Einleitung
»Unzufriedenheit mit dem Geschick ist ein ungehöriges Kritisieren der Gaben, die einem zuteilgeworden sind. Wenn der Unzufriedene einen Beutel Geld findet, nörgelt er: ›Aber einen richtigen Schatz habe ich noch nie gefunden.‹«
Theophrast (4. Jh. v. Chr.), Charaktere XVII
Wenn mich Journalisten nach dem Stand der deutschen Einheit fragen, ist regelmäßig die erste Frage: »Was ist verkehrt gemacht worden?« und die zweite: »Wann ist die deutsche Einheit vollendet?« Meine erste Antwort auf die zweite Frage: Wenn ihr mit der unsinnigen Fragerei aufhört. Was soll denn das sein: die vollendete Einheit oder die viel gesuchte »inneren Einheit«? Ost und West ein Herz und eine Seele? Nord und Süd sind doch in Deutschland auch nicht ein Herz und eine Seele, SPD und CDU auch nicht. Dieses und jenes Kunstwerk kann vollendet werden, auch ein Bauwerk oder ein Tagewerk, aber doch nicht menschliche Beziehungen, auch nicht kollektive. Denn nur Beendetes kann vollendet sein. Zur ersten Frage könnte auch ich einiges nennen, aber meine Liste ist nicht sehr lang.
Warum wird die deutsche Einheit mit Vorliebe unter »Pleiten, Pech und Pannen« abgehandelt? Sicher spielt dabei eine Rolle, dass gute Nachrichten den Adrenalinspiegel nicht anheben. Nur was aufregt, steigert die Auflagen und die Einschaltquoten. Aber dadurch lassen sich die Leser und Zuschauer nicht unbedingt einreden, dass es ihnen auch persönlich schlecht geht. So belegen denn auch Umfragen regelmäßig eine seltsame Diskrepanz: Befragt, wie sie ihre persönliche Lage seit der deutschen Einheit beurteilen, antworten die meisten Ostdeutschen: »gut« oder »kann nicht klagen«; befragt nach der Lage in Ostdeutschland allgemein, antworten die meisten: »schlecht«. Über ihre eigene Lage werden sie sich ja wohl kaum täuschen. Die Mehrheit ist zufrieden, jeder hält sich aber für eine Ausnahme. Diese Diskrepanz ist keineswegs harmlos. Denn Stimmungen haben Einfluss auf die Spielräume der Politik – nicht nur bei Wahlen –, und sie haben vor allem Einfluss auf die Glaubwürdigkeit der Politiker. Wenn die Lage im Ganzen schlecht ist und meine günstigere Lage nur eine Ausnahme, sind die Politiker offenbar Versager. Ich sehe den Grund für den schlechten Ruf der deutschen Einheit in einer Reihe von Irrtümern über die deutsche Einheit. Um die geht es in diesem Buch.
Von den Behauptungen, die dieses Buch als Irrtümer über die deutsche Einheit behandelt, wird jeder Leser einige für so abwegig halten, dass er eine Entgegnung für überflüssig hält – bloß leider nicht jeder dieselben.
»Politisch wurde bei der Wiedervereinigung alles richtig, wirtschaftlich alles falsch gemacht«, hat Lothar Späth gesagt. Dieser eingängige Spruch wird gern beifällig zitiert, man ist sich einig. Aber wehe, wenn einer nachfragt, was genau falsch gemacht worden ist und was stattdessen das Richtige gewesen wäre. Dann ist nämlich Schluss mit einig.
»Der Umtauschkurs war ein großzügiges Geschenk an die Ostdeutschen.« – »Unsere Sparguthaben wurden gekürzt, obwohl wir weniger auf der hohen Kante hatten als die Westdeutschen.« – »Löhne und Renten sind im Osten zu hoch, deshalb bleibt der selbsttragende Aufschwung aus.« – »Es ist ein Skandal, dass sie nach sechzehn Jahren immer noch niedriger sind als im Westen.«
Ist der Streit erst einmal entbrannt, macht er vor dem Politischen nicht halt. »Politisch alles richtig? Der Osten wurde durch den erzwungenen Elitenwechsel intellektuell enthauptet.« »Ach was, den alten Kadern geht es heute besser als den Oppositionellen.« Und so weiter.
In meiner Liste von Irrtümern über die deutsche Einheit wird aber jeder Leser auch diejenigen Punkte finden, bei denen er protestiert: Das ist kein Irrtum, sondern die Wahrheit; so war es, so ist es tatsächlich!
Der Irrtum und die Lüge sind Parasiten der Wahrheit. Sie wirken nur, wenn sie den Schein der Wahrheit erwecken. Jeder Irrtum sitzt auf einer Teilwahrheit auf und enthält ein Körnchen Wahrheit. Aber halbe Wahrheiten sind eben ganze Lügen, wie man sagt, und vom Irrtum gilt das auch.
Ich behaupte keineswegs, dass im Zuge der deutschen Einheit alles richtig gemacht worden sei. Alles richtig, das kann es bei Prozessen dieses Ausmaßes nie geben. Meine Fehlerliste ist allerdings nicht sehr lang. Die Grundentscheidungen halte ich nach wie vor – nun sage ich nicht: für richtig, sondern: für alternativlos, unter den damaligen Umständen. Ich erinnere an vier Trivialitäten menschlichen Handelns:
1. Wir müssen zumeist mit begrenztem Wissen entscheiden, also mit einer gehörigen Portion Nichtwissen. Die sicherste Diagnose stellt der Pathologe, aber leider immer zu spät. Hinterher ist man schlauer. Hinterher vergisst man aber auch schnell, welche Befürchtungen seinerzeit die Entscheidung beeinflusst haben, vor allem dann, wenn sie nicht eingetreten sind. Uns hat 1990 sehr intensiv die Frage beschäftigt, was denn passieren soll, wenn Gorbatschow gestürzt wird. Das veranlasste zur Eile in Sachen deutsche Einheit. Diejenigen, die damals heftig für die langsamere Gangart votierten, verstummten, als Gorbatschow 1991 tatsächlich gestürzt wurde. Heute ist dieser Gesichtspunkt bei den Kritikern des Einigungsprozesses völlig vergessen. Wir hatten damals auch die Sorge, die DDR könnte ohne die Orientierung an einer schnellen Einigung im Chaos versinken. Wer die Befürchtung für unbegründet hält, muss doch zur Kenntnis nehmen, dass sie damals bestand. Sie war auch nicht unbegründet. Nach der Herbstrevolution und der Maueröffnung war die DDR ein Staat in Auflösung, denn das einzige Reformkonzept, das im Osten breite Zustimmung fand, hieß: deutsche Einheit. Die DDR war ein Staat ohne Nation, eine Gesellschaft in der es kein eigenständiges Zusammengehörigkeitsgefühl der Einwohner gab, weder ein nationales noch ein bürgerschaftliches. Auch für einen »Verfassungspatriotismus« gab es keine Grundlage. Im August 1989 hatte Otto Reinhold von der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED erklärt: Ohne den Systemgegensatz hätte die DDR keine Existenzberechtigung. Er wollte sagen: Also muss die DDR sozialistisch bleiben. Aus derselben Voraussetzung zogen die Leipziger Montagsdemonstranten nur die andere Konsequenz: »Wir sind ein Volk.« Das unterschied die DDR von den anderen ehemals sozialistischen Nachbarstaaten. Ungarische Kommunisten waren zuerst Ungarn, dann Kommunisten. In der DDR aber musste das Wort »sozialistisch« das Wort »deutsch« übertönen. Wenn die Lautsprecher abgeschaltet wurden, die uns den Sozialismus predigten, war prompt zu hören: »Deutschland einig Vaterland« (aus der DDR-Hymne, die deshalb seit Honecker nur noch als Melodie ohne Text abgespielt wurde) oder eben: »Wir sind ein Volk«.
2. Den größten Handlungserfolg erzielen wir in Standardsituationen. Wir handeln dann, wie wir in solchen Situationen zu handeln pflegen, aus Erfahrung. Die fehlt uns aber, wenn etwas wirklich Neues, Unerhörtes geschieht. Dies gilt nicht nur für die unerfreulichen oder gar schrecklichen Überraschungen, sondern auch für die erfreulichen. Die Herbstrevolution und die Maueröffnung waren solche unerhörten Begebenheiten, der Zusammenbruch des Sowjetimperiums und der Weg zur deutschen Einheit auch. Da konnte niemand sagen: Tun wir doch das, was wir in solchen Situationen zu tun pflegen. Da musste unter erhöhtem Risiko entschieden werden, auch seitens der Bundesregierung. Das Ausmaß der Unsicherheiten und Unwägbarkeiten nach 1989 ist im Westen zunächst nur von denen erlebt worden, die sich im Osten engagiert haben. Denn die westlichen Lebensverhältnisse waren gar nicht tangiert. Ganz anders im Osten. Hier hat sich jeder in einem Maße umstellen müssen, als wäre er in ein anderes Land gezogen. Fast alle haben den Arbeitsplatz gewechselt, mit Phasen der bis dahin unbekannten Arbeitslosigkeit. Umlernen aber mussten alle, am Arbeitsplatz, in der Politik, in der Verwaltung, im privaten Bereich.
3. Nach jeder Entscheidung kann man davon träumen, wie viel besser alles geworden wäre, wenn man anders entschieden hätte. Solche Träume haben aber einen Haken. Die Folgen unserer tatsächlichen Entscheidungen haben sich eingestellt. Sie stehen hart im Raum. Die Folgen der anderen möglichen Entscheidungen können wir nur ahnen oder konstruieren. Im weichen Element des Möglichen ist viel Raum für das Wunschdenken (bis hin zum Wunderglauben), und dies umso mehr, je weniger genau wir uns an die Umstände von damals erinnern.
4. Wenn es um konkrete Entscheidungen geht, führt die zweiwertige Logik – »richtig oder falsch?« – oft in die Irre. Meistens ist eine gute Entscheidung die für das kleinere Übel. Wer aus guten Gründen A sagt, muss auch dann B sagen, wenn ihm B für sich genommen gar nicht gefällt. Wer behauptet, es habe die eine richtige Entscheidung gegeben, durch die uns die Probleme, die wir bis heute haben, vollständig erspart worden wären, der ist schon dem Wunderglauben verfallen. Die Irrtümer, die ich mir vornehme, werde ich deshalb gar nicht immer widerlegen (»das Gegenteil ist richtig«), aber doch zurechtrücken.
Wenn es um Krankheit und Gesundheit geht, wissen wir sehr wohl, dass wir manchmal erhebliche Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen müssen, um wieder gesund zu werden. In Sachen Politik aber herrscht in Ost und West eine Vollkasko-Mentalität. Im Westen war man bisher gewöhnt, die meisten Probleme durch Zuwachsraten zu lösen. Im Osten war der Staat für alles zuständig. Beides gilt im vereinigten Deutschland so nicht mehr. Das verwirrt.
In Sachen deutsche Einheit ist der Wunderglaube an die Alternativen weit verbreitet. Warum? Weil die deutsche...