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E-Book

Mein Boss, der Zauberer

Thomas Manns Sekretär erzählt

AutorKonrad Kellen
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783644014312
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Konrad Kellen, Sohn des Fabrikanten Ludwig Katzenellenbogen, ging Anfang 1933 in die Emigration. Nach Aufenthalten in Frankreich, Jugoslawien und Holland wanderte er im Herbst 1935 nach New York aus, wo er sich mit kleinen Jobs durchschlug. 1940 übersiedelte er nach Los Angeles. Von 1941 bis 1943 war er dort der persönliche Sekretär von Thomas Mann in Pacific Palisades. Er tippte dessen Briefe, Reden und Manuskripte, darunter den Roman «Joseph der Ernährer», und wurde einer der engsten Vertrauten des Schriftstellers. Seine Aufzeichnungen spiegeln ein abenteuerliches Emigrantenleben, mit vielen unfreiwilligen Brüchen und Neuanfängen. Im Mittelpunkt stehen die Erinnerungen an Thomas Mann: eine einzigartige Nahaufnahme des «Zauberers», geschrieben aus der täglichen Nähe der gemeinsamen Arbeit. Ergänzt wird Kellens Autobiographie durch Texte, in denen die Herausgeber Kellens Lebensweg sowie seine Familiengeschichte schildern und über die Entstehung des Buches berichten.

Konrad Kellen, geboren 1913 in Berlin, gestorben 2007 in Los Angeles. Er stammte aus einer jüdischen Familie und musste 1933 aus Deutschland emigrieren. 1943 wurde er Soldat der US Army und kehrte mit ihr nach Europa zurück. Nach dem Krieg lebte er zunächst in New York, dann in Kalifornien.

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Leseprobe

Herkunft


Noch unter Kaiser Wilhelm II. wurde ich am 14. Dezember 1913 in Berlin geboren. Meine Eltern waren jüdischer Herkunft, aber zum Christentum übergetreten. Und so wurde ich in der protestantischen Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche getauft und mit 14 Jahren eingesegnet. Ich lebte mit meinen Eltern teils in unserem prächtigen Haus in der Bendlerstraße Nummer 40 am Berliner Tiergarten, teils auf unserem Rittergut mit dem schönen Namen Freienhagen nördlich von Oranienburg, zu welchem ein Dorf gleichen Namens gehörte.

Das Rittergut Freienhagen lag etwa eine Autostunde von Berlin entfernt. Meine Eltern hatten es 1913 gekauft. Es kam mir riesengroß vor mit seinen Wäldern, Feldern, Wiesen, Treibhäusern, Stallungen und Taubenschlägen. (Aber als ich es nach 1990 ein einziges Mal wiedersah, kam es mir sehr geschrumpft vor. Oder war die Welt kleiner geworden?) Jedenfalls war es so groß, dass wir mehrere Bedienstete brauchten.

Herr Pelz war der Imker, doch er kümmerte sich auch um die Hühner. Herr Tuberke fütterte die Tauben. Auf den Wiesen standen unsere Kälber. Wir aßen unser eigenes Kalbfleisch, von dem Schlachter Stöpel besorgt, und es schmeckte köstlich. Des Abends half ich, unsere Kühe von der Weide in den Hof zu treiben. Zur Erntezeit kamen junge Mädchen und Männer aus dem fernen, geheimnisvollen Polen und arbeiteten für uns «im Akkord», wie es hieß. In Freienhagen besaßen wir auch riesige Tulpenfelder, von denen wir hin und wieder Blumen an Händler in Berlin verkauften.

Nach Ansicht meiner Mutter aß ich zu wenig und wurde von ihr wiederholt gerügt. Ich war ein großes und schmächtiges Kind, aber ich war nicht unsportlich. Ich konnte sogar reiten und besaß mein eigenes Pferd, einen Apfelschimmel namens Puppe. Im Winter kam das Pferd nach Berlin und wurde im Tattersall untergebracht, bei uns in der Bendlerstraße. Wir besaßen auch zwei Lipizzaner, die vormals zum kaiserlichen Marstall gehörten. Vor dem Pferdestall am Eingang des Gutes wachte ein riesiger Löwe aus Bronze, gegossen vom berühmten Bildhauer August Gaul. Ein Löwe von Gaul, direkt bei den Rössern … Nach dem Krieg war dieses bronzene Raubtier verschwunden. Der Künstler Gaul wurde übrigens vom Galeristen Paul Cassirer vertreten, für den mein Vater zum Schicksal wurde, weil er sich in dessen Frau Tilla Durieux verliebte.

Der Kutscher auf unserem Gut hieß Reinhold und lebte mit einer Frau Heim in «wilder Ehe». Er brachte mir das Reiten bei und sogar das Überspringen von Hindernissen. Gemeinsam streiften wir zu Pferd durch die umliegenden Wälder. Bald konnte ich eine vierspännige Kutsche lenken oder einen Pferdeschlitten. Reinhold vertrat in allen Lagen den Grundsatz: Niemals umkehren. Daran habe ich mich stets gehalten, insbesondere nach 1933.

Zudem war ich gut Freund mit unserem Hausmeister Oertel, der neben vielen anderen wichtigen Aufgaben auch die Aufsicht über unseren Weinkeller hatte. Mit unserem Förster ging ich zuweilen, wenn es meine gestrenge Mutter erlaubte, an lauen Abenden auf die Wildschweinjagd, was mir weniger gut bekam, denn es war kalt in der Morgenfrühe. Die aufsteigenden Nebel wirkten bedrückend auf meine schon damals melancholische Natur; zudem sah man nur selten ein Wildschwein und erledigte noch seltener eins.

Ich wurde kein passionierter Jäger, anders als die Söhne der meisten deutschen Gutsbesitzer. Das Töten von Tieren bereitete mir Unbehagen. Vom Direktor des Gymnasiums in Berlin, der ein Bekannter meines Vaters war und mir privat Latein-Nachhilfe gab, wurde ich gefragt, ob ich schon meinen ersten Rehbock geschossen hätte. Ich verneinte und fügte hinzu, dass ich wenig Lust hätte, einem unschuldigen Tier von weitem eins auf den schönen Pelz zu brennen, sie täten mir leid. Da sprang der kleine, rundliche Kerl aus seinem Sessel hoch, schlug entsetzt die fetten Hände zusammen und rief: «Was! Du! Ein deutscher Mann!» Ich war da übrigens gerade zehn.

Drei Chauffeure arbeiteten für meine Eltern; der ranghöchste von ihnen hieß Max Lehmann, mit dessen Sohn, ebenfalls Max geheißen – ein blonder, blauäugiger Junge – ich mich gut verstand. Er tat sich nicht dicke, sondern war freundschaftlich und gefällig zu mir, obwohl ich ihm körperlich unterlegen war. Viel später ging der starke, aber sanfte und gutwillige Maxe zu den Fliegern und ist im großen Hitlerkrieg gegen die Welt für immer und ewig im russischen Eis verschollen. Wie gern würde ich noch einmal mit Maxe durch unsere Wälder streifen, Pfifferlinge und Steinpilze sammeln und Erlebnisse austauschen …

Vater Lehmann ließ mich sogar auf Waldwegen unseren Mercedes fahren, da war ich 13, aber schon groß genug, um über das Lenkrad hinausschauen zu können. Dergleichen hätte meine Mutter nie gestattet. Ihre etwas herrische Attitüde, ihre Art, jeden zu gängeln und alles zu verbieten, mag sie von ihrer eigenen Mutter geerbt haben, Frau Geheimrat Elise Marcuse. Auch an sexuelle Aufklärung durch sie war nicht zu denken. Das übernahmen wohlwollende Hausangestellte, mehr durch Taten als durch Worte.

 

Mein Vater Ludwig Katzenellenbogen stammte aus Krotoschin, einer Stadt bei Posen. Er war kurzbeinig, wirkte etwas gedrungen, hatte aber ein großes, offenes Gesicht und eine breite Stirn. Sein eigener Vater besaß eine Schnapsfabrik. Ludwig wollte gerne Jura studieren, musste aber in die väterliche Firma eintreten. In dieser Branche war er sehr erfolgreich. Bald zog er nach Berlin, wo er seine Frau kennenlernte, die Arzttochter Estella Marcuse. Er wurde Generaldirektor verschiedener Firmen, so auch der Brauerei Schultheiß-Patzenhofer. 1925 konnte ein Haus in der Bendlerstraße gekauft werden. In derselben Straße lag das Reichswehrministerium, an dem ich als Kind an der Hand meiner Gouvernante vorbeispazierte und die Ehrenwache bewunderte.

Unsere Villa war fürstlich eingerichtet, die Wände waren mit Seidenstoffen aus Frankreich in verschiedenen Farben verkleidet. Es hingen dort Gemälde von Monet, Manet, van Gogh, Cézanne und Menzel; es gab sogar eine Madonna von Rubens. Max Liebermann hat schöne Porträts von meinem Vater und von meiner Mutter gemalt. Antike Möbel oder neue Möbel aus feinen Hölzern zierten die Räume, dazu Porzellan aus China oder Meißen. Meine Mutter war eine große Sammlerin mit gutem Geschmack. Sie liebte ihre Kunstobjekte mehr als ihre Kinder, von denen ich das älteste war. Nach mir kamen zwei Schwestern, Leonie im Jahr 1918 und Estella im Jahr 1921. Dass sie einmal Galeristin in Los Angeles werden sollte, hat meine Mutter sicher nicht geahnt.

Zum Luxus des Hauses gehörten ein Wintergarten mit Marmor und seltenen Pflanzen, außerdem mehrere komfortable Badezimmer mit Handtuchwärmern. Die Küche lag unter dem Dach, damit die Gerüche oben blieben. Nur das Schwimmbad im Keller wurde nie zu Ende gebaut. Denn während das Familienpalais entstand, zerbrach die Familie.

Weshalb mir meine Mutter den Vornamen Konrad gab, der bis dahin in der Familie nicht üblich war, weiß ich nicht. In meiner Kinderzeit führte der Name zu Hänseleien, denn kaum jemand konnte widerstehen, die bekannten Verse aus dem «Struwwelpeter» zu zitieren: «Konrad, sprach die Frau Mama, ich geh aus und du bleibst da …» Es ist deshalb sogar zu Prügeleien gekommen.

Eingeschult wurde ich 1920 in der Privatschule von Fräulein Lenze. Sie befand sich in der Keithstraße, in einer Wohnung in der vierten Etage. Zur Schule begleitete mich jeden Morgen unsere Gouvernante Agnes Kühn, die mich auch abholte. Das war ein weiterer Grund für die Mitschüler, mich zu hänseln. Später schickte man mich auf das Mommsengymnasium, an dem es mit unserem Turnlehrer Hartmann einen ausgemachten Frühnazi gab. Wurde ich bis dahin wegen meines Vornamens gehänselt, so nun wegen meines Nachnamens. Die Namen waren mein Stigma, was eine gewisse Vereinsamung bewirkte. Das änderte sich erst, als ich auf das Französische Gymnasium geschickt wurde.

In meiner Familie waren alle christlich getauft; eine Synagoge habe ich nie betreten. Außerdem haben wir jedes Jahr Weihnachten gefeiert. Aber das war den Nazis gleichgültig. Mir war schon als Knabe der Irrsinn des Nazismus von Anfang an klar, obgleich ich das noch nicht in Worte kleiden konnte. Da war zunächst einmal der Judenhass. Das war es aber keineswegs allein. Es gab einen wilden, leidenschaftlichen, frei schwebenden, frei schwelenden Hass in der deutschen Welt. Dieser Hass einte unter Hitler die verschiedensten Elemente des Volkes.

Der Hass war die nie versiegende Quelle der Begeisterung des deutschen intellektuellen Lumpenproletariats, dem auch die gesamte Oberschicht angehörte. Mit Politik hatte die Nazischande überhaupt nichts zu tun! Wer die Nazis nicht von Anfang an verabscheute, war ein Unmensch, und basta! Ein Nazi zu sein war kein Denkfehler, sondern ein Charakterdefekt. Andererseits vertrauten viele Gefährdete auf den deutschen Rechtsstaat, und nur wenige hielten die Deutschen für ein Volk, das zu allem fähig ist.

 

Sehr früh lernte ich sogenannte Prominente kennen: Albert Einstein, die junge Marlene Dietrich, Tilla Durieux und auch den Boxer Max Schmeling. 1938 sah ich in New York seinen Kampf gegen Joe Louis, der 90 Sekunden dauerte. Ich glaube nicht, dass Schmeling ein Nazi war, auch wenn er sich von ihnen benutzen ließ. Der Bildhauer Professor Friedrich kam oft zu Besuch, er wurde von meiner Mutter gefördert.

Zu den Freunden des Hauses gehörte der Rennfahrer Rudolf Caracciola. Er galt als rasanter Starter mit kühlen Nerven, Geduld und...

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