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'Mein Herz ist offen für jede Form'

Eine Reise in die Mystik der Sufis und Derwische

AutorGerhard Schweizer
VerlagVerlag Herder GmbH
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl160 Seiten
ISBN9783451800856
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis4,99 EUR
Gerhard Schweizer lernte die geistige Welt der Sufis und Derwische auf vielen Reisen, aber auch in Begegnungen in Europa kennen. Er erläutert Hauptströmungen des Sufismus und verknüpft hierbei Sachinformation mit seinen persönlichen Eindrücken und Begegnungen. So entsteht eine sehr gut lesbare und informative Einführung in die Kultur und Religiosität von Sufis und Derwischen in Geschichte und Gegenwart. Die Aktualität der islamischen Mystik in pluralen Gesellschaften bildet den roten Faden. Sufis und Derwische versuchen nicht nur Fehlentwicklungen des Islam zu überwinden, sondern gehen mit ihrer mystischen Erfahrung über die dogmatischen Grenzen aller Religionen hinaus und schaffen so neue Voraussetzungen für einen Dialog der Religionen.

Gerhard Schweizer, geb. 1940, Kulturwissenschaftler, freier Schriftsteller in Wien, ist ein Experte für die Analyse der religiös-politischen Konflikte zwischen Orient und Okzident sowie ein ausgewiesener Kenner der islamischen Welt.

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Leseprobe

»Ich bin weder Christ noch Jude noch Muslim«
Celaleddin Rumi und die Herausforderung für alle Religionen


Meine erste Annäherung


»Das Göttliche wirkt in jeder Religion«
Begegnungen mit Rumi im islamischen Alltag


An vielen Hausmauern anatolischer Städte entdeckte ich immer wieder Plakate, auf denen ein weißbärtiger Mann mit Turban und Kaftan in meditativer Sitzhaltung im Stil persischer Miniaturmalerei abgebildet ist: die weitverbreitete ikonografische Darstellung des Celaleddin Rumi. Als ich in einem Restaurant der Provinzstadt Egirdir das Bildnis, den Raum beherrschend, direkt neben dem Eingang sah, fragte ich den Wirt, der gebrochen deutsch sprach, ob er schon in Konya gewesen sei. Ein Plakat von dem prächtigen Mausoleum in Konya, in dem Rumi begraben liegt, zierte eine andere Wand. Der Wirt nickte mit einem breiten Lächeln. Ich wollte wissen, weshalb er dort hin gereist sei. Der Besuch in Konya habe ihm viel Kraft gegeben. Mehr konnte oder wollte er mir nicht sagen. Die gleiche Erfahrung machte ich immer wieder, wenn ich mit Türken aus einfachen Verhältnissen über das Thema Sufismus ein Gespräch zu führen versuchte.

In der Provinzstadt Aksehir, nur wenige Autostunden von der vielbesuchten Pilgerstadt Konya entfernt, hatte ich eine erste Begegnung, die mir etwas mehr Klarheit verschaffte. Ich besuchte dort ein Mausoleum im seldschukischen Stil mit spitzkegeligem Dach aus dem 14. Jahrhundert und wusste, dass dort der Derwisch-Scheich Mahmud Hayrani begraben liegt, der als ein Schüler von Celaleddin Rumi gilt. Aus dem Innern des Gebäudes war ein monotoner Singsang zu hören. Ich blickte in den dämmrigen Raum, wo ein Dutzend Frauen und Männer vor dem steinernen, mit einem grünen Tuch bedeckten Sarkophag saßen. Einer der Männer entdeckte mich und winkte mich herein. Er raunte mir auf Englisch zu, ich dürfe an der Zeremonie teilnehmen und solle mich in derselben Art wie die anderen mit gekreuzten Beinen niedersetzen und die Handflächen zum Gebet nach oben halten. Die Männer nickten mir aufmunternd zu, ohne ihren Gesang zu unterbrechen, die Frauen sahen mich neugierig an. Mein Nachbar flüsterte mir ins Ohr: Ich solle auf den Refrain achten, wenn die Betenden mehrmals die Anrufung Gottes »Allah … Allah … Allah …« wiederholten. Dann sollte ich an den Refrain mit dem Wort »Amen« anschließen, dieses Wort würden ja Christen und Muslime gleichermaßen am Ende eines Gebets benutzen. Er werde mir im passenden Moment mit der Hand ein stilles Zeichen geben.

Wieder einmal war ich verblüfft. Bei meinen Reisen in den islamischen Orient hatte ich bis dahin noch kaum erlebt, dass ich gebeten wurde, aktiv an einer religiösen Zeremonie teilzunehmen. Mein Erlebnis im indischen Pilgerort Ajmer bildete eine seltene Ausnahme. Ich war gewohnt, dass mir türkische, arabische oder iranische Muslime mit höflichen Gesten anzeigten, es sei jetzt Gebetszeit und ich solle die Moschee verlassen, oder dass sie mir wohlwollend zu verstehen gaben, ich könne bleiben und passiv Zeuge ihrer Andacht sein. Aber in eine Zeremonie eingebunden zu werden, als gehöre ich ihrer Religionsgemeinschaft an, war mir noch nie passiert.

Die Frauen und Männer rezitierten in monotonem Gesang Gebete, wobei sie ihre Körper rhythmisch zu wiegen begannen. Und dann folgte der Refrain »Allah … Allah … Allah …«, wobei die Körper stärker in Schwingung gerieten, so als ob sie sich in Trance wiegen wollten. Ich fühlte mich bei diesem Anblick an Zeremonien von Sufis und Derwischen erinnert, wie ich sie aus Dokumentarfilmen bereits kannte. In der Faszination übersah ich das Handzeichen meines Nachbarn und so blieb beim ersten Mal mein erwartetes »Amen« aus. Ich fing seinen bedauernden Blick auf. »Allah … Allah … Allah …«, »Amen … Amen …« Meine Stimme wurde bei jedem Refrain sicherer, fester, klingender. Die Zeremonie endete etwa nach einer halben Stunde. Anschließend fragte ich, was für Gebete hier am Sarkophag des Derwisch-Scheichs gesprochen werden. Es seien Gebete für Gesundheit, langes Leben und Kindersegen. Weshalb aber sei ich aufgefordert worden, aktiv an der Zeremonie teilzunehmen? Ich sei doch kein Muslim, wollte ich weiter wissen. Muslime und Christen hätten denselben Gott, antwortete. Aber sie hätten nicht dieselbe Religion, betonte ich, Muslime könnten doch auch nicht aktiv an einer christlichen Zeremonie teilnehmen. Darüber könne er nichts sagen. Er könne nur sagen, dass die Zeremonie hier immer gleich praktiziert werde und Andersgläubige stets willkommen seien.

Hatte ich es mit Sufis und Derwischen zu tun? Oder doch eher mit Gläubigen, die voller Hingabe unreflektiert einer Tradition folgen? Die Männer waren alle westlich gekleidet, trugen aber die Schirmmütze als typisches Kennzeichen der kleinstädtischen oder bäuerlichen Bevölkerung Anatoliens. Die Frauen trugen ausnahmslos Kopftücher, etliche auch Pluderhosen.

Eine vorläufige Antwort auf offene Fragen bekam ich einige Tage später in Ankara. In einem Straßencafé sprach mich ein Türke am Nachbartisch auf Deutsch an, nachdem er gesehen hatte, dass ich in einem deutschsprachigen Buch las. Er habe etliche Jahre in Frankfurt als Ingenieur gearbeitet, jetzt sei er in Ankara tätig, pendle aber ständig zwischen der Türkei und Deutschland. Bei meiner Auskunft, ich wolle auf meiner Reise auch Konya besuchen, horchte er auf und lenkte zu meiner Überraschung das Gespräch auf Rumi. Er beschäftige sich viel mit Rumi wie überhaupt mit dem Sufismus. Rumis Gedankenwelt sei so reichhaltig und vielschichtig wie sonst bei kaum einem Sufi.

Ich erzählte ihm von dem Ritual, welches ich im Mausoleum von Aksehir erlebt hatte. Diese Gläubigen, erklärte er, seien eher einfache Leute, denen es schwerfalle, über philosophische Inhalte des Sufismus zu sprechen. Sie würden unreflektiert an den Gräbern von Scheichen um Segen für ihr tägliches Leben beten, was eher eine Art volksreligiöser Tradition sei und mit Sufismus letzten Endes nichts zu tun habe. Trotzdem praktizieren sie Rituale des Sufismus, denn für sie sei es selbstverständlich, Andersgläubige am Ritual gleichberechtigt teilnehmen zu lassen, schließlich gelte der sufische Grundsatz: Das Göttliche wirke in jeder Religion. Nicht das Trennende der unterschiedlichen Dogmen sei entscheidend, sondern das gemeinsame spirituelle Erleben über alle Glaubensgrenzen hinweg, erklärte er mir im weiteren Verlauf des Gesprächs. Dies fasziniere ihn so am Sufismus: Dass die Mystik des Islam keine Angelegenheit nur für eine intellektuelle Bildungsschicht ist, sondern auf einer anderen Ebene auch im Rahmen einer Volksreligion wirken kann. Das ist für ihn der eigentliche Segen am Sufismus – und auch die eigentliche Provokation.

Provokation. Das Wort machte mich neugierig. Ich fragte ihn, warum er gesagt habe, das Göttliche wirke in jeder Religion? Warum sage er nicht Gott? Er lächelte verschmitzt, weil ihm die Absicht meiner Frage klar war. Er habe Schwierigkeiten mit dem Begriff Gott. Mir als einem Deutschen könne er es ja offen sagen, bei einem türkischen Muslim, überhaupt bei einem Muslim, müsse er da vorsichtiger sein. Er habe Schwierigkeiten mit der Vorstellung, dass es Gott als eine Person gebe, die von einem Jenseits aus die Geschicke der Menschen lenke. Eine Zeitlang sei er konsequenter Atheist gewesen. Inzwischen befriedige ihn aber auch der Atheismus nicht mehr, denn ihm erscheine diese Geisteshaltung ebenso als ein geschlossenes System mit absolut starrer Glaubensgewissheit wie die Glaubensbekenntnisse so vieler muslimischer und auch christlicher Dogmatiker. Er könne sich im orthodoxen Islam nicht heimisch fühlen, im orthodoxen Atheismus ebenso wenig – wohl aber im Sufismus. Er merke, dass er das Religiöse brauche, allerdings in einer anderen Form. Zwar gebe es bei Sufis und Derwischen so etwas wie eine Anrufung Gottes, zwar würden auch sie »Allah … Allah … Allah …« rezitieren, aber sie meinten damit etwas anderes als ein orthodox Glaubender. Ihm gehe es um eine Religiosität jenseits aller Glaubensbekenntnisse.

Falsche Erwartungen
Erste Eindrücke im Pilgerzentrum von Konya


Tanzende Derwische mit hohen braunen Filzmützen und wehenden weißen Röcken, die Gesichter meditativ entrückt. Solche Bilder haben sich in unserem westlichen Bewusstsein besonders für die türkische Stadt Konya als dominierendes Wahrzeichen eingeprägt. Denn Konya ist jene Stadt, in der Celaleddin Rumi begraben ist und seine Bruderschaft den Stammsitz hat. Entsprechend groß ist nicht nur für Muslime, sondern ebenso für westliche Besucher die Erwartung, in Konya viel vom Flair einer Derwisch-Pilgerstadt zu erleben. Ernüchternd ist jedoch die Einfahrt in die Stadt. Am Autofenster vorbei gleiten zunächst gesichtslose Viertel mit massigen Betonwohnblöcken. Dort hatten sich noch zwei bis drei Jahrzehnte zuvor Felder in einer baumbestandenen Ebene ausgedehnt. Noch um das Jahr 1960 zählte die Hauptstadt der Provinz Anatolien 120.000 Einwohner, inzwischen ist sie auf über eine halbe Million Menschen angewachsen, überwiegend durch Zuwanderer aus Dörfern der östlichen Türkei.

Je mehr man sich aber dem Zentrum Konyas nähert, desto mehr rücken die architektonischen Juwelen des teilweise noch erhaltenen historischen Stadtkerns ins Blickfeld: verwinkelte Basargassen, Moscheen, Medresen (Koranschulen) mit kunstvoll ornamentierten Fassaden, Portalen, Innenhöfen. Den Höhepunkt bildet die Tekke der Mevleviya, der Konvent jener Bruderschaft, deren geistiger Ahnvater Celaleddin Rumi ist. Dieser Name ist abgeleitet von »Maulana«, einem arabischen wie persischen Wort, türkisch »Mevlana«, es bedeutet »Herr, Meister«, und ist einer...

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