Capri eins und zwei
Für uns vier Geschwister war während der Kindheit Westerland auf Sylt unser Wohnort und Deutschland unsere Heimat. Wir sprachen von klein auf mit unserer Mutter italienisch und verlebten zweimal im Jahr mehrere Wochen bei unseren capresischen Verwandten, aber »Zuhause« bedeutete damals für uns die nordische Insel, und das änderte sich auch nach dem frühen Tod unseres Vaters nicht, der siebenunddreißigjährig 1934 starb. Nie hätte unsere Mutter seinen Bestimmungen zuwidergehandelt, deshalb blieb Capri weiterhin Ferienziel und eine Ausnahme, und Westerland war Alltag, unser normaler Lebensbereich mit seinen Regeln und Pflichten, vor allem der Schule.
Um für unseren Unterhalt zu sorgen, hatte unsere verwitwete Mutter die kleine, von unserem Großvater gegründete Friesenkeksfabrik übernommen, und durch diese Arbeit konnte sie in ausreichendem Maße für uns sorgen. Da brach der Krieg aus, für die Herstellung von Friesenkeks bekam man keine Zutaten mehr, die Produktion musste eingestellt werden, und der Bäcker, die Packerinnen und das Ladenfräulein wurden zum Kriegsdienst einberufen. Ohne Einkommen war uns auf Sylt die Lebensgrundlage entzogen, und unsere Mutter beschloss, vorläufig mit uns Kindern nach Capri in die Pension Weber zu ihrer Schwester zu ziehen, um das Ende des Krieges abzuwarten, das sie als baldig voraussah.
Wie bekannt dauerte der Krieg sechs Jahre. Während dieser Zeit rückte Westerland, besonders für meine jüngeren Geschwister, in nebulöse Ferne ab, und als endlich der Friede kam, gab es dort oben im Norden nichts mehr, zu dem wir hätten zurückkehren können. Inzwischen, fast unmerklich, war Capri unser »Zuhause« geworden.
In meinem Bewusstsein gibt es zwei Capri. In das eine bin ich hineingeboren; das andere ist, wenn man so sagen kann, das Resultat meiner eigenen Entschlüsse, Neigungen, Instinkte, Begegnungen.
Capri eins wurde mir in die Wiege gelegt, denn unsere Mutter, die auch in den Jahren ihrer Ehe in Deutschland eine sehr enge Bindung zu ihrer italienischen Heimat behalten hatte, bezog uns Kinder in alles ein, was ihr die Insel bedeutete.
Am Anfang des Lebens ist man aufnahmebereit und wissbegierig, unbelastet von Vorurteilen, und die Eindrücke, die man in der Kindheit sammelt, sind so wesentlich, weil sie zu einem Bestandteil der eigenen Persönlichkeit werden. Auf Capri lernten wir Geschwister die Welt kennen, die schon das Wesen unserer Mutter geprägt hatte. Dazu gehörte die weitverzweigte capresische Verwandtschaft, mit der uns die für Katholiken unerlässlichen Riten von den Taufen bis zu den Beerdigungen verbanden. Zu jedem Anlass des Familienlebens und der Kalenderfeiern waren besondere Gerichte, Süßigkeiten und Getränke vorgeschrieben – keine Hochzeit ohne timballo di maccheroni, unweigerlich capitone zu Heiligabend und zu allen Gelegenheiten die confetti genannten Zuckermandeln.
Auch die Besuche mit unserer Mutter bei den über ganz Capri verstreut wohnenden Angehörigen folgten Bräuchen und Konventionen und prägten sich uns Kindern mit eigenen Gerüchen, Düften, scharfen Aromen und der ganzen Skala der Geschmacksempfindungen ein – von der leckeren pastiera, einem saftigen Osterkuchen aus Weizenkeimlingen, zu den unerträglich klebrig-süßen struffoli, den frittierten Teigkugeln, die man in der Region um Neapel zu Weihnachten isst.
Selbst wenn es Gewohnheiten gab, die wir Kinder weniger mochten, wie die Küsse auf beide Wangen bei Begegnung und Abschied der immer zahlreichen Anwesenden oder dass man bei Einladungen zu Mahlzeiten, ohne gefragt zu werden, eine weitere Portion aufgetischt bekam, so hatten auch diese ihren Reiz, denn wir fühlten ja, dass Küsse und Vollstopferei Liebesbeweise waren.
Am meisten lag unserer zutiefst gläubigen Mutter am Herzen, dass wir die Kirchenfeiern miterlebten, und in dieser Hinsicht boten die katholischen Religionszeremonien, die in Süditalien das ganze Jahr hindurch inszeniert werden, eine Folge von festlichen Höhepunkten. Wir vier hatten nicht die mütterliche Veranlagung zur Mystik und Transzendenz geerbt. Der allmächtige Herrgott, an den man laut Katechismus glauben sollte, war uns zu abstrakt. Besser vorstellbar fanden wir seinen Sohn und die Heiligen, und die Capresen dachten wohl auch so, denn Gottvater spielte weiter keine Rolle in der Vielfalt der religiösen Feste, die wunderbar theatralischen Vorführungen glichen und an denen wir begeistert teilnahmen.
Die Osterwoche war eine einzige Sequenz von Ritualen. Um nur ein paar zu nennen: die Segnung der mit Konfekt verzierten Palmenzweige zu Palmsonntag; le sette chiese, der Besuch von sieben Kirchen zu einem kurzen Gebet vor den in der Trauerzeit mit violetten Tüchern verhüllten Kreuzen; am Gründonnerstag die Fußwaschung von zwölf Männern aus dem Altersheim vonseiten des Bischofs; in der Karfreitagnacht die dramatische und von dumpfer Trauermusik untermalte Prozession, bei der eine aufgebahrte, sehr realistische Christusfigur durch die Straßen getragen wurde; am Ostersonntag dann Hochamt, Orgelmusik, Weihrauchwolken und Hosianna. Leider gehörte es damals auch zur Zeremonie, kleine Vögel aus den Hosentaschen zu ziehen, die, freigegeben, als Symbol für die Auferstehung Jesu – der das sicher verabscheut hätte – erschrocken zur Kuppel aufflatterten und sich an den bunten Fensterscheiben die Köpfe einschlugen.
Jede Prozession hatte ihre Eigenheiten: Die Silberbüste des capresischen Schutzpatrons San Costanzo wurde über einen Teppich von kunstvoll zu Mustern ausgelegten Blütenblättern durch die Straßen getragen; die Festa della Libera an der Marina Grande zu Ehren der Madonna, von der man ertragreichen Fischfang für das kommende Jahr erbat, begleitete ein ohrenbetäubendes Feuerwerk – und das merkwürdigerweise bei Tag und praller Sonne, wenn der Lichteffekt gänzlich verloren ging und nur die Knallerei blieb. Unter den Bruderschaften, die in den Umzügen mitgingen, erkannten wir auch unsere capresischen Verwandten, männliche wie weibliche. Je nach Bruderschaft mit schwarzer Kapuze, im Mönchsgewand, mit blauem Schleier, als Pilger oder sonst wie kostümiert, trugen sie alle eine brennende Kerze vor sich her. Wir winkten ihnen vom Wegrand zu, aber sie waren ganz in ihre Rolle versunken und ließen sich nicht ablenken.
Die Beziehungen zur capresischen Verwandtschaft sowie die nach den auf der Insel gültigen Bräuchen begangenen katholischen Gedenktage und Zeremonien bestimmten die traditionelle, ihrem Geburtsort verhaftete Seite unserer Mutter. Komplementär dazu und genauso prägend für ihren Charakter existierte die andere, nämlich ihre sehr freie, völlig vorurteilslose und originelle Lebensauffassung, die man bei einem Vater wie August Weber wohl erwarten musste.
Er hatte den Inbegriff eines Aussteigers abgegeben – zu seiner Zeit (1846–1928) fehlte die entsprechende Benennung noch, nicht jedoch der Menschentyp – und war dem gutbürgerlichen Elternhaus in München, einer Karriere, den gesellschaftlichen Zwängen und allem, was ihm dort sonst noch die Luft abschnitt, entflohen, um sich auf Capri neu zu erfinden. Wir Enkelkinder haben ihn nicht mehr erlebt und sind trotzdem unter seiner Obhut aufgewacsen, in seinem Geist und in dem einzigartigen, unmöglichen Haus, das er an der abgelegenen, damals nur auf einem schmalen Pfad erreichbaren Marina Piccola nach und nach errichtet hatte.
Als das frisch erbaute Haus eben aus den ersten drei Räumen bestand, tauchte eines Tages eine junge amerikanische Malerin auf und verlangte, ein Zimmer zu mieten. Das sollte sie dann fünfunddreißig Jahre lang bewohnen, bis zu ihrem Tod, und August Weber schrieb in seinen Erinnerungen: »… so eröffnete ich mit einem einzigen Gast und einem einzigen Zimmer die Strandpension.«
Aus diesem Anfang entstand so planlos und schicksalsgesteuert, wie beinahe alles in seinem Leben geschah, eine Künstlerherberge, die dem Wesen und den Vorstellungen ihres Besitzers entsprach, denn tatsächlich verirrten sich, magisch angezogen, immer die passenden Kunden zu ihm, Menschen, die musisch begabt, ausgefallen und interessant waren wie er. Auch nach seinem Tod blieb in der Pension die Aura seiner eigenartigen Persönlichkeit erhalten, eine astrale Präsenz, mit der wir Geschwister schon in der frühen Kindheit vertraut waren und umso mehr dann, als bei Kriegsausbruch Capri unsere Heimat wurde. Wir hatten das Glück, in der von ihm stammenden besonderen Atmosphäre des Hauses aufzuwachsen, zu der einige der ungewöhnlichen Gäste ihren Teil beitrugen, und die Erinnerungen an die Umwelt jener Jahre begleiteten uns, nachdem wir selbst längst »aus dem Haus« waren.
So weit Capri eins.
Capri zwei begann für mich mit dem Ende des Krieges im Juni 1945, als die Mutter und wir Geschwister nach zweijähriger Abwesenheit aus Tirol zurückkehren konnten, wohin wir von Capri geflüchtet waren, um 1943 nicht als »feindliche Ausländer« in einem...