Ein Kap auf der Weltkarte
»Water and meditation are wedded for ever.«
Herman Melville, Moby-Dick (1851)
Das einzige Buch, das mein Vater mir je in die Hand drückte, war Moby-Dick. Er fuhr als Kapitän auf dem Kutter SAS Narwal des Fischkombinats Sassnitz auf Rügen zum Fischen in die Nord- und Ostsee und manchmal auch bis in den Nordatlantik auf die Georges Bank, wo er seinen ersten Wal gesehen hatte. Ich muss zehn oder zwölf Jahre alt gewesen sein, als er mir das Buch gab mit der Bemerkung: »Damit du schon mal weißt, was auf See los ist.« Für ihn war es eine ausgemachte Sache, dass ich später zur See fahren würde.
Bei dem Buch handelte es sich um eine gekürzte Ausgabe in schwermütiger Übersetzung und voll düsterer Lithografien. Ich las die Geschichte von Ahabs Jagd auf den weißen Wal nachts beim Schein meiner Taschenlampe unter der Bettdecke, wie in einer engen Koje im dunklen Vorschiff, über mir Sterne und Gischt und in der Tiefe Herden ziehender Wale. Draußen heulte der Sturm und sang in unserem Schornstein. Wenn nachts der Regen vom Meer gegen mein Fenster schlug, kam ich mir vor wie einer aus der Mannschaft der Pequod, die sich durch Orkane und Gewitter hindurch dem Pazifik entgegenkämpfte. Es waren unvergessliche Nächte, und nachdem Moby Dick den Walfänger gerammt hatte und das Schiff samt seiner Besatzung in der Tiefe versunken war, wollte ich unbedingt wissen, wo diese Orte Nantucket und Cape Cod eigentlich lagen, von denen im Buch so oft die Rede war. Ich schlug in meinem Schulatlas nach und fand unterhalb von Boston eine kleine Landspitze, die den Namen Cape Cod trug. Sie schien mir nicht weniger fern und exotisch als Samoa oder die Osterinsel.
Ein paar Jahre später schenkte mir meine Mutter zum Geburtstag Coopers Letzten Mohikaner, und so führte es mich ein weiteres Mal nach Neuengland, wenn auch diesmal weiter landeinwärts, in die Wälder zwischen Hudson und Lake Champlain. Auch Coopers Bücher erwiesen sich als Glücksfall, erfuhr ich in ihnen doch mehr über die Geschichte der Indianer Nordamerikas als bei Karl May, der zu dieser Zeit in der DDR ohnehin noch verpönt war. Erneut half mir auch mein Schulatlas weiter, in dem ich all die magischen Orte und Flüsse mit so klangvollen Namen wie Canajoharie, Oneonta und Susquehanna fand. Dass Cooper keineswegs nur Indianerbücher, sondern auch Seeromane geschrieben und eine Zeit lang selbst ein Walfangschiff besessen hatte, ahnte ich damals noch nicht. Immerhin wusste ich nun jedoch etwas mehr über die Herkunft des indianischen Harpuniers Tashtego aus Moby-Dick und begann, alles von Cooper und Melville zu lesen, was in der Bibliothek des Sassnitzer Seemannsheims zu finden war. Die Zukunftsvisionen meines Vaters erschienen mir mit einem Mal erstaunlich verlockend: Als Seemann hätte ich tatsächlich die Chance, eines Tages mit eigenen Augen die amerikanische Ostküste zu sehen. Weitere dreizehn Jahre später, lange nachdem ich von Bord der SAS Vikingbank abgemustert hatte, ohne je den Nordatlantik befahren zu haben, packte ich erneut Melvilles Moby-Dick und Coopers Conanchet in meine Reisetasche und konnte kaum glauben, dass mein Traum nun doch noch wahr werden sollte. Ich war von Professorin Ute Brandes eingeladen worden, ein Semester als Copeland Fellow am Amherst College in Massachusetts zu verbringen. Dort sollte ich, bis auf einige Vorträge über das deutsche Theater der Gegenwart, keinerlei Verpflichtungen haben – außer natürlich zu schreiben. Persönlich wollte ich vor allem endlich Melville im Original lesen und all die Orte besuchen, über die ich in Moby-Dick und Israel Potter gelesen hatte. Während meiner Zeit als Regieassistent hatte ich auch Coopers Lotsen und seine Littlepage-Trilogie studiert. So war mein Wissen über die Nachkommen jener Pilger gewachsen, die im November 1620 auf Cape Cod zum ersten Mal nordamerikanischen Boden betraten.
Nach meiner Fahrenszeit hatte ich auf Umwegen beim Berliner Ensemble am Schiffbauerdamm angeheuert und durfte in der Bibliothek des Theaterverbands, der legendären »Möwe«, auch Westliteratur ausleihen. So hatte ich die Stücke von Eugene O’Neill und Arthur Miller kennengelernt, die Romane von John Dos Passos und Norman Mailer und auch die Gedichte von Edna St. Vincent Millay und W. H. Auden. Ich fand einen Band mit Bildern von Edward Hopper, sogar eine kurze Geschichte der Vereinigten Staaten. Und immer wieder tauchte in all diesen Büchern der Name jenes Kaps auf, das mir seit Moby-Dick so vertraut war.
Im Frühjahr 1993 wollte ich über Melvilles berühmten Roman und seine Hintergründe schreiben, auch weil ich einen Vortrag über die Situation der Theater in Ostdeutschland halten sollte und dafür einen kühnen Zusammenhang zwischen der Jagd Ahabs auf den weißen Wal und dem Untergang der DDR herzustellen versuchte. Wie sich herausstellte, hätte ich dafür keinen besseren Ort finden können als die Bibliothek des Amherst College.
Nachdem die bitterkalten Wintermonate vorüber waren, in denen ich mich jeden Morgen durch Schnee und Eis zu meinem kleinen Büro in der Robert Frost Library durchgekämpft hatte, saß ich vor Stapeln von Notizen und Kopien, ein fertiger Aufsatz in weiter Ferne. Dann kam Ostern, und ich verliebte mich, ganz gegen die Regularien und meinen persönlichen Arbeitsplan, in eine junge Professorin vom nahe gelegenen Mount Holyoke College.
Wir waren uns zum ersten Mal 1989 bei einer Konferenz in Kentucky begegnet und hatten damals nur ein paar Worte gewechselt. Später war sie auf der Party erschienen, die meine Gastgeberin vom German Department anlässlich meiner Ankunft gab. Sie trug eine lederne Pilotenkappe, mit der sie aussah wie Tamara de Lempicka auf ihrem Selbstbildnis im grünen Bugatti. Wir unterhielten uns den ganzen Abend lang über Brecht, Walter Benjamin und Heiner Müller, und ich versuchte, sie mit weit hergeholten Zitaten und steilen Thesen zu beeindrucken. Am Wochenende fuhren wir gemeinsam auf den Mount Holyoke, dessen grandiose Aussicht auf das Connecticut Valley Thomas Cole in seinem Gemälde The Oxbow von 1836 festgehalten hat. Von hier aus kann man an klaren Tagen bis zum Mount Greylock blicken, dem höchsten Berg von Massachusetts. Den Greylock sah auch Herman Melville von seinem Arbeitszimmer auf der Farm »Arrowhead« in den Berkshires, während er im Winter 1850 an Moby-Dick schrieb. Er nannte den schneebedeckten Berg »seinen weißen Wal«, und tatsächlich erinnert dessen Silhouette an einen Pottwal. Auf unserem Ausflug erfuhr ich, dass auch Karen am Meer aufgewachsen war, auf Long Island, direkt am Atlantik. Man sagt, dass Insulaner auf der ganzen Welt sich schnell verstehen. So saßen wir am Abend in ihrer Wohnung in South Hadley, und ich erzählte ihr von meiner amerikanischen Kindheitslektüre.
»Moby-Dick haben wir in der High School gelesen«, sagte Karen. »Wir hatten einen Englischlehrer, der aussah wie Hemingway. Mr. Vickery war ein großer Bewunderer von Melville. Zum Abschied haben wir gesammelt und ihm eine Harpüne geschenkt. Es heißt doch Harpüne, oder?«
»Harpune«, berichtigte ich.
»Oh well«, seufzte sie. »Mein Problem sind die Ümläute. Hast du schon mal einen Wal gesehen?«
»Nein«, gestand ich. »Im Sommer 1989 hatte sich ein Buckelwal in die Ostsee vor Rügen verirrt, aber den habe ich verpasst. Und du?«
Sie schüttelte den Kopf. Am nächsten Morgen beschlossen wir, zum Spring Break nach Cape Cod zu fahren.
Die Frühlingsferien fielen auf Mitte Mai, und so hatten wir Zeit, uns bei Freunden nach einer passenden Unterkunft zu erkundigen. Jemand hatte gehört, dass die schönsten Cottages auf dem Cape auf Corn Hill in Truro stehen sollten. Karen fand das Maklerbüro, das diese Hütten vermietete. Neben dem Vertrag schickte der Makler auch eine Karte, und tatsächlich schienen die Hütten direkt über dem Atlantik zu stehen. Als ich einem Kollegen am College von unseren Reiseplänen erzählte, überlegte er einen Moment und sagte dann: »Corn Hill – ich glaube, da gibt es ein Gemälde von Hopper.« Er holte einen Band aus den Regalen der Kunstbibliothek und fand darin das Bild, das sieben Strandhütten auf einem Dünenhügel in einem Licht wie aus Goldstaub zeigte. Wenn es dort in Wirklichkeit nur halb so idyllisch war, dachte ich, musste der Ort ein Stück vom Gelobten Land sein, wie ich es auf den Bildern von Edward Hicks im Kunstmuseum von Amherst gesehen hatte. Doch selbst wenn er inzwischen zugebaut und zersiedelt sein sollte, wäre es immer noch Frühling auf Cape Cod. Es würde das Meer und die Wale geben – und uns.
Karen packte drei Kartons mit Büchern in ihr Auto, um »ein bisschen zu arbeiten«. Ich nahm Moby-Dick und Cape Cod von Henry C. Kittredge mit, ein historisches Werk, das ich in Lord Jeffrey’s Bookstore in Amherst gefunden hatte. Wir fuhren auf dem Massachusetts Turnpike in Richtung Boston bis zu einer Abfahrt, die...