Gedanken zu Harry Partch
Für den Pianisten Herbert Henck geschrieben, der damals gerade seinen privaten Verlag "Neuland" gegründet hatte und bis heute extrem an neuen Denkentwicklungen interessiert ist. November 1980, redigiert 2016
1979/80 studierte ich bei Ben Johnston, einem Freund des inzwischen verstorbenen amerikanischen Harmonikers Harry Partch, und lernte dessen Musik und Theorie intensiv kennen. Wer Partch's Musik hört, kann sich kaum dem eigentümlichen Reiz seiner Mikro-Harmonik entziehen. Wie sie aber zustande kommt, bleibt uns zunächst verborgen. Es gibt bisher keine Notenschrift für diese Musik und auch sonst kaum Brücken, die uns Partch näher bringen könnten. Partch selbst legte Wert auf den Abbruch der Brücken zu Europa. Vielleicht aber hat er (mit Absicht?) einige vergessen oder nicht gründlich genug abgetragen.
Ich werde in diesen knappen Anmerkungen zu Harry Partch versuchen, uns seine Musik in Noten erfahrbar zu machen. Dieses Unternehmen erscheint, wenn wir unsere traditionelle Notenschrift verwenden wollen, zunächst absurd angesichts der 43 Töne pro Oktave bei Partch. Da Partch aber bei näherem Hinsehen uns bekannte Akkorde zum Ausgangspunkt seiner Harmonik nahm, liegt nichts näher, als diese Akkorde auf eine uns bekannte Weise zu notieren. Allerdings werden wir zu berücksichtigen haben, dass Partch 1. nicht-temperierte Intervalle wollte, 2. seine Harmonik bis hin zum für uns exotischen Intervall 11/8 erweiterte (dem "Natur-Tritonus").
Nach meinem Vorschlag einer Partch-Notation werden wir die Frage aufwerfen können, wie groß tatsächlich der Abstand zwischen Partch's Harmonik und jener westlicher Prägung ist, ob hier ein wesensmäßiger Unterschied oder nur ein gradueller vorliegt.
Abschließend werden wir einige fragmentarische Gedanken anfügen zum Problem, wieweit das Ohr Partch folgen kann und wieweit Partch seine Harmonik mit seinen selbstgebauten Instrumenten zu realisieren vermochte.
Gewiss hat Partch uns Hindernisse aufgebaut auf dem Weg in sein privates Labyrinth. Andererseits bietet er Wege an in Form von zahlreichen Hinweisen auf europäisches musiktheoretisches Denken von den Griechen bis zu Arthur von Oettingen.
Harry Partch, der komponierende Hobo und bastelnde Philosoph, lebte von 1901 bis 1974. Die erste deutsche Aufführung eines seiner Werke mit selbstgebauten Instrumenten (The Bewitched) fand erst 1980 in Berlin statt. Was wollte Partch, der sein Leben lang als Erzhasser westeuropäischer Musikkultur auftrat und doch einen großen Teil seiner Ideen aus ihr ableitete?
Partch berichtet über sein Denken umfassend in seinem Buch "Genesis of a Music".13 Schon der Titel gibt einigen Aufschluss: Er lautet nicht etwa "Genesis of a New Music"; denn als neu sieht Partch die Prinzipien der reinen Stimmung und des "corporealism" nicht an. Partch's Corporealismus meint emotionale "Greifbarkeit" und lehnt die westliche "abstrakte" Musik ab; wir kommen darauf zurück.
Just how old this 'new' philosophy actually is has since been a continual revelation to me.14
Partch vermied es auch, die reine Stimmung, sein Markenzeichen, unter dem er in Amerika mittlerweile erstaunlich bekannt ist, im Buchtitel hervorzuheben.
Wir werden sehen, dass es ihm durchaus nicht nur um reine, einfache Intervalle ging. "Genesis of a Music" meint das Erfinden einer Musik (von vielen möglichen) im Gegensatz zum Erfinden im Rahmen einer bestehenden Musikkultur.
Mine is a procedure more of antithesis than of simple modification.15
The creative individual, in developing the man-made ingredients and in examining the God-given, finds the way to a special kind of truth.16
Als "gottgegeben" sieht Partch nur zweierlei: 1. die Fähigkeit eines Körpers zu vibrieren und dadurch Klang zu erzeugen, 2. den Mechanismus des menschlichen Ohres, diesen Klang zu registrieren. Alles andere: Skalen, Instrumente und die Theorie dahinter, sei vom Menschen gemacht und müsse immer neu hinterfragt werden. Keineswegs meint Partch, die reinen Intervalle seien gottgegeben, oder gar, seine reine Stimmung sei der Zwölftontemperierung (gegen die er vornehmlich kämpft) überlegen.
Music systems are made valid - and workable by significant music.17
Equal Temperament has proved "practicable" simply because the music written for its instruments is significant.18
Wir verstehen Partch falsch, wenn wir meinen, er denke nur in Akkorden mit einfachen Intervall-Proportionen. Er geht im Gegenteil mitunter von außerordentlich komplexen Verhältnissen aus, z.B. gleichzeitig erklingenden Tönen im Verhältnis 55/54 zueinander.19 Die weitaus größte Zahl der 340 in seinem System vorkommenden Intervalle ist ähnlich komplex. Partch bezeichnete sein System als ein "Spiel von relativer Konsonanz gegen relative Dissonanz".20 Hierin, und nicht im möglichen autistischen Geklingel reiner Intervalle, liegt der exotische Reiz von Partch's Kompositionen.
An diesem Punkt wird es nötig, in die Einzelheiten der Partch'schen Skala zu gehen und Fragen der klanglichen Realisierung anzuschneiden. Wir können hier keine ausführliche Darstellung des Systems und der Partch'schen Instrumente geben. Um aber die vielleicht zukunftweisenden Möglichkeiten aufzuzeigen und sie gleichzeitig vor gewissen Illusionen Partch's in Schutz zu nehmen, müssen wir wenigstens Umrisse andeuten.
Zunächst gilt es festzuhalten, dass Partch keine Musik schreiben wollte, deren Fremdartigkeit Selbstzweck ist. Partch's Skala aus 43 Tönen pro Oktave steht im Dienst der Idee Corporealismus. Seine Musik baue, so Partch, auf "vokalisierten Wörtern" auf, deren Zweck der Transport von Bedeutung sei.21 Sie habe Beziehung zu "einer Zeit und einem Ort, einem Hier und Jetzt".22 Sie suggeriere "wirkliche Identitäten, wirkliche menschliche Situationen".23 Partch bezieht sich hierbei auf alte Musikkulturen (er erwähnt die chinesische, altgriechische, arabische, indische), wo "überall Musik physisch verbunden war mit Dichtung oder Tanz". Partch's Diskussion z.B. der Florentiner Camerata als Reaktion gegen die "Wortverrenkungen der restriktiven liturgischen Polyphonie",24 oder des Gluck'schen Kampfes gegen Virtuosenmätzchen zeigt, dass er seine Idee des Corporealismus auf eine breite Basis zu stellen vermag. Auch Neueres, wie Mahlers Lied von der Erde und Schönbergs Pierrot lunaire sieht er einem corporealen Prinzip verpflichtet. Angesichts von Schönbergs sonstigem "Abstraktionismus" müsse der Pierrot aber eher als ein "schrulliges Abenteuer" angesehen werden.25
Partch erwähnt in diesem Zusammenhang auch amerikanische Pop-Musik, die "trotz mancher Unzulänglichkeiten nichts einem halbgebildeten und akademischen Europäismus" verdanke.26
From one standpoint the twentieth century is a fair historic duplicate of the eleventh. At that time the standard and approved ecclesiastical expression failed to satisfy an earthly this-time-and-this-place musical hunger; result: the troubadour...27
Partch selbst zog viele Jahre als fahrender Sänger durch die U.S.A. und begleitete sich dabei auf seiner "Adapted Viola", einer Viola mit Violoncellohals.
Diese knappen Anmerkungen zum Corporealismus Partch's mögen ein Hinweis darauf sein, dass wir nicht den ganzen Partch beschrieben haben, wenn wir uns seinem Tonsystem und seinen Instrumenten zuwenden.
Eine der größten Schwierigkeiten, Partch's System zu verstehen, liegt darin, dass wir nicht an seine proportionale Denkweise und an die teilweise in seinen Werken praktizierte proportionale Schrift gewöhnt sind. Eine Akkordfortschreitung notiert er z.B. so:
Partch denkt in harmonischen Proportionen, nicht in uns geläufigen Notennamen. So heißt der Grundton seines Systems nicht G (392 Hertz), sondern "1/1", "Prime Unity". Ganz wesentlich ist, dass Partch das direkte Hören reiner Intervalle will, nicht ein korrumpiertes Hören, das für echt hält, was verstimmt ist (wie in der Zwölftontemperierung).
Falsch wäre es anzunehmen, Partch's System beruhe auf der Darstellung von Naturtonreihen, auch wenn er deren Proportionen bis zur Zahl 11 verwendet. Partch meint, das Ohr sei von Partialtönen als solchen unbeeindruckt, es nehme aber Intervalle mit harmonischen Proportionen als etwas Besonderes wahr.28
Um Partch in Notenschrift zu transkribieren (ihn uns damit vorstellbar und erfassbar zu machen), müssten wir uns auf ein spezielles Zeichensystem einigen, das reine Quinten 3/2, Terzen 5/4 und 6/5, Septen 7/4 und Tritoni 11/8 darstellen kann. Partch hat darauf sein Leben lang verzichtet. Sofern er nicht Proportionen notiert, verwendet er tabulaturähnliche Schriften oder, wie bei seinem umgestimmten Harmonium, herkömmliche Notation ohne Kongruenz zum klanglichen Resultat.
Skizzieren wir eine mögliche Umschrift, aus der die gemeinten Tonhöhen zu ersehen sind:
- Angenommen sei eine pythagoräische Quintenfolge (nur reine Quinten enthaltend): ...B - F - C - G - D - A - E... Im Gegensatz zum temperierten System würden hier z.B. C und His um das pythagoräische Komma von 23.5...