unserem Kopf, wenn wir allein auf dem Sofa, im Café oder am Schreibtisch sitzen und versuchen, neue Pläne zu entwickeln oder an einem neuen Text zu arbeiten!
Die Stimmen, die unsere Ideen mit »Langweilig!« oder »Lass es!« kommentieren, sind unsere eigenen Gedanken, unsere Erwartungen, unsere gelernten oder antrainierten Einschätzungen, die mit großem Argwohn beobachten, was wir da so treiben. Vielleicht wollen sie uns vor vermeintlichen »Fehlern« schützen, vielleicht es irgendwem recht machen, eine Regel befolgen, eine Aufgabe erfüllen usw.
Selbstverständlich sind diese Stimmen nicht bei jedem gleich laut, gleich hartnäckig oder gleich wirkungsvoll. Vielleicht hast du sie meistens im Griff, kannst sie überhören oder ihre negative Wirkung eindämmen. Aber vielleicht auch nicht (immer) – und du würdest dich gerne freier und kreativer fühlen?
Viele von uns haben in ihrem Leben erfahren, dass es sinnvoll sein kann, seine unbegrenzte Assoziations- und Handlungsfähigkeit zu zügeln. Wir haben als Kinder gelernt, dass nicht alles, was wir sagen oder tun, mit Begeisterung und Unterstützung unserer Mitmenschen aufgenommen wird. Wir wurden meistens zum »Funktionieren« erzogen, d. h., unser Zusammenleben im Elternhaus, Kindergarten, in der Schule und im Freundeskreis wurde nach allen möglichen Regeln gestaltet, die (positiv formuliert) allen Beteiligten das Miteinanderauskommen erträglich machen sollten.
Fünf Menschen in einem Raum. Jeder von ihnen sagt und macht alles, was ihm gerade einfällt. Man redet gleichzeitig, malt sich Edding-Schnurrbärte an, tritt sich aus Spaß auf die Füße, schubst sich, schlägt aufeinander ein usw. – absurdes Theater. Und in der Schule, wo es in unserem System darauf ankommt, in einer bestimmten Zeit ein gewisses Lernpensum zu erarbeiten, wäre das kein Theater mehr, sondern unproduktives Chaos. Eltern und Erzieher sehen ihre Aufgabe meistens darin, den Nachwuchs auf das Leben, wie sie es kennen, vorzubereiten.
Und dann hört der Dreijährige vielleicht Folgendes: »Hübsches Bild hast du da gemalt, aber die Sonne ist gelb, nicht grün«, »Schön singst du, aber die Melodie musst du noch mal üben«, »Die linke Socke passt doch gar nicht zur rechten. Hast du keine passende?« usw. Und was lernt das Kind?
»Handle und denke nicht so, wie es dir einfällt, sondern so, wie es richtig ist!« – was auch immer dieses »richtig« bedeuten mag.
Genau diese Art Denkreflex unterdrückt oder bremst bei vielen von uns unsere gedankliche (und praktische!) Spielfreude, unsere Lust am Ausprobieren, unseren Entdeckergeist, unsere Kreativität. Die meisten von uns haben damit zu kämpfen. Manche mehr, manche weniger.
Stell dir Folgendes vor: Auf unseren Schultern sitzen kleine fiese Wesen, die Schultermännchen.
Sie kommentieren jeden unserer Gedanken, jede Idee, jeden Versansatz: »Das gibt’s schon«, »gähn«, »klappt nicht«, »nicht interessant genug«, »nicht treffend formuliert«, »lohnt sich nicht«, »wozu denn?«, »lass es«, »das können andere besser«, »du bist kein guter Songwriter« …
Und nur dann, wenn unsere (es eigentlich gut mit uns meinenden) Schultermännchen uns zuflüstern, dass eine Idee »passend« oder »gut« sei, trauen wir uns, diese Idee überhaupt offiziell zu denken, sie auszusprechen, sie gar aufzuschreiben, aus ihr etwas zu machen. Nur dann!
Was unsere Schultermännchen, diese hundsgemeinen Spaßbremsen, dummerweise nicht wissen:
Beim Songtexten, Songwriting, Erfinden und allen (!) Prozessen, bei denen es um das Entwickeln neuer Dinge geht, spielt es zunächst keine Rolle, ob etwas richtig oder falsch zu sein scheint. Es geht nur um eins: Bringe dein Gehirn auf Trab! Es soll arbeiten und Spaß daran haben.
→ Du darfst dich alles trauen und deine Gedanken so ernst und wichtig nehmen, dass es dir eine Freude ist, weiter mit ihnen zu spielen.
Und zwar egal, wie brillant, seltsam, abwegig oder angeblich doof deine Ideen sind!
Egal in welchem Stadium deine Textansätze sein mögen, schnippe das Schultermännchen bewusst weg. Verbiete ihm jeden negativen Kommentar.
– Genieße alles, wozu dich deine Ideen als Nächstes anregen.
– Sei gespannt, wohin sie dich noch führen werden.
• Hier kommt ein wenig Hilfestellung: Schau dir die folgenden Begriffe der Reihe nach an und notiere dabei weitere Mensch-Umschreibungen:
• Vater, Mutter, Nachbar, Mieter, Hausbesitzer, Arzt, Maler, Fußballer, Skater, Liebhaber, Freund, Schatz, Gegner, Hassobjekt …
→ Der Arbeitsprozess beim Kreativ-Sein ist das Entwickeln, NICHT das Erreichen.
Unser Job als Kreativer ist, aus unpassenden Dingen passende zu machen, aus nicht funktionierenden funktionierende. Wir wollen aus nichtssagenden, langweiligen, hässlichen Fragmenten eine aussagekräftige, interessante, schöne neue Form machen.
→ »Falsche Ideen« bringen ein mit Freude arbeitendes Gehirn dazu, »andere Ideen« anzubieten.
Wenn wir jedoch unser Gehirn schlecht behandeln oder ihm vorher schon sagen, was es zu denken hat, stellt es seine Arbeit beleidigt ein.
→ Aus Schlechtem wird Besseres, aus Besserem wird Gutes, aus Gutem wird Hervorragendes, aus nichts wird nichts!
• Schreibe nun zwei Minuten lang bewusst auch diejenigen Wörter für Mensch auf, die dir »negativ« erscheinen, schimpfe, sei unfreundlich, vulgär, obszön, sexistisch, arrogant, fies, politisch unkorrekt. Trau dich, du kannst den Zettel ja später verbrennen.
• Falls du das im ersten Teil der Übung schon gemacht haben solltest, schäme dich ein kleines bisschen, sei dann stolz auf dich und versuche, noch krasser zu...